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HILDBURGHAUSEN Vor der Jahrhundertwende

Else Wienbeck

ERINNERUNGEN

Mein Vater, Karl Pusch, Oberlehrer (den Titel Studienrat gab es damals noch nicht) am Gymnasium Georgianum in Hildburghausen für die Fächer Französisch und Englisch und meine Mutter, Minna Knopf, Tochter des Sanitätsrates Dr. med. Hermann Knopf in Hildburghausen, heirateten am 22. Oktober 1885.

Das junge Paar bezog in der Knappengasse eine Wohnung, dem Eingang der Aktienbrauerei gegenüber, neben dem Tor, das zu den Eiskellern der Brauerei führte. Die Wohnung soll groß und schön gewesen sein.


Die Knappengasse in Hildburghausen

Aber nur ein dreiviertel Jahr wohnte das junge Paar dort. Dann starb der Großvater, Sanitätsrat Dr. Knopf. Meine Eltern zogen in das Haus des verstorbenen Vaters in der Schleusinger Straße 1, die damalige Neustadt Nr. 314.

Ehe meine Eltern dort einzogen, wurden erst verschiedene bauliche Veränderungen vorgenommen. Die Witwe meines Großvaters, Emmi Knopf, geborene Braungart, blieb mit meinen Eltern im Haus wohnen. Gemeinschaftlich bewohnten wir das erste Stockwerk, das Mansardengeschoss und den südlichen Seitenflügel zur heutigen Unteren Allee hin.



Pusch`sches Haus

Meine Eltern waren kaum eingezogen, da wurde ich am 3. September 1886 geboren. Meine Kindheit hat sich also noch ganz und gar im 19. Jahrhundert abgespielt, in der Kaiserzeit.

In den 72 Jahren meines Lebens habe ich dann sehr viele Wandlungen durchgemacht. Den Weltkrieg von 1914 bis 1918 habe ich miterlebt und bin so schwer mitgenommen worden. Den Mann und den einzigen Bruder habe ich verloren. Meine beiden vaterlosen Jungen Joachim und Ulrich habe ich in der Weimarer Zeit großziehen müssen. Das war schwer, denn es war eine Zeit voller Unruhen. Dann kam das nationalsozialistische Regiment, das uns von der Last des Versailler Vertrages befreite. Aber auch hier war alles voller Unruhe. Die Wolken ballten sich schon zusammen, die den Zweiten Weltkrieg brachten. Welch schwere Zeit von 1939 bis 1945!

Meinen Sohn Joachim, Dr. med. habil. an der Universität Breslau, verlor ich am 25. Juli 1944 durch einen Bombenangriff auf Villach. Joachim war auf der Durchreise von einem Kriegsschauplatz zum anderen. Meine Schwiegertochter Gertrud blieb mit drei kleinen Jungen zurück. Mein Sohn Ulrich kam 1947 zu Weihnachten aus der Kriegsgefangenschaft zurück.

Der Krieg endete mit der Zerschlagung Deutschlands, und noch heute leiden wir schwer unter der Zweiteilung unseres Vaterlandes. Die Zeit meiner Jugend, die Kaiserzeit oder die „Wilhelminische“, wie sie nach dem letzten Kaiser, Wilhelm II., kurz genannt wird, liegt jetzt so weit zurück, dass sich nur noch die „Alten“ darauf besinnen können, und ihr Bild ist „durch der Parteien Gunst oder Hass schwankend“ so dass die Jugend kein wahres Bild davon gewinnen kann. Das „wahre Bild“ wird vielleicht auch erst nach Jahrhunderten ein Dichter entwickeln können. Ich kann hier nur erzählen, wie diese Zeit unter dem bescheidenen Gesichtswinkel eines Kleinstadtkindes aussah.

Meine Lebenszeit ist erfüllt von dem brausenden Aufstieg der Technik. In meiner Kinderzeit sah ich mit Staunen das erste Hochrad, dann das Fahrrad, Motorfahrzeuge und Flugzeuge. Wir sind nun so weit, dass die Geschosse bis in die Stratosphäre vorstoßen! In diesem verwirrenden Vorwärtsdrängen der heutigen Zeit, kann man es mir alten Frau nicht übel nehmen, wenn ich gerne eine ruhige Stunde benutze, um einmal die Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit vor mir auftauchen zu sehen. Wenn auch meine bewussten Kindheitserinnerungen aus der Wilhelminischen Zeit stammen, so habe ich im Unterbewusstsein noch die Zeit von Kaiser Wilhelm I. und Kaiser Friedrich miterlebt. Am 9. März 1888 starb Kaiser Wilhelm I., der Errichter des deutschen Kaiserreiches. Ihm folgte sein Sohn Friedrich, dem nur eine Regierungszeit von 100 Tagen beschieden war; er starb am 15. Juni 1888 an Kehlkopfkrebs.

Ein kleines Kindergeschichtchen wird von mir aus dieser Zeit erzählt. Ich bin noch nicht ganz zwei Jahre alt, meine Mutter nimmt mich mit auf die Reise. Wir besuchen in Oberhof die Kusine meiner Mutter Ada Bornmüller. Sie ist eine Enkelin von Joseph Meyer, dem Gründer des Bibliographischen Instituts. Sie weilt dort zur Kur. Auf der Bahnfahrt ergreife ich eine herumliegende Zeitung und lese zum Erstaunen der Mitreisenden laut vor: „Taiser Friedrich Weh-weh Hals.“ Aber die Hoffnungen, die man vielleicht an dieses frühreife Interesse für die Dinge des Weltgeschehens knüpfen konnte, haben sich nicht erfüllt. Ich bin weder ein eifriger Zeitungsleser geworden, noch habe ich für die hohe Politik Verständnis aufgebracht. Mein ganzes Interesse galt stets den sozialen Aufgaben meiner nächsten Umgebung.

Noch eine Geschichte will ich erzählen, obgleich ich mich nicht selbst daran erinnern kann: Der Direktor des Gymnasiums Georgianum, an dem mein Vater unterrichtete, war der alte, ehrwürdige und kluge Hofrat Rittweger, gebürtig aus Häselrieth. Er bewohnte mit seiner Frau und der ältlichen Tochter Betty, die dann später mit süßlichen, kleinen Sonntagsblattgeschichten sich als Heimatschriftstellerin auftat, den östlichen Teil des ersten Stockwerkes vom Gymnasium als Dienstwohnung. Am Geburtstag des alten Herrn ging das ganze Kollegium gegen 11 Uhr zur Gratulation in die Wohnung hinauf und wurde dort mit einem Glas Wein und ein paar Frühstücksbrötchen bewirtet. Sicherlich hat Vater davon am Familientisch erzählt, und es muss mir einen großen Eindruck gemacht haben, denn eines Vormittags machte ich mich auf den Weg.


Gymnasium

Zweieinhalb Jahre alt muss ich wohl gewesen sein, ging erst in den Garten vom Bauhof (heute: Standort der Regelschule Joliot-Curie in der Geschwister-Scholl-Straße), pflückte von den Beeten einen Lilienstrauß, marschierte damit zu Rittwegers und erklärte dort, ich wolle Herrn Hofrat zum Geburtstag gratulieren. Man behielt mich natürlich dort und schickte nur einen Boten zu meiner Mutter, damit man nicht plötzlich vergeblich nach mir suchte. Dieses kleine Unternehmen zeigt wohl, dass ich schon damals, wie auch heute noch, einen ganz gute Ortssinn hatte. Im Übrigen war es aber kein gefährliches Unternehmen, denn was sollte schon damals einem kleinen Kind auf der Straße passieren? Es gab keine Lkw oder Pkw, es gab keine Motorräder, ja nicht einmal Fahrräder. Die Kuhgespanne beherrschten das Straßenbild, und die fuhren kein Kind tot. Es gab allerdings auch zwei oder drei Fuhrhalter, die im Besitz von Pferden und sogar von „Landauern“ waren. Mit den Landauern wurden die Hochzeitsfuhren gemacht und sie fuhren auch hinter jedem „besseren“ Leichenzug her, denn damals gab es noch keine Leichenhalle auf dem Friedhof, sondern die Leichen blieben im Hause und der Trauerzug vom Hause aus bis zum Friedhof. Wer den weiten Weg dann scheute, der konnte den Landauer benutzen. Ein sehr eifriger Fuhrwerksunternehmer war ein gewisser Frauenberger. Er bot seinen Wagen in der Zeitung an mit dem Bemerken, dass er immer bereit sei „für Tag- und Nachtgeschirr“.

Ehe ich nun ein wenig von dem Kleinstadtidyll, dem Hildburghausen von 1886 bis etwa 1898, denn um die Jahrhundertwende ging es dann mit schnelleren Schritten vorwärts, erzähle, muss ich erst der unzertrennlichen Kinderfreundschaften von mir und meinem Bruder Hermann gedenken. Da waren in erster Linie das Schülers Klärle und die Grete zu nennen. Es waren die Töchter von Oberlandmesser Schüler. Sie wohnten im unteren Stockwerk vom Strathausenshaus, uns und dem Kriegerdenkmal schräg gegenüber.


Links Pusch`sches Haus


Die Freundschaft mit dem Klärle, später Frau Kantor Hilpert, hat sich bis heute unvermindert erhalten. Ihre Schwester Grete ist leider schon vor Jahren gestorben als Witwe des Lehrers Fritz. Entweder war ich bei Schülers, später während der Schulzeit jeden Morgen zum Abholen, denn ich war immer etwas zeitiger dran als das Klärle. Meistens war aber das Klärle bei uns, denn wir hatten in dem weiträumigen Haus und dem großen Garten viel mehr Auslauf als Schülers. Der andere unzertrennliche Kindheitsfreund war der „Schumachers Paul“. Sein richtiger Name war Paul Flemming, und er wohnte unserem Georgstraßentor gegenüber. Der Vater war Flickschuster, darum ist mir das Flickschustermilieu recht vertraut. Es stand da die kleine Holzwanne, in der das Leder weichte, ich sah ihn das Leder klopfen, auf den Knien wurde der zu bearbeitende Schuh mit dem Schusterriemen festgehalten, und wenn es dämmrig wurde, dann wurde die kleine Petroleumlampe die mit Wasser gefüllte „Schusterkugel“ gehängt, so dass er nun im Brennglaslicht seine Holznägel einschlagen konnte. Frau Flemming war eine blitzsaubere Frau, die nachmittags in die „Püpplesfabrik“ ging. Paul war bei allen unseren Spielen dabei, sei es, dass wir am Sandhaufen kunstvolle Höhlen bauten, sei es, dass wir im Garten Fangen und Verstecken spielten, oder dass wir unserem Lieblingsstachelbeerstock (es war ein „Zaunknäckerle““ mit haarigen, aber zuckersüßen Früchten) ein Ständchen sangen oder bliesen. Zu jener Zeit war es nämlich, Gott sei Dank, noch nicht Mode, alles einzumachen, und das seuchenhafte „Einwecken“ war noch nicht erfunden.

Im Garten gab es nur auf dem oberen Rasenstück ein rundes Beet mit hochstämmigen Rosen, auf dem zweiten Rasenstück ein Beet mit Monatsrosen, im letzten Drittel war das „Wasserloch“. Aber davon werde ich noch erzählen, wenn ich das Haus näher beschreibe. Im Übrigen waren es nur Rasenflächen, Gebüsch und ein paar Obstbäume, unter denen der alte Ananas am Garteneingang und das „Seidenhemdchen“ besonders beliebt waren. Oberhalb der Hütte und unter der Hütte und rings um die Rasenflächen herum waren Beerensträucher, von denen wir nach Herzenslust essen konnten. Wir bekamen nur manchmal gezankt, weil wir sie zu unreif abaßen. Unser „Schuhmachers Paul“ ging nach der Schulentlassung als Lehrling in die „Dorfzeitung“. Er ist ganz jung an einer eitrigen Mandelentzündung gestorben.

Wenn ich vorhin sagte, dass nur Kuhgespanne das Straßenbild beherrschten, so stimmt das doch nicht ganz. Nein, es geschahen auch andere Dinge, aber sie waren sozusagen nur uns zur Freude da, und da wäre an erster Stelle das Militär zu nennen. Wenn im Winter die Rekruten einzeln hinten auf dem kleinen Exerzierplatz zwischen der Kaserne und der Sachsenburg gedrillt wurden, wenn sie „Langsamschritt“ üben mussten, wenn sie am Reck Klimmzüge machten oder über die Eskaladierwand klettern mussten, da interessierte ich mich nicht sehr dafür.



Exerzierplatz mit Eskaladierwand "An der Stadtmauer" zwischen Kaserne und Sachsenburg.

Mein Bruder stand aber ausdauernd dabei, und er und seine Freunde ahmten dann alles im Spiel nach. Mehr nach meinem Geschmack war es aber, wenn die „Spielleute“, also die Trommler, Pfeifer und Signalhörner in dem Wäldchen übten, wo jetzt der Römersbach, den es damals noch nicht gab, in den Wald einmündet, denn dann wusste man: Es geht auf den Frühling zu! Ein anderes sicheres Zeichen dafür war es, wenn man von der Mutter öfters ein rohes Ei spendiert bekam, damit man es mit Zucker aufschlagen konnte und dann mit Semmelstückchen auslöffelte, denn um diese Jahreszeit kostete das Ei 5 Pfennige, und an manchem Sonnabend gab die Butterfrau sogar 2 Stück für 9 Pfennige. Ja, wenn es Frühling war, dann war es beim Militär aus mit dem Einzelüben und dem Üben in kleineren Verbänden, jetzt ging es zum Kompanie-Exerzieren auf dem Exerzierplatz am Waldrand, links von der Schleusinger Straße. Mittags wurde mit Musik eingerückt. Da war die Truppe, wenn sie sich auch eben noch tüchtig abgehetzt hatte, auf einmal wieder wie aus einem Guss, wenn die Spielleute mit hartem Trommelschlag und gellenden Querpfeifen ihre Weisen spielten, wenn dann die Spielleute das sogenannte „Locken“ spielten, wenn dann der Tambourmajor, der blonde Spindler war es viele Jahre, seinen mit Troddeln behangenen Tambourstab in die Luft reckte, und nach kunstvollen und taktmäßigen Wirbeln wieder in die Seite stemmte. Dann setzte die Musik ein! Das ging durch Mark und Knochen! Dann setzten wir Kinder uns vor die Spielleute, führten den Zug an und hüpften vorneweg bis hinter zur Kaserne auf dem Schlossplatz, Jetzt galt es schnell, sich einen Platz zu erobern auf den Steinstufen, die zum Katasteramt führten, damit man von erhöhter Stelle den Vorbeimarsch der Truppen mit ansehen konnte, ehe es hieß: Weggetreten!



Schloß-Platz

Anschließend an das Kompanie-Exerzieren kam das Bataillons-Exerzieren auf dem Friedenthaler Platz auf der Höhe des Hahnritz oberhalb von Friedenthal von der Zeilfelder Straße bis zur Bedheimer Flur. Zu der Zeit stellten wir uns dann an der Loreley an, später „Sächsischer Hof“, auf der linken Seite zur Einfahrt zu Bahnhofstraße.


"Sächsischer Hof", Ecke Bahnhoftraße.


  Hotel "Sächsischer Hof"

Wir marschierten von da aus vor der Truppe her bis zur Kaserne. Sie war früher das Schloss der Herzöge von Hildburghausen gewesen. Bei der Beschießung von Hildburghausen am 7. April 1945 wurde die Kaserne in Brand geschossen und brannte aus. Dummerweise hat man sie dann mit großen Kosten eingerissen, anstatt sie zu einem Kulturzentrum auszubauen. Jetzt stehen dort Baracken (heute: Schlosspark-Center). Der Volkswitz sagt: „Nur der Stil hat sich geändert, früher war es barock, jetzt ist es barack.

 



Kaserne

Zum Regimentsexerzieren vor den großen Herbstmanövern gingen unsere Soldaten auf den großen Übungsplatz Mirsdorf bei Coburg. Dort vereinigten sich dann die drei Bataillone. Bei uns stand nur das zweite Bataillon des 95. Infanterie-Regiments. Die beiden anderen Bataillone waren in Coburg und Gotha stationiert.

Ostansicht Kaserne


Stadtmauer und  Kaserne


Kaserne Südansicht



Weg von der Kaserne zum Exerzierplatz.

Von den Dingen, die uns die Straße an Vergnügungen bot, kommt mir gerade noch etwas anderes in den Sinn. Schon von weitem hörte man manchmal den dumpfen Schlag und das leichte Klirren eines Tamburins. Dann wusste man: Ein Tanzbär kommt! Schnell holte man von der Mutter noch einen „Fünfer“, damit man die Herrlichkeit auch gebührend bezahlen konnte. Und dann stand man staunend und auch etwas ängstlich dabei. Der Bärenführer hatte eine Kette umschlungen, an die der Bär mit seinem Nasenring befestigt war. Der Bärenführer brachte den Bären mit einem drohenden Schrei und eifrigen Klopfen des Tamburins zum Aufstehen und ließ ihn tanzen. Straßenweit zogen wir mit, um das aufregende Schauspiel immer wieder zu sehen.

Manchmal wurde aber nicht nur ein einziger Tanzbär gezeigt, sondern es kam eine ganze Gruppe von Zigeunern. Sie führten dann auch kleine Äffchen mit, manchmal sogar ein Kamel! Wenn dann die kleinen Äffchen, die in rote Husarenuniformen gesteckt waren, mit dem Säbel oder dem Gewehr ihre Kunststückchen machten oder auf Geheiß eine kleine Kaffeemühle drehten, dann kannte unser Entzücken keine Grenzen. Auch Straßenmusikanten gab es von Zeit zu Zeit. Aber da war man doch nicht so elektrisiert. Da guckte man nur aus dem Fenster heraus, und wenn dann der Musikant mit dem Hut seinen Obolus an allen Fenstern einsammeln ging, dann warf man seine in Papier gewickelten Pfennige vom Fenster aus herunter.

Noch andere Figuren des Straßenlebens sollen nicht unerwähnt bleiben, obwohl sie nicht zu unserer Belustigung dienten. Das waren die Handwerksburschen. Diesen Namen führten sie aber ganz zu Unrecht, denn mit den jungen Handwerksgesellen, die früher, wenn sie ausgelernt hatten, auf Wanderschaft gingen, um die Welt kennen zu lernen und für ihr Handwerk dazu zu lernen, mit denen hatten sie nichts gemein. Es waren gescheiterte Existenzen und unter ihnen wahrscheinlich viele Psychopathen. Eines aber war ihnen gemeinsam: Sie waren alle dem Schnaps verfallen! Unsere Gegend hatte noch einen besonderen Reiz für sie, denn, wie man sich immer erzählte, gab es in dem einsamen Dörfchen Hetschbach, hinter der Heßberger Leite gelegen, ein geheimnisvolles Buch, in dem alles Wissenswerte für diese Bettlerzunft stand, so zum Beispiel, welche Route beim Betteln guten Erfolg versprach, wo ein bissiger Hund war und so weiter. Dieses Buch hatte der Wirt in Verwahrung und ließ es gegen Geld einsehen. Viele von diesen Bettlern hatten ihre bestimmten Wanderwege, so dass oft dieselben Gesichter an der Flurtüre wieder erschienen. Im Allgemeinen wurden sie mit 2 Pfennigen abgespeist, bat aber einer um ein paar Strümpfe oder Schuhe, so konnte meine Mutter auch diesen Wunsch erfüllen. Sie hatte dafür immer etwas bereit.

Ja, wo ist denn nun dieses Bettlerheer hingekommen? Ihnen wurde mit der Einführung der Lebensmittelkarte im Ersten Weltkrieg die Existenzmöglichkeit entzogen. Mancher von ihnen wird vielleicht in dem Augenblick, als überall Arbeitskräfte fehlten, den Weg zur Sesshaftigkeit und zu geregelter Arbeit gefunden haben. Aber die meisten werden wohl entkräftet, wie sie durch den Schnapsgenuss schon waren, ein frühzeitiges Ende gefunden haben.

Zu dem Fluidum unserer Kinderjahre gehört auch die Gehringsbrauerei, unser nächster Nachbar auf der Alleeseite. Damals war der Raum, den jetzt die Garagen und der Ökonomiehof einnehmen, mit riesigen Eiskellern unter- und überbaut. Die Landwirtschaft, die jetzt Hans Gehring hier betreibt, wurde damals von seinem Großvater, der den Spitznamen „Eskimo“ führte, in seinem Haus in der Unteren Marktstraße betrieben. In diesem Haus war auch die sehr gern besuchte Bierwirtschaft (zu DDR-Zeiten HO-Laden für Haushaltswaren).



Links Hotel "Eskimo
"

Dorthin ging mein Vater fast jeden Abend zwischen 6 und 7 Uhr, um seinen Abendschoppen am „Bügeleisenstammtisch“ zu trinken.



Stammtisch im "Eskimo"

Der Bügeleisentisch hatte seinen Namen daher, weil einmal die Frau des Hauses das Bügeleisen hatte stehen lassen, so dass es eine schwarz eingebrannte Stelle gegeben hatte. Wurde nun am Sonnabend die weiße Ahornplatte frisch gescheuert, wurde hinterher jedes Mal mit dem Bügeleisen wieder eine Sengstelle eingebrannt. So wollte es die Tradition.



Bügeleisen-Stammtisch im "Eskimo"

Wir Kinder erlebten das Braugewerbe auch so am Rande mit. Wir sahen und rochen es, wenn die Gerste gedarrt wurde und der süßliche Malzgeruch oben zum Dach hinaus zog. Wir rochen auch, und das war nun weniger angenehm, den Gestank der Biertreber (Der verlorene Sohn der Bibel hat mir darum immer sehr leid getan, weil er so stinkende Treber essen musste), die als Schweinefutter abgefahren wurden. Im Winter wurde dann bei Eis und Schnee der Feuerteich abgeeist. Tag für Tag gingen die Schlitten mit Eis zur Brauerei, bis die Eiskeller bis obenhin voll waren. Aber am Interessantesten war es, wenn es hieß: Der Gehring teert seine Fässer. Dann lagen die übermannshohen Fässer im Hof, und auf offenen Feuern wurde in eisernen Pfannen Pech kochend gemacht. War nun in eines der Fässer zischendes, brennendes Pech hineingefüllt, dann rollten die Brauknechte das Fass auf die Allee. In rhythmischen Schaukelbewegungen wurde es die Allee hinauf gerollt und wieder herunter. Wenn es ein ganz großes Fach war, dann ging es auch über die Straße hinweg (wen sollten sie dabei stören?) bis zur Höhe der heutigen Oberen Allee, und von da ging es dann wieder in großen Schaukelbewegungen zurück, und das nächste Fass kam dran. Tempi Passati! 

Die kleinen Brauereien sind alle verschwunden. In meiner Kinderzeit gab es deren drei, außer der Gehringsbrauerei auf der Oberen Allee die Aktienbrauerei und die Sonnefeldsbrauerei in der Weitersrodaer Straße. Gehring hat in der Inflationszeit die ungeheuere Masse der Backsteine von den Eiskellern verkauft. Da er nicht sofort ausgezahlt wurde, sondern erst nach ein paar Tagen, hatte die vereinbarte Summe noch den Wert von fünf Laib Brot. Auf dem freien Platz hinter der Gehringsbrauerei und dem Schreiner Triershaus (zu DDR-Zeiten Fischverarbeitungsstelle) stand der Steigerturm, an dem die Steigerabteilung der Freiwilligen Feuerwehr ihre Übungen im Klettern und in der Handhabung des Sprungtuches machte. Auch dieses nur zu unserer Belustigung, wie wir als Kinder annahmen.

Und nun zu unserem Nachbar „Dorfzeitung“. Da müssen wir aber zunächst gewaltige Abstriche machen, denn in meiner Kinderzeit hatte die „Dorfzeitung“ keineswegs den Grundbesitz, den sie jetzt hat, sondern das Haupthaus war noch Privatbesitz. Das Haus war damals, ohne die gelben Verblendsteine, ein schönes, weißes, renaissanceartiges Gebäude. Es war erbaut vom Weinhändler Robert Scheller, dem auch der tiefe Keller gegenüber (Weigells Keller, heute: Parkplatz rechts der Geschwister-Scholl-Straße) gehörte.




Druckerei "Dorfzeitung"

Der Weinhändler Scheller war vielleicht damals schon tot. Ich weiß nur, dass unten im Haus die Milly Simon, geborene von Stocmeyer, mit ihrem Mann, dem Bernhard Simon (ein Jude) wohnte, der der Besitzer der „Püppelesfabrik“ oben auf der Marienstraße war. Bei der Milly, die selber keine Kinder hatte, war ich öfters zu Kindergesellschaften eingeladen. Da war es sehr schön, denn wir durften in dem herrlichen Garten spielen, der sich in der Ausdehnung des heutigen Maschinenhauses und der Schriftsetzerei (heute: auf Höhe der heutigen Fußgängerampel an der Joliot-Curie-Schule) erstreckte. Er war ringsherum von einer herrlichen Pergola umgeben. Einen Durchgang von der Allee (Untere Allee) zur Georgstraße (Geschwister-Scholl-Straße) gab es damals nicht, sondern an diesen Garten schloss sich gleich der riesige Garten von Fräulein Emma Scheller an, einer Schwester des Weinhändlers Scheller, der auch das sogenannte „Hoheitshaus“ gehörte. Es hieß „Hoheitshaus“, weil nach dem Abzug des Herzoglichen Hauses 1826 nach Altenburg eine Hildburghäuser Prinzessin hier wohnen blieb.
Sie war verheiratet gewesen mit einem Prinzen Paul von Württemberg, von dem sie aber geschieden lebte. Sie war als „Prinzessin Paul“ (auch „Herzogin Paul“) hier sehr beliebt.


Links das "Hoheitshaus" der Herzogin Paul.

Hirschplatz mit dem "Hoheitshaus" der Herzogin Paul.

Mein Urgroßvater war bei ihr Leibarzt. Von ihr stammen die schönen Schmuckstücke, die meine Schwiegertöchter jetzt haben: Das Halsband, die Uhrkette und die Krawattennadel mit Amethyst, die ich noch trage. Das kleine Haus von Lipfert und das Doppelhaus Volland-Falckenberg existierten damals noch nicht. Alles gehörte zum Besitz der Emma Scheller. Das vordere Zimmer mit dem Treppenaufgang von der Straße und dem schönen handgeschmiedeten Geländer hatte eine mit Stoff baldachinartig bespannte Decke. Der schreckliche Kastenbalkon war damals noch nicht vorhanden.

Aber nun zurück zur „Dorfzeitung“. Diese Zeitung, eine Gründung des Konsistorialrats Nonne und Nonne’scher Familienbesitz bis zur Inflationszeit, hatte ursprünglich keine eigene Druckerei, sondern ließ die Zeitung bei Gadow & Sohn in der Schlossgasse drucken.



Druckerei und Verlag Gadow & Sohn in der Schlossgasse.

Die Redaktion der Zeitung, zu der in der ersten Zeit, an die ich mich erinnere, Herr von Ried gehörte, hatte ihre Räume in der Neustädter Apotheke, in den zwei Zimmern zwischen dem Verkaufsraum und der Haustüre. Später waren die Redaktionsräume in dem Häuschen, in dem sich heute die Garagen der „Dorfzeitung“ (später der „Offizin“) befanden. Aus welchem Grund dann die „Dorfzeitung“ eine eigene Druckerei wollte, weiß ich nicht, kurzum, es wurde das Scheller’sche Grundstück erworben und an das Wohnhaus ein Maschinensaal und ein Haus für die Setzer angebaut. Diese Bautätigkeit, als das ganze Haus eingerüstet war und der Neubau entstand, war wieder der ganzen Umgebung Anlass zu einem neuen Spaß.



Druckerei "Dorfzeitung" mit Maschinensaal und angebautem Haus für Setzer.

Es versammelte sich nämlich abends im Dämmern die ganze Jugend vom Häfenmarkt und von der Bechergasse und lauerte, lauerte, lauerte! Bis dann einer voller Aufregung schrie: „Da warsch, dös klä weß Männle.“ Kreischend stob dann die ganze Schar auseinander, um bald aufs Neue sich zu vereinigen und wieder auf das kleine, weiße Männchen zu lauern. Was ursprünglich die Veranlassung zu diesem Spektakel war, weiß niemand, aber es hatte sich eben in den Kinderköpfen festgesetzt, dass auf dem Bau etwas spuke.

Das Kellergebäude, das zum Scheller’schen Haus gehört hatte, war in meiner Kinderzeit schon in den Händen von Kaufmann Weigell am Markt.

Marktplatz

Herr Weigell ließ dort saure Gurken in großen Mengen einlegen. Er bekam im Herbst auch viele Waggonladungen Kraut aus der Magdeburger Gegend, das dort zu Sauerkraut verarbeitet wurde. Die Hauptbetriebszeit war aber der Juli, wenn die Schwarzebeeren, wie hier die Heidelbeeren genannt werden, reifen. Da kamen abends aus den Walddörfern ganze Wagenladungen mit Schwarzebeeren an, die dann Herr Weigell für 10 Pfennige das Liter aufkaufte. Er machte Schwarzebeerwein daraus, der dann nach Bordeaux verkauft wurde, wo er dem französischen Rotwein die schöne, tiefrote Farbe gab. Das Wohnhaus an dem Kellergebäude (inzwischen abgerissen) ist natürlich von Herrn Weigell erst später an das Kellergebäude angebaut worden.

Da ich nun einmal in der Georgstraße (heute: Geschwister-Scholl-Straße) so weit gekommen bin, will ich gleich noch berichten, dass im Anschluss an den Keller in dem anstoßenden Grundstück, etwa in der gleichen Lage, in der jetzt das große Schulgebäude (heute: Regelschule Joliot-Curie) liegt, ein langgestreckter, einstöckiger Bau mit ausgebauten Dachzimmern lag: Der Bauhof. Erst haben Landbaumeister Ortmanns dort gewohnt, danach Herr Geuther, und außerdem war die Blindenschule dort untergebracht. Die blinden Kinder lebten nicht in einem Internat, sondern waren in Familien untergebracht und gingen nur dort zur Schule.


Adolf Geuther

Herr Geuther, der später am Lehrerseminar war und sich für das Musikleben von Hildburghausen große Verdienste erworben hat, war Blindenlehrer. Aus unbekannter Ursache brach dort eines Tages ein Brand aus, der das Gebäude völlig einäscherte. Ich war damals vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Es ist wohl der einzige Brand in meiner ganzen Lebenszeit in Hildburghausen, der zu einer völligen Zerstörung führte. Unsere Freiwillige Feuerwehr muss doch immer gut ausgerüstet und ausgebildet gewesen sein, dass es nicht zu größeren Schadensfeuern kam. Selbst wenn das Feuer in so gefährlichen Ecken, wie zum Beispiel in der Ecke bei Mummes gegenüber im Hofbäckgässchen (Hofbäckers Gässchen) ausbrach, konnte es doch bald gelöscht werden. Über dieses aufregende Brandunglück sollten damals die Kinder in der Schule am anderen Tag einen Aufsatz schreiben. Ein Schüler von Herrn Greiner begann seine Schilderung folgendermaßen: „Abends nach 10 Uhr brach zwischen Herrn Kratsch und Frau Göpfert ein Feuer aus.“

Das Haus, das die Ecke bildet von Georgstraße und Friedrichstraße, stand schon zur Herzogszeit und diente zur Aufbewahrung der Jagdgeräte und der Jagdhunde. Zu meiner Zeit war es Fronfeste (zur DDR-Zeit: Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit), das heißt, es diente als Gefängnis für kurzfristige Strafen oder bis die Häftlinge weitergeleitet werden konnten. Ich glaube, es war in der ruhigen Zeit meiner Kinderjahre wenig frequentiert.

Im Volksmund hieß es „Der grüne Baum“ (nicht zu verwechseln mit der ehemaligen Traditions-Gaststätte „Zum Grünen Baum“ am Nonneplatz, heute Parkplatz). Hierher gehört die Geschichte von unserer Butterfrau aus Linden. Bei der Butterfrau war eingebrochen worden. Große Aufregung! Hauptsächlich Lebensmittel waren gestohlen worden, aber auch sonst noch allerlei. In diesen ruhigen Zeiten ein ganz unerhörter Fall! Unsere Rike war ganz schön außer sich. Da heißt es plötzlich: Sie haben die Lindener Diebe erwischt, sie sitzen schon unten im grünen Baum. Am Sonnabend kommt die Rike und ist ganz glücklich, teilt uns aber gleichzeitig mit, dass wir nicht, wie gewöhnlich, 3 Pfund Butter haben könnten, sondern nur ein Pfund. Sie habe nämlich dem Gefängniswärter Munk ein paar Pfund gebracht: „Eß er sche e wenig zwiebelt!“ Ob diese Bestechung genutzt hat und ob der Gefängniswärter Munk die Delinquenten daraufhin ein wenig gezwiebelt hat, weiß ich nicht.

Zwischen der Fronfeste und der dicken Eiche in der Friedrichstraße stand früher ein winziges, zweigeschossiges, aber ganz verbautes Häuschen. Darinnen wohnten Mathilde und Mile Schneider, die letzten Überbleibsel der großen Familie eines Forstmeisters Schneider. Die Familie war sehr musikalisch, Mathilde hat generationenlang Klavierunterricht gegeben. Auch meine Mutter und mein Onkel haben bei ihr das Klavierspiel erlernt. Die Familie Schneider gehörte zum engen Bekanntenkreis der Familie Knopf, und die beiden Fräulein sind auch bei uns noch viel ein- und ausgegangen. Mile war die Überlebende der beiden Schwestern. Nach ihrem Tode wurde das Haus dann eingelegt. Es ist nur ein Wunder, dass es nicht schon vorher eingefallen war. Die Erinnerungstafel an Paul Schreckenbach, den Autor vieler guter historischer Romane, die jetzt am Schulgebäude hängt, war früher an Schneiders Häuschen, denn Paul Schreckenbach war während seiner Gymnasialzeit bei der Mile in Pension.

Die katholische Kirche, von den Refugiés, den Hugenotten, erbaut und erst später von den Katholiken erworben, führte damals ein sehr verlassenes Dasein. Es gab nur wenige Katholiken, man konnte sie fast an den Fingern der Hand abzählen, und so gab es hier auch keinen ständigen Geistlichen.

Katholische Kirche

Von Zeit zu Zeit kam ein Kaplan von außerhalb. Einst spielte ich mit Änne Rittweger, Enkelin vom alten Gymnasialdirektor, im Gymnasialgarten, der damals bis an die Friedrichstraße heranreichte, da kam gerade das Kaplänchen, um in der Kirche einen Gottesdienst abzuhalten. Änne, die drei Jahre älter und obendrein sehr gerissen war, sagte: „Else, wir setzen uns auf den Gartenzaun, und wenn der Kaplan kommt, dann gucken wir ihm so recht dreist ins Gesicht, der darf nämlich nicht heiraten.“ Ich begriff natürlich nichts davon, setzte mich aber auf den Gartenzaun und guckte den Kaplan an. Ich werde wohl ausgesehen haben wie ein Mondkalb und werde das Kaplänchen bestimmt nicht beunruhigt haben. Erst Jahre danach ist es mir aufgegangen, was Änne damit bezwecken wollte.

Wie sah es nun in unserer nächsten Nachbarschaft aus? Da war uns gegenüber das „Gasthaus Zum Grünen Baum“, im Volksmund nur ‚Das Bämle’ genannt (1977 abgerissen).




Erstes Haus rechts, Gaststätte "Grüner Baum".

Es war früher das Schießhaus der Hildburghäuser Bürger und ist das älteste Haus in der Neustadt. In seinem Schieferbelag an der Westseite ist eine größere Schieferplatte, die die Jahreszahl 1719 trägt. Ich glaube aber nicht, dass dies das Baujahr war, denn man sieht, dass das Haus einmal nach der Südseite hin angestückt wurde, vielleicht wurde dann die ganze Front im Zuge der Refugiés-Bauten, die um diese Zeit aufgeführt wurden, geschiefert? Der Schießstand war hinten im Garten, also im zweiten Wallgraben. Die Schießmauer war da, wo heute die Polizeibaracke endet. Zu meiner Zeit war im Erdgeschoss rechts eine sehr einfache Kneipe, die von Frau Bärwind bewirtschaftet wurde. Natürlich hatte sie, wie das damals üblich war, auch etwas Landwirtschaft dabei. Der Fuhrmann Hartung und der Bratwurstbrater Hartung stammen beide aus der Familie. Links von der Haustür leben die „alten Nottnagels“, die Eltern des 102-jährigen Fritz Nottnagel in der Weitersrodaer Straße 1. Der Alte war auch Zimmermeister und zweiter Bürgermeister. Als Kind war ich glücklich, wenn ich Gelegenheit hatte, zu Nottnagels hinein zu kommen, denn Frau Nottnagel hatte einen Efeustock, den sie in Kränzen und Girlanden um alle Fenster herumgezogen hatte. Ich bewunderte das restlos! Oben im Haus wohnte der alte Langer, der, soviel ich weiß, Musikunterricht gab und immer ein gesticktes Hauskäppchen auf dem Kopf trug. Er hatte mir einmal einen Apfel geschenkt und hieß darum bei meinem Bruder und bei mir „der Apfelmann“. Wie dankbar Kinder oft für eine Kleinigkeit sind und dem Geber wirklich ein „bleibendes“ Denkmal setzen, denn seit ich den Apfel geschenkt bekam, sind nun sicher 68 Jahre vergangen. In der anderen Hälfte des oberen Stockwerks wohnte der Damenschneider Bähr, der Großvater von Frau Meister und dem Buchhändler Max Bähr in Hamburg.

Und nun ein Wort über die Neustädter Apotheke (heute: Ecke D.-Dr.-Moritz-Mitzenheim-Straße – Schleusinger Straße). Das Gebäude ist äußerlich nicht gerade bestechend. Aber es hat den Vorzug, eine noch unbeschädigte, voll eingerichtete Refugié-Apotheke zu besitzen, auf die das Germanische National-Museum in Nürnberg schon sein Augenmerk gerichtet hatte und sie gerne käuflich erworben hätte. All die Kästen und Töpfe und die schönen Türbekleidungen sind noch so, wie sie von dem Apotheker, der als französischer Flüchtling hierher kam, eingerichtet worden waren. Herr Apotheker Tenhaeff, der jetzige Besitzer, hat dieses Wertstück immer mit Liebe und Verständnis gepflegt.


Neustädter Apotheke


Welch lange Reihe an Besitzern ist vor meinen Augen vorbeigezogen! Meine Mutter wusste noch zu erzählen von dem Besitzer Springmühl, der mit sehr hysterischen Töchtern behaftet war. Mit Vergnügen hörten wir, dass die eine Tochter, weil sie sich von dem herbeigerufenen Arzt (ob es mein Großvater war, weiß ich nicht) nicht untersuchen lassen wollte, plötzlich mit einem Ruck-Zuck auf dem Kleiderschrank saß. Dorthin hätte sie natürlich als normaler Mensch gar nicht klettern können. Der Nachfolger von Springmühl war Hofrat von Loesecke.


Hofrat A. von Loesecke

Zu meiner Kinderzeit war er schon nicht mehr Apothekenbesitzer. Er lebte hier im Ruhestand. Wir hatten vielen herzlichen Kontakt miteinander. Herr von Loesecke arbeitete wissenschaftlich, so zum Beispiel über Moose und Pilze, und auch über die Wasserversorgung des Meininger Landes. Die Apothekerfamilie, mit der meine frühesten Kindheitserinnerungen verknüpft sind, waren Medikusens. Herr Medikus, eine kleine, feine Gelehrtenerscheinung, Frau Medikus eine Bayerin. Ihr Dialekt brachte uns immer zum Lachen. Ich holte sehr gerne etwas in der Apotheke, weil ich dann weißen „Ziehzucker“ geschenkt bekam. Besonders der Provisor, Herr Krell, war mir in dieser Beziehung sehr gewogen. Aber streng wurde ich von meiner Mutter jedes Mal kontrolliert: „Hast du dich auch bedankt?“ Einmal musste ich gestehen: „Nein, ich habe es vergessen.“ „Dann musst du sofort rüber gehen und es nachholen.“ Voller Scham ging ich rüber, öffnete die Tür und rief lauf: „Danke!“ und knallte die Tür wieder zu. In die Zeit, als Herr Medikus die Apotheke hatte, fällt nun auch ein Ereignis, das mir sehr aufregend war. Herr Medikus hatte einen Praktikanten, der ein Hochrad besaß, das erste in Hildburghausen, und zwar eines von der ganz hohen Sorte!


Hochrad - wikipedia

Welche Aufregung, welche Begeisterung, wenn der Jüngling abends sein Rad bis zum Waisenhaus hinauf schob (heute: Altbau der Henneberg-Kliniken), wenn er dann versuchte, über den Dorn, der an dem kleinen Rad angebracht war, sich auf das hohe Rad hinauf zu schwingen. Viel Vergnügen kam für den Jüngling dabei nicht heraus, denn selten vermochte er, sich einige Zeit auf seinem hohen Fahrzeug zu halten. Wie schnell ging dann die Entwicklung voran! Bald wurde aus dem Hochrad das Fahrrad entwickelt, das man zuerst Veloziped nannte. Ich glaube, dass mein Vater sich schon 1896 ein Fahrrad anschaffte. Damals war ein Fahrrad nur zu Vergnügungsunternehmungen bestimmt. Die Landstraßen waren noch autofrei. Nach Herrn Medikus übernahm Herr Jakob Wagner die Apotheke.

Erstes Haus rechts, Apotheke von Jacob Wagner.

Er war ein netter, sehr tüchtiger Geschäftsmann. Es war die Zeit, und er war der Mann dazu, die Apotheken nach einem ganz anderen Gesichtspunkt zu führen. Es entstanden zu der Zeit die großen pharmazeutischen Fabriken. Der Apotheker war nun nicht mehr in dem Maße Wissenschaftler wie ehedem, er verkaufte zum großen Teil fertige Präparate. Frau Wagner war eine sehr angenehme Nachbarin. Als nächster Apotheker kam ein Herr Müller mit Frau, Schwiegermutter und Söhnchen. Sie lebten sehr abgekapselt, litten an Kopfschmerzen und fühlten sich hier nicht heimisch. Dann kam Herr Bindewaldt mit Frau. Er war ein schon recht abgetakeltes Wrack und seine Frau eine völlig kopflose Pute. Da die Frau völlig sinnlose große Einkäufe machte, fehlte es ihnen an Allem, so zum Beispiel auch an Heizmaterial. So verheizten sie die Wendeltreppe, die vom oberen Stockwerk herunter in die Rezeptur führte. Sie wurde aber nicht etwa ordnungsgemäß abmontiert, sondern sie splitterten sich nach Bedarf von den gedrehten Säulchen des Geländers Stück für Stück ab. Herr Früh, als nächster Besitzer, brachte das Geschäft wieder in Schwung. Seit 1919 ist Herr Tenhaeff der Besitzer der Apotheke. Er ist ein fleißiger, gewandter und sehr geschickter Geschäftsmann. Er ist auch musikalisch. Früher habe ich ihn viel zur Geige begleitet. Herrn Tenhaeff verdanke ich es auch, dass meine Jungens frühzeitig den Wert des Geldes kennen lernten. Er rief die Jungen oft zu Hilfeleistungen heran, und so merkten die Jungen, was es heißt, Geld selbst zu verdienen. Ich erwähnte schon, dass die beiden Räume, die zwischen der Apotheke und der Haustür lagen, zeitweilig die Redaktion der „Dorfzeitung“ beherbergten. Später waren sie oft von unverheirateten Offizieren bewohnt. Herr Tenhaeff hatte in diesen Räumen neben seinem Apothekenbetrieb noch ein Fotofachgeschäft aufgemacht. Es war wohl ein lukratives Unternehmen, aber die Ungunst der Zeit hat es wieder zum Verschwinden gebracht. (An dieser Stelle kam es zu einem Ersatzneubau, der am 7. März 1992 als Hauptstellengebäude der Kreissparkasse Hildburghausen geweiht wurde.)

Herr Tenhaeff hatte übrigens als Provisor mal eine junge Apothekerin, die sehr klug und sehr tüchtig war, nur war sie etwas schüchtern und unbeholfen für den Ladenverkauf, bei dem in einer Apotheke doch alles Mögliche an einen herantritt. Tenhaeff sagte von ihr: „Sie ist eben eine Jungfrau par excellence.“ Zu dieser Apothekerin kamen nun ein paar spottlustige Schüler des Technikums herein. Sie verlangten für 10 Pfennig Kamillentee. Liebenswürdig sagt die Apothekerin: „Kamillen kann ich Ihnen geben, aber den Tee müssen sie sich selber machen.“ Darauf verlangten die jungen Herren für 10 Pfennig Pfefferminztee. Schon etwas betonter sagte die junge Apothekerin: „Pfefferminztee kann ich Ihnen geben, aber den Tee müssen Sie sich selber machen.“ Und nun verlangten die jungen Herren für 10 Pfennig Brusttee … „Die Brust …“, sagte die Apothekerin noch und stürzt mit hochrotem Kopf hinaus in die Rezeptur und ward nicht mehr gesehen.

Im Haus neben der Neustädter Apotheke, jetzt Schleusinger Straße 8, wohnten die „Wagners Tanten“, Verwandte von Frau Berthot. Dann kaufte Herr Mühlke, der Vater meiner Freundin Grete Mühlke, das Gebäude.

Bismarckstraße, heute Schleusinger Straße mit Blick zur Neustädter Kirche.


Im nächsten Haus wohnten Genßlers mit drei Kindern, dem Sohn Willi, den Töchtern Emma und Nathalie, genannt „Taija“.



Zweites Haus links wohnte Familie Genßler und drittes Haus  die "Wagner`s Tanten"
.


Die ganze Familie zeichnete sich dadurch aus, dass sie ungeheuer dick war, das Essen schmeckte ihr aber auch vorzüglich. Für uns Kinder war vor allem das Hinterhaus im Garten interessant, denn dort betrieb Herr Genßler eine kleine Fabrik, wo er Verschlüsse für Bierflaschen anfertigte. Bei dieser Fabrikation gab es Blechabfälle, die sich vorzüglich als Gartenzäune verwenden ließen, wenn man Sandhaufen-Bauten ausführte. Darum suchte man auch immer wieder die Freundschaft der beiden Genßlers-Mädchen, obgleich Taija wegen ihres ewigen Übelnehmens nicht beliebt war.


Bismarckstraße, heute Schleusinger Straße mit Blick zur Altstadt.


Im nächsten Gebäude, dem Eckhaus der Seminarstraße, war das Seminar, das heißt die Lehrerbildungsanstalt, die auch auf eine Gründung des Konsistorialrates Nonne zurückgeht (Anmerkung: Das Lehrerseminar wurde 1795 auf eine Initiative des Hofpredigers Johann Andreas Genßler hin gegründet).


Carl Ludwig Nonne

Altes Seminargebäude in der Bismarckstraße.


Johann Andreas Genßler

In dem Gebäude waren bis zum Jahr 1899, das heißt, bis das „Neue Seminar“ (heute: Regelschule Joliot-Curie) gebaut und eingeweiht wurde, das Internat, die Schulräume und die Dienstwohnung des Direktors untergebracht. In der Dienstwohnung von Direktor Rückert, ein Verwandter des Dichters Friedrich Rückert, habe ich bei meiner Freundin Marga Rückert schöne Stunden verlebt. Der Hof umschloss einen wunderbaren Garten mit herrlichen Himbeerhecken, und im Hof plätscherte ein ständig laufender Brunnen. Jetzt ist er nicht mehr dort. Wo ist er hingekommen? War die Leitung nicht mehr in Ordnung? Warum erhält man so etwas Schönes nicht? Ein laufender Brunnen hat doch so etwas Lebendiges und Schönes an sich!

Wie sah es nun auf der westlichen Seite der Schleusinger Straße zu meiner Kinderzeit aus? Das Eckhaus zur Georgstraße (heute: Geschwister-Scholl-Straße, Haus ist abgerissen, Fa. Elektro-Stütz), in dem jetzt ein Konsumladen ist, gehörte Seminarlehrer Bösemann. Herr Bösemann soll ein gelehrtes Haus gewesen sein, aber die ganze Familie hatte etwas Sonderbares an sich. Den Laden im Erdgeschoss betrieben Ziegerts, eine sehr freundliche Kaufmannsfamilie. Sie hatte kleine Kinder, und ich war viel bei ihnen und trieb mich zu gern hinter dem Ladentisch herum. Ziegerts verließen später diesen Laden und kauften das Haus auf dem Marienplatz (heute: Goetheplatz) neben dem „Gasthaus zum Schwan“.

Marienplatz, erstes Haus links befindet sich der Laden der Familie Ziegerts und zweites Haus das "Gasthaus zum weissen Schwan".

Marienplatz, links Laden der Familie Ziegerts, daneben "Gasthaus zum weissen Schwan".

Dort betrieben sie dann auch ein Kolonialwarengeschäft, später hatte es der Kaufmann Will. Das Haus am Marienplatz hat weitläufige Hintergebäude mit Lagerräumen und Hof und Garten bis zur Querstraße vom Kapellbrunnen zur Weitersrodaer Straße. Dort trug sich nun folgendes Geschichtchen zu: Es ist in den ersten Nachmittagsstunden, flaue Geschäftszeit, die Ladenglocke scheppert, Frau Ziegert eilt an den Ladentisch, ein kleines Mädchen stellt ein kleines irdenes Gefäß auf den Ladentisch und sagt: „Für 10 Pfennig Syrup.“ Das Syrupfass steht in der hintersten Niederlage. Frau Ziegert eilt mit dem Töpfchen dorthin. In der Niederlage hinter dem Laden hängt an langen Stricken ein flacher Korb an einem Haken an der Decke. Darin verwahrt Frau Ziegert die Eier. Im Vorbeieilen über den Hof zur hinteren Niederlage gibt Frau Ziegert gewohnheitsgemäß dem Korb einen Schubs, damit die Eier sich durch die Bewegung schön frisch halten. Frau Ziegert hatte gerade den Syruphahn aufgedreht, da denkt sie: Was war denn das eben für ein Krach? Sollte ich etwa doch …? Sie rast vor, da liegen die Eier am Boden! Unterdessen waren Ziegerts Hühner voller Neugier durch die offene Tür in den hinteren Lagerraum eingedrungen, wo natürlich das irdene Töpfchen längst übergelaufen war. Und mit Entzücken tappten die Hühner nun in dem Syrup herum. Aber nicht genug damit, völlig verklebt und torkelnd strebten sie nun nach der vorderen Niederlage und marschierten begierig in den Eierbrei hinein, um sich daran göttlich zu tun! Arme Frau Ziegert! Außer dem Schaden musste sie nun auch noch jedes einzelne Huhn sorgfältig baden und am Ofen wieder trocknen.

Nach Ziegerts übernahm Herr Böhm das Kolonialwarengeschäft. Er kaufte auch das Haus. Er ließ dann die Hausecke abschrägen, damit er einen attraktiven Ladeneingang schaffen konnte. Er trieb neben dem Einzelhandelsgeschäft auch einen Großhandel in Kolonialwaren.



Bismarckstraße, erstes Haus links ist der Kolonialwarenladen Metzlers und die Häuser 5, 7 und 11 waren Bäckereien.

Das HO-Geschäft zur DDR-Zeit in der Schleusinger Straße war ein kleiner Kolonialwarenladen von Metzlers. Die Häuser Nummer 5, 7 und 11 waren Bäckereien. Zu jener Zeit hatte aber keine Bäckerei einen Laden, sondern man trat in die große Backstube ein, in der gewohnt, gegessen und gearbeitet wurde, in der die Kinder herumkrabbelten und in der auch die Backwaren verkauft wurden.

Blick von der Neustädter Kirche in die Bismarckstraße.


Es war aber keine Rede davon, dass etwa solche Leckereien und Kuchen hergestellt und feilgeboten wurden, wie das heute in unseren Bäckerläden üblich ist. Es gab nur eine Sorte Brot, dann gab es die doppelten Semmeln, von denen eine Hälfte ein „Lösle“ genannt wird. Diese Semmel wurde in zwei Größen angefertigt, wobei man die großen gemeinhin „Klößsemmel“ nannte, weil sich davon vorteilhaft die „Klößbröckle“ schneiden ließen. Dann gab es für Feinschmecker auch Milchbrötchen und ein höchst einfaches, schneckenförmig gerolltes Hefegebäck, das man Mauschellen oder Mörbs, will heißen „mürbes Gebäck“, nannte. Dass ich aber eines nicht vergesse! Es gab noch ein herrliches Gebäck, das hieß „Dätscher“ oder „Aftermahlslatschen“, nicht zu verwechseln mit den Kartoffeldetschern. Der Name sagt schon, dass dazu ein etwas grau-schwarzes Mehl genommen wurde. Aber der Reiz dieses kreisrunden, flachen Gebäcks bestand darin, dass in die Mitte des Dätschers  beim Backen ein kleiner Klecks Butterdötsch getan wurde. Nun muss ich wohl erst erklären, was „Butterdötsch“ ist? Das ist der schaumige Rest, der zurück bleibt, wenn man Butter auskochen lässt. Während nun ringsherum dieses flache Gebäck etwas reizlos schmeckte, war die mit Dötsch bestrichene Mitte wirklich gut. Ihren Hauptreiz entwickelten die Dätscher aber erst im Herbst, da legten nämlich die Bäcker in die Mitte auf die Dötschstelle eine halbe Zwetschge. Und das großzügig, aus lauter Menschenliebe ohne einen Preisaufschlag! Diese primitive Art unserer früheren Bäckereien hatte auch noch das Gute, dass man in der Backstube, die hinter der Wohn- und Verkaufsstube lag, kennen lernte. Man sah, wie das Brot ein- und ausgeschoben wurde, wie die runden Kuchenbleche im Ofen hin- und hergeschoben wurden, und man sah, wie der mittägliche Schmortopf der Frau Bäckerin auch noch zeitlich mitbruzzelte. 

Das Haus Schleusinger Straße 15 war damals noch nicht um ein Stockwerk erhöht, sondern der Dachfirst verlief mit den Dächern der anderen Refugié-Häuser auf gleicher Höhe.

Von den anderen Häusern ist nicht mehr viel zu sagen, sie gehörten nicht mehr zum Radius meiner Kindheitserlebnisse. Das Krankenhaus, ohne den seitlichen Anbau, war Militärlazarett.



Rechts Pfarrhaus und Militärlazarett.


Das Pfarrhaus war vermietet, es wurde nicht von einem Pfarrer bewohnt. Dem Pfarrhaus gegenüber war das „Gasthaus zum Stern“. Darin war links von der Haustüre die Metzgerei von Hellermann, wo wir unser Fleisch holten. Früher muss in dem Haus eine Bäckerei betrieben worden sein, denn in dem recht kunstvollen Wirtshausschild war oben der goldene Stern, in der Mitte aber ein Bäcker mit der Backschaufel und unten eine Brezel. Das Wirtshausschild ist heute im Stadtmuseum.

Links vor der Neutädter Kirche befand sich das "Gasthaus zum Stern".


Die Häuser, die an den Stern anschließen, standen schon zu meiner Kinderzeit. Ebenso das nächste Backsteinhaus (jetzt Fuchs), das sogenannte Stadtgut.

Zweites Haus links - Backsteinhaus der Familie Fuchs

Aber damit hört dann auch die Welt auf! Von einer Rathke- oder Joseph-Meyer-Straße und von all den anderen Häusern war noch nichts zu sehen. Nur zwei Ziegeleien waren stets eifrig in Betrieb. Das war zur rechten Hand die Ziegelei von Nottnagel und Leffler (zu DDR-Zeiten Holz- und Kohlenplatz des Kohlenhandels) und zur linken Hand die Ziegelei und Holzschneiderei von Papendiek. Den Ton für ihre Ziegelei holten Papendieks in den Tongruben rechts von der Schleusinger Straße. Er wurde in kleinen Loren über die Straße hinweg zur Ziegelei gefahren. Am Übergang war nicht etwa ein Warndienst oder sonst eine Schutzvorrichtung vorhanden. Die Wägelchen sausten eben einfach über die Straße. Nun ja, man sah ja, wenn sie angesaust kamen, dann wartete man eben mit dem Pferde- oder Kuhgespann. Mochte jeder sich danach richten, das Dreckbähnle, wie es allgemein hieß, ging vor.

Eine dritte Ziegelei, die Göttings gehörte, stand da, wo jetzt der Fuhrmann Hartung und der Frisör Groß ihre Häuser haben (heute: Seminarstraße, gegenüber DRK-Gebäude).

So konnten wir als Kinder nicht anders, als dass ständig kleine Bauernwägelchen bei uns vorbei fuhren, die sich in einer der drei Ziegeleien Backsteine holten. Die Hildburghäuser Backsteine waren von ausgezeichneter Qualität. Und vom Papendiekschen Holzplatz holten sich die Bauern Schnittholz aller Art, auch Schwarten als Brennholz. Ja, damals hatte man leicht Bauen!


 Neustädter Kirche Ostansicht


Die Häuser hinter der Neustädter Kirche (Neustädter Kirchplan) hießen im Volksmund „Die Tartarei“. Eigentlich warf das kein gutes Licht auf die Bewohner. Aber es wohnten sehr ordentliche Leute dort. Beim Fuhrmann Hofmann – er hatte den Übernamen „der Wallacher“, wahrscheinlich hatte mal ein Vorfahre einen Wallach als Zugpferd – bestellte man den Sand zum Scheuern der Treppen, denn die waren in unserem Haus damals noch nicht gestrichen. Der Sand wurde gebracht und metzenweise verkauft. In meinen Kinderjahren wurden noch drei Sachen gewohnheitsgemäß nach Metzen angeboten und verkauft. Das waren Sand, Hölperle (Preißelbeeren) und Äpfel, wenn sie vom Land gebracht wurden. Die alte Hildburghäuser Metze fasste 5 Liter.

Wollen wir zusammen ein Stückchen die obere Georgstraße hinauf gehen? Nach der Apotheke kommt das Radefeldshaus. Es wird bewohnt von Fräulein Anna Radefeld, der letzten Nachkommin der Radefeld-Familie, die zur Dunkelgrafenzeit unser Haus besessen hat. Fräulein Radefeld war eine liebe Dame. Zu meiner Zeit gab sie Strickunterricht für vorschulpflichtige Mädchen. Glücklicherweise hat meine Mutter mich nie gezwungen, mich an so schrecklichen Unternehmungen zu beteiligen. Das oberste Geschoss bewohnte ein Vetter der Anna Radefeld, nämlich Professor Schaubach, ein Freund meines Vaters. Er war klug, streng und humorlos. Ich verdanke ihm aber viel, denn er gab mir, aus Freundschaft für meinen Vater nach dem Schulabgang noch Unterricht in Literatur und deutschem Aufsatz. Ob er wohl mit dieser Schreiberei zufrieden wäre? Nach seiner Methode müsste ich die Aufzeichnungen viel kürzer und straffer halten!

Nach dem Sillershaus kommt ein großer Gebäudekomplex, der den Brüdern Kahn gehörte. Sie kauften magere Kühe oder nahmen sie, wenn die Bauern ihnen verschuldet waren, und schafften sie nach Magdeburg. Dort wurden sie mit Zuckerrübenschnitzeln in kurzer Zeit fett gemacht und dann vorteilhaft weiter verkauft. Es war zeitweise das tägliche Bild. Eine Kette von 10 bis 12 Kühen, paarweise an den Hörnern zusammen gebunden, wurde die Georgstraße herunter zum Bahnhof getrieben. Manchmal waren es drei solcher Ketten an einem Abend.

Das große Gebäude, wo heute die Kreispolizei herrscht (Polizeiinspektion), gehörte auch einem Scheller, einem Vetter des Robert Scheller. Er hatte den Spitznamen „der Nasenscheller“. Vor Knorr und Maggi hatte er das Kunststück der Würfelsuppen entdeckt. Er konnte es aber geschäftlich nicht so glänzend wirksam machen wie diese beiden Firmen. Später war in dem Gebäude die Taustummenschule untergebracht. Auch die taubstummen Kinder waren in Familienpflege und nicht in einem Internat. Schließlich hat die kartographische Anstalt von Metzeroth in diesem Haus gearbeitet.

Das nächste zweistöckige Haus war das Waisenhaus, es lief unter dem Namen „Industrieschule“. So lange ich denken kann, haben Herr und Frau Döhner das Haus geführt. Sie haben es sicher rechtlich und redlich mit den Kindern gemeint. Aber ich glaube nicht, dass sie jemals mit der pädagogischen Wissenschaft in Berührung gekommen sind. Das große Backsteinhaus zwischen Georgstraße und Allee, später als „Berthots-Haus“ bekannt, gehörte schon wieder einem Scheller. Er hieß mit Vornamen Wilhelm und war ein Bruder des Weinhändlers Robert Scheller. Ihm gehörte auch der nach der Aktienbrauerei zu gelegene Garten, in dem er Gewächshaus und Gärtnerwohnung unterhielt, aus dem dann später das Haus mit dem Verputz in der Oberen Allee im Jugendstil entstand.

Nun muss ich noch einmal zu unserem Gegenüber zurückgehen, dem Strathausenshaus. Diesem Grundstück schloss sich der Dittelbachsgarten an. Er gehörte also zu dem Haus am Salzmarkt, das jetzt Rollwagen gehört (heute: abgerissen, Parkplatz). Der Garten lag, wie alle Gärten auf der Allee, im alten Wallgraben. Er war altertümlich angelegt und hatte ein nettes, altes Gartenhaus. Herr Dittelbach wurde aber ein reicher Mann. Er war der erste hier, der seinen Stoffladen zu einem Konfektionsgeschäft erweiterte, sodass sich nun auch die Hildburghäuser „von der Stange“ kleiden konnten. Dieser neugewonnene Reichtum veranlasste Herrn Dittelbach, sein hübsches altes Gartenhaus mit einem Vorbau mit bunten Fensterscheiben zu verunzieren. Das Alte und das Neue mussten weichen, jetzt steht dort das Bad. An der Stelle, wo jetzt das Kassengebäude der SVK (Sozialversicherungskasse, zur DDR-Zeit) steht, stand damals noch ein Turm der Stadtmauer, der immerhin noch so gut erhalten war, dass er von der Familie Eckhardt noch bewohnt wurde.

Bewohnter Turm an der Stadtmauer und Garten.


Sie hießen zum Unterschied zu den vielen anderen Eckhardts in der Stadt die „Türmles-Eckhardts“. Der alte Herr Türmles-Eckhardt war Diener der Schützengesellschaft, und als solcher für uns Kinder eine Ehrfurcht gebietende Gestalt. Denn, wenn der Ausmarsch der Schützengesellschaft am ersten Tag der Schützenfestwoche war, dann marschierte Herr Türmles-Eckhardt mit einer Fahne direkt hinter der Musik und führte den Zug der Schützen an, die alle in tadelloser grauer Uniform mit grünen Aufschlägen und grünen Hüten daher schritten.

Hier war aber auf der Allee auch auf der linken Seite etwas Anziehendes für uns Kinder, wo wir uns immer wieder einfanden und lange, lange zugucken konnten. Hier, am Bämleszaun entlang, hatte nämlich an jedem schönen Tag der Seiler Hofmann seine Seilerbahn. Am Ende des Bämleshauses saß auf einem winzigen Schemelchen ein Junge aus dem Waisenhaus, der sich dort ein paar Pfennige verdiente. Er musste das kleine Radsystem in Bewegung halten, an dem die Seilschlingen an kleinen Häkchen angebracht wurden. Herr Hofmann spann nun rückwärts gehend aus einer blauen Schürze das Werg zu dünnen oder stärkeren Bindfaden. Der gedrehte Faden musste immer wieder geglättet werden. Dazu benutzte Herr Hofmann ein Stückchen schwarzen Filzes, das immer feucht gehalten werden musste. Wenn ich nun den Auftrag erhielt, das Tonkrüglein, in dem der Filz angefeuchtet wurde, am Brunnen frisch aufzufüllen, dann fühlte ich mich hochgeehrt. Ich rannte, so schnell ich konnte, zum Brunnen an unserer Waschhaustür und wieder zurück.

In der Allee gab es nun eigentlich nur noch zwei Häuser, die unsere ganze Liebe genossen. Es waren Gastwirtschaften mit Gartenbetrieb im Sommer. Unser höchstes Glück war, wenn die Eltern mit uns nach einem Sonntagsspaziergang dort einkehrten und man an Stelle des Abendessens eine Bratwurst verzehrte und mal einen Schluck Bier bekam. An der Ecke zur Molkerei war es die Gastwirtschaft von Haßfurther (sog. „Sendelbachhaus“, eingelegt, heute: Parkplatz).
  Die Wirtschaft war altfränkisch und wurde nur vom alten Haßfurther und seiner Magd, der alten, sehr schwerhörigen Male bedient. Der Reiz dieser Gastwirtschaft bestand für uns Kinder in dem kleinen, klaren Bach, der das Grundstück durchfloss und Gelegenheit zu allerlei Spielen bot. Die Wirtschaft hatte sonst nur Zuspruch von einem Stammtisch und ein paar Kegelgesellschaften, denn an das Haus war nach der Turnhalle zu eine schöne Kegelbahn angebaut. Und nicht zu vergessen: Die „Historischen Abende“ von Human tagten dort. Es war wohl immer nur ein kleiner Kreis, der sich dazu zusammen fand. Als aber angezeigt war, dass Amtsgerichtsrat Hochrein über die Dunkelgräfin sprechen würde, da machte sich halb Hildburghausen auf die Beine. Die große Wirtsstube bei Haßfurther war zum Brechen voll. Ich fand mit meiner Freundin zusammen auf einem Stuhl Platz, den uns die Male aus ihrer Küche geholt hatte. Herr Hochrein wollte uns anhand seiner Gerichtsakten nachweisen, die er auch dabei hatte, dass es sich bei dem Dunkelgrafen um einen ganz gemeinen Sadisten gehandelt hätte, der das weibliche Wesen sich zur Lust gefangen gehalten hätte. Hochrein hatte mit dem gewohnten kleinen Kreis von Zuhörern gerechnet, wo weniger ein Vortrag als ein Palaver verlangt wurde. Es wirkte nun etwas peinlich, dass er dauernd seine Akten von vorn nach hinten und von hinten nach vorn durchblättern musste. Finden konnte er nicht, worauf es ihm ankam. Das veranlasste die alte Male, sich vor mich und meine Freundin hinzustellen und laut zu sagen. Als Schwerhörige dachte sie natürlich, dass sie flüsterte: „Er hätt sich sei Zeuch ach e bissle raus könnt schreib.“ Störend wirkte es auch, dass einer um den anderen der alten Stammgäste, so der alte Nottnagel und andere, sich ihre langen Pfeifen anbrannten. Das taten sie aber nun etwa nicht mit einem Streichhölzchen. Nach guter alter Sitte stand der Betreffende mitten im Vortrag auf, ging zum Ofen, und, da er leise gehen wollte, quärtzten Schuhe und Dielen umso mehr. Er holte aus dem Gefäß in der oberen Ofenröhre den Fidibus, den er entzündete. Nun setzte er seine Pfeife in Brand. Zum Schluss des Abends ergriff Human das Wort und widerlegte alles, was Hochrein gesagt hatte. Es war ein spaßiger Abend!



Gaststätte Sendelbach


Aber nun zurück zur anderen Gastwirtschaft, zu Sendelbachs in der Oberen Allee (heute: Evangelisches Gemeindeheim „Dr. Elise Pampe“). Dort wurde auch am guten Alten festgehalten, aber Frau Sendelbach und die drei Töchter aus erster Ehe hatten alles fabelhaft in Schwung. An Sonntagen waren manchmal beide Veranden an der Georgenstraßenseite und alle Gartenplätze besetzt.



Gaststätte Sendelbach



Stammtisch Sendelbach

Es war eine Freude zu sehen, wie die drei liebenswürdigen Mädchen (die Älteste wurde später Frau Maurermeister Leffler) so flink und gewandt bedienten.

Gärten in der Allee


Der schönste Garten von allen im alten Wallgraben war der Konradsgarten. Der Bildhauer Konrad besaß das Haus in der Knappengasse und den Garten Sendelbachs gegenüber. Zwei Stadtmauertürmchen stehen darin. Das eine Türmchen und noch ein Teil der Stadtmauer waren ganz mit Efeu überwachsen.
Durch ein kleines Mauerpförtchen kam man in den Garten. Hier waren alle Wege von Buchsbaumkanten eingefasst, dazwischen die rechtwinkligen Blumenbeete. An den Wegkreuzungen waren jedes Mal Rosenbogen über den Weg gespannt. Und da fanden sich alle Blumen, die in einen solchen Garten gehören: weiße Lilien und Feuerlilien, Rosen, Nelken, Brennende Liebe und Jungfer im Grünen. Alles blühte in herrlicher Pracht. Und ein Schmuckstück war das Gartenhäuschen, das jetzt zur Garage degradiert ist. Hätte man doch, wie in anderen Städten, die Gärten des Wallgrabens als öffentliche Anlagen erhalten!

Rechts "Farben-Bauer, dort befand sich früher die Post.


Die Post, die früher auch einmal im „Farben Bauer“-Haus war, habe ich nur im Alten Technikum gekannt, und zwar war sie in den Räumen, die später der Buchhändler Emmo Wittig innehatte und zu DDR-Zeiten die SPOWA, ein Sportartikelgeschäft. Es wurde dann von Maurermeister Leffler, nachdem der Batti’s Garten gewaltig aufgefüllt war, das jetzige Postgebäude errichtet und 1892 bezogen. Im Schalterraum, der sich früher auf der linken Seite des Gebäudes befand, war zur Erwärmung der Halle ein schmucker Dauerbrandofen, ein sogenannter Amerikaner, aufgestellt.


Neues Postgebäude, 1892 bezogen.

Als man dann im Herbst daran ging, diesen Ofen zum ersten Mal zu heizen, erwies es sich, dass so mancher Hildburghäuser den „Amerikaner“ für einen Briefkasten gehalten hatte. Sie hoben den Deckel des Auffüllstutzens hoch und versenkten dahinein die Briefe. Es gingen zu meiner Zeit auch noch zwei Postkutschen für die Personenbeförderung. Es waren zwei gelbe Kutschen mit zwei Pferden bespannt und dem Postillon auf dem Bock mit kleinem, ledernen Helm auf dem Kopf und dem Posthorn umhängen. Sie gingen täglich von Hildburghausen nach Rodach und nach Römhild und zurück. Dieses Idyll hat erst bei Kriegsbeginn 1914 aufgehört. Ganz in meiner Nähe habe ich auch noch ein Andenken an die Thurn und Taxisschen Postmeister Löhner und Helm, denen das Ottos-Haus gehörte. Es steht am Eingang zur Apothekergasse von Norden, rechter Hand, und ist heute das Gebäude des Stadtmuseums „Alte Post“.



Thurn und Taxissches Postamt von 1809 - 1847.

Von 1809 bis 1847 betrieben sie dort die Post. Ihnen zu Ehren ist in das Pflaster vor dem südlichen Eingang ein Posthörnchen aus kleinen Basaltsteinen eingepflastert.

Lasst mich hier auch gleich noch einflechten, dass sich trotz aller Posteinrichtungen, Thurn und Taxisscher und anderer, trotz aller Eisenbahnen auch noch das altertümliche Botenwesen erhalten hat. So kam zweimal in der Woche die „Bötin“, Frau Seidenstricker, von Römhild nach Hildburghausen. Bei meiner Freundin Clärle Schüler hatte sie oft etwas auszurichten von den Verwandten aus Römhild. Frau Seidenstricker war eine stämmige, kleine Person, beinahe so breit wie hoch. Sie kam mit einem Miniaturplanwagen, vor dem zwei Hunde gespannt waren. An der Seite hatte sie mit einem Riemen eine lederne Geldtasche hängen. Da sie alle amtlichen und kommerziellen Dinge für die Römhilder besorgte, so hatte sie natürlich auch immer beträchtliche Geldsummen in ihrer Tasche. Sie aber ging mit der größten Ruhe ihres einsamen Weges fürbass, denn damals gab es zwischen den Gleichbergen noch kein Gasthaus oder sonst ein Haus. Niemand dachte, dass ihr etwas passieren könnte …, und es passierte ihr auch nichts.

Eine andere Botenverbindung, die auch unbedingt zum Stadtbild  gehörte, war die „Bedheimer Mine“. Auch sie besorgte alles, was die Bedheimer an Arzneimitteln für Mensch und Vieh brauchten und was sonst noch ihr Bedarf war. Obwohl die Mine viel in den Wirtschaften einkehrte und sich manches Schnäpschen genehmigte, so muss sie doch alles zur Zufriedenheit ihrer Auftraggeber besorgt haben, denn sie hatte ihre Vertrauensstellung jahrelang. Einmal hatte sie sich in der „Loreley“ niedergesetzt, dem letzten Gasthaus am Stadtausgang (heute: Friedrich-Rückert-/Bahnhofstraße), um sich noch gründlich für den Heimweg zu stärken. Da gab es einen großen Aufstand, weil Herzog Georg II. mit seiner neuen Gemahlin, der Freifrau von Heldburg, erwartet wurde. Alles stürmte auf die Straße, nur die Mine blieb ungerührt bei ihrem Schnapsglas sitzen, worauf der Wirt Lautensack sagte: „Merkwürdig, dass ein Frauenzimmer sich für die Schönigkeit eines anderen Frauenzimmers nicht im geringsten verinteressieren tut.“

Hier wäre es vielleicht am Platze zu fragen, von wem wurde denn das „gemütliche“ Städtchen „regiert“? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich nun authentisches Material durch das Adressbuch von Hildburghausen aus dem Jahr 1886, dem Jahr meiner Geburt. Stände es da nicht schwarz auf weiß, so würde es wohl niemand glauben, dass damals auf dem Rathaus fünf Beamte und Angestellte waren, und zur Aufrechterhaltung der Ordnung noch drei Polizisten! Unser Bürgermeister war damals und noch bis zum Jahr 1908 Herr von Stocmeyer, ein freundlicher und umgänglicher Herr, der sich gewiss nicht die Nerven mit Überarbeitung ruiniert hat. Ihm zur Seite stand als 2. Bürgermeister, im unbesoldeten Ehrenamt, Herr Gadow, der Besitzer der Druckerei Gadow & Sohn. Dann kam der Stadtschreiber, Herr Funk, und der Kämmerer, der auch die damalige Städtische Sparkasse zu leiten hatte. Das war Herr Fritz. Er hatte noch einen Gehilfen namens Langguth. Die drei Polizisten hießen Fröbel, Truckenbrodt und Wilhelm. Diese Drei waren vermutlich schon sehr betagt und gingen bald in Pension, denn mir sind aus meiner Kinderzeit andere Namen im Gedächtnis. Da war vor allem Herr Senf, vor dem wir Kinder einen gewaltigen Respekt hatten. Waren wir im Winter mit unserem Böckle den Schlossberg herunter gerodelt – das war verboten, und wir wussten das sehr genau – und es hieß plötzlich: „Der Senf kümmt!“, dann stob die gesamte Kinderschar voller Schrecken auseinander. Spaßeshalber sei noch erwähnt, dass das Landratsamt auch nur fünf Beamte und vier Schreiber besaß. Und dabei musste damals doch alles mit der Hand geschrieben werden!


Marktplatz mit Rathaus

Wie war es nun zu meiner Kinderzeit hier mit dem Geschäftsleben bestellt? Wurden wir gut versorgt und bedient? Da sich damals mehr noch als heute das Geschäft ganz nach Angebot und Nachfrage regelte, so muss man wohl zuerst fragen, wer waren denn die Kunden, die die Geschäfte zu beliefern hatten? Da waren zwar die Behörden, aber wir haben ja soeben gesehen, dass sie einen lächerlich kleinen Beamten- und Angestelltenapparat hatten. Dann kamen die Schulen: Das Gymnasium, das Lehrerseminar mit Internat, die Taubstummenschule, die Blindenschule und die landwirtschaftliche Winterschule.



Taubstummenschule und Neues Seminar

Sie alle stellten – Lehrer und Schüler – einen soliden, aber doch nur sehr bescheidenen Verbraucherkreis dar. Anders war es schon mit dem Technikum. Die Studierenden des Technikums bedeuteten für die Einwohner Hildburghausens recht viel. Da war zuerst zu verdienen an dem Wohnraum, den sie benötigten. Jeder, der es nur irgend konnte, baute eine Giebelstube aus oder stockte einen Ziegenstall auf und „ernährte sich von den Technikern“, wie man in Hildburghausen sagte. Viele der Techniker waren die Söhne reicher Eltern und verfügten deshalb über einen großen „Wechsel“. So kam hier ein ansehnliches Geld ins Geschäftsleben. Davon wanderte allerdings ein beträchtlicher Teil in die Gaststätten und Kneipen, deren es hier eine erschreckende Menge gab. Aber natürlich profitierten auch alle anderen Geschäfte davon. Ein guter Konsument war auch das Militär, denn für die Verpflegung von 400 bis 500 jungen Leuten im Alter von 20 bis 22 Jahren, die sich immer in der frischen Luft bewegten und die besonders kräftig ernährt wurden, sind natürlich  viele Lebensmittel erforderlich. Bäcker, Metzger und Kolonialwarengeschäfte machten aber nicht nur bei der Belieferung des Militärs ganz gute Umsätze. Auch die Landesirrenanstalt, die wohl 400 bis 600 Personen zu ernähren hatte, war ein guter Kunde und erhöhte die Umsätze nicht unwesentlich. Behörden, Schulen, Militär und Irrenanstalt stellten also einen großen Kundenkreis dar, der aber keine allzu großen Ansprüche an die Qualität des Angebotes stellte.

Eine Industrie im heutigen Sinne gab es damals noch nicht. Die beiden Druckereien beschäftigten zwar eine beträchtliche Anzahl von Angestellten und Arbeitern, die Püpplesfabrik von Simon oben auf der Marienstraße hatte aber nur wenige Arbeiter. Vieles wurde in Heimarbeit gemacht. Diese Fabrik stellte auch keine Massenartikel her. Sie belieferte eigentlich nur das Ausland mit kostbaren Spielereien, zum Beispiel Tanzpüppchen, die sich nach den Klängen einer Spieluhr drehten und ähnliches. Ein kleiner Fabrikbetrieb war auch die Holzwarenfabrik von Schultze auf der Kapelle, die auch das Bedrucken von Spielwürfeln und Dominosteinen in Heimarbeit vergab. Die drei Ziegeleien hatten ihre kleine Arbeiterschaft, in der Wiesenmühle richtete Gassenheimer eine kleine Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen ein. Maurer und Bauschreiner gab es in steigendem Maße, denn so langsam fing das Baugewerbe an, auf höhere Touren zu kommen. Grundlegend hat sich der Konsumentenkreis unserer Stadt erst verändert und vergrößert, als Herr von Ried und Herr Willi Götting, der Bruder des Ziegeleibesitzers, eine Glashütte errichteten. Dieser Glashütte wurde die Fabrik für Flaschenverschlüsse, die bis dahin Herr Genßler, wie ich schon erzählte, im Hinterhaus seines Grundstückes Schleusinger Straße 10 betrieb, angegliedert. Die Glashütte wurde ungefähr in den Jahren 1892/93 auf dem Gelände an der Häselriether Straße gebaut, ehe man an das Holzgeschäft von Mohr und Co. kommt.



Blick auf Häselriether Straße

Dieses Unternehmen brachte insofern einen Umschwung in das Geschäftsleben von Hildburghausen, als die Glashütte ja Facharbeiter brauchte, und die kamen in der Hauptsache aus dem Rheinland. Diese Arbeiter waren einen ganz anderen Lebensstil gewohnt als die bescheidenen Sachsen-Meininger. Sie verdienten gut, und sie waren auch durchaus bestrebt, ihren Verdienst wieder in Essen und Trinken umzusetzen. Das war verständlich, denn erstens war die Arbeit schwer, und zweitens brachte sie viele Gefahren für die Gesundheit mit sich. Die Arbeiter wollten daher das Leben genießen, so lange sie konnten. Das Sparen war ihre Sache nicht. Im Zusammenhang mit der Errichtung der Glashütte hörte ich zum ersten Mal in meinem Elternhaus mit harten Worten davon reden, dass es doch unverantwortlich wäre, was man den fremden Facharbeitern für kümmerliche Wohnungen gebaut habe, ohne Spielplatz, ohne Garten, ohne Grünanlage. Von da ab war mein Blick geschärft für diese Dinge, und ich sah die großen Fehler, die überall beim Bau von Wohnungen und Wohnvierteln gemacht wurden. Nun, nachdem die anspruchsvolleren Glasfacharbeiter nach Hildburghausen gekommen waren, konnten sich die Bäcker nicht mehr auf Dätscher und Mörbs beschränken. Jetzt wird immer feineres Kaffeegebäck hergestellt. Die Ansprüche stiegen. Die Metzger hatten es leicht, einer höheren Nachfrage gerecht zu werden, denn jeder von ihnen hatte Wagen und Pferde, mit denen er aufs Land fuhr und Rinder und Schweine nach seinem Belieben kaufte. Das Schlachten geschah schon damals zwangsmäßig im städtischen Schlachthaus. Mit der Gemüseversorgung sah es ganz windig aus. Aber man sah darin wohl keinen großen Schaden, denn die Vitamine und ihre Bedeutung für die menschliche Ernährung waren noch nicht entdeckt. Außer einem Rettich kannte man keine Rohkost. Es gab zunächst nur zwei Gemüsefrauen, das waren die „Hopfen“ und die „Bachen“.



Markttag in Hildburghausen

Im Sommer saßen sie auf dem Markt und verkauften auch ganz gut, aber im Winter schliefen ihre Geschäfte fast ein. Die Bachen hatte ihr Geschäft am Schlossberg, rechts unten an der Ecke. Kam man in den kleinen Flur hinein vor die verschlossene Ladentür, dann musste man erst gewaltig an einem Klingelzug ziehen. Auf das scheppernde Geräusch hin erschien oben an der Treppe die Bachen und fragte erst, was man wollte. Und das war gut so, denn meistens hatte sie es nicht. Das Geschäft versickerte im Winter bis auf Meerrettichstauden. So war man also schnell fertig, und sie brauchten nicht erst die Treppe herunter zu gehen. War im Sommer Hochsaison im Gemüseangebot, dann kam auch das „Bamberger Maijele“ – unter diesem Namen annoncierte sie auch in der Zeitung und überschwemmt uns mit dem Bamberger Gemüsesegen. Riesig war das Angebot zum großen Herbstmarkt. Da kamen viele Bamberger Gemüsehändler und die Krautberge türmten sich meterhoch auf. Die vorsichtige Hausfrau deckte sich da mit gelben Rüben, Schwarzwurzeln und so weiter ein und schlug das Gemüse im Keller im Sand ein. Viele Familien schnitten auch für den Hausbedarf Sauerkraut und legten es ein. Zwei oder drei lange Zwiebelringe wurden auch für den Wintervorrat erstanden. Hatte die Mutter bei der Bamberger Frau ihren Einkauf gemacht, dann bekam jedes Kind als Zugabe ein Stückchen „Süßholz“ geschenkt, das die Bamberger immer in dicken Ringen mitbrachten. Mir schmeckte es nicht so besonders, aber es gehörte nun einmal beim Herbstmarkt dazu. Und so kaute ich auch tüchtig auf dem holzigen Stückchen herum. Wer irgend konnte, legte sich auch im Herbst einen Vorrat an Äpfeln in den Keller, denn einen pfundweisen Verkauf von Obst gab es im Winter nicht.

Von den Kolonialwarenläden hatten Daniel in der Unteren Marktstraße und Weigell auf dem Markt das größte Angebot. Bei Weigells (Nordseite des Marktplatzes) wurden die Kolonialwaren am breiten Ladentisch in der Mitte verkauft. Der Ladentisch auf der linken Seite war mit einem großen Angebot von Zigarren und Tabakwaren aller Art bedeckt. Dort tätigten die Herren ihre Einkäufe. Auf dem Ladentisch zur rechten Hand waren Delikatessen ausgestellt. Hier war nun der Umschwung am besten zu bemerken. Außer dem täglichen Handkäs, entweder in runder oder in länglicher Form, kannten wir als besondere Leckerei nur Schweizer Käse. Jetzt tauchten nach und nach allerlei merkwürdige Käse mit fremdländischen Namen auf. Der Schinkenverkauf ging so gut, dass Weigells wohl jeden Tag einen ganzen, frisch gekochten Schinken aufschnitten. Der war aber saftig und troff richtig, nicht wie die papiertrockene Dauerware, die jetzt als gekochter Schinken verkauft wird. Ich muss aber gestehen, dass alle diese Herrlichkeiten, die es da gab, keine große Versuchung für uns bedeuteten. Wir lebten in bescheidenem Sachsen-Meiningen’schen Stil weiter. Außerdem wurde unsere Versorgung mit Käse und Bückling in meiner frühen Kindheit von der „Käs-Jule“ besorgt. Sie war die Frau des Dienstmanns Burkhardt und kam wöchentlich zweimal mit zwei Kisten unter dem Arm, gefolgt von ihrem unausstehlichen Dackel „Schnörrle“. Er war von den Bücklingsköpfen gemästet wie eine Walze und stürzte sich zum Ärger meiner Mutter trotzdem gleich über die Abfallschüssel und zerrte alles heraus. Aber der Käse, den die Jule gebracht hatte, war gut und die Bücklinge waren frisch.

Nun will ich noch einmal zurück zu Weigells Laden gehen. Über dem Ladentisch mit den Delikatessen war ein Wandbrett, auf dem standen Liköre und Schnäpse. Da kaufte man sich im Herbst eine Flasche Arrak, um an kalten Wintertagen den Tee damit zu würzen und damit gleichzeitig allen Erkältungen vorzubeugen. Man kaufte vielleicht auch mal einen Likör. Aber von dem riesigen Schnapskonsum, wie er heute üblich ist, war damals keine Rede. Neu war es uns, die wir doch gewohnt waren, mit unseren eingekellerten Kartoffeln hauszuhalten, bis es wieder neue gab, dass Weigells jetzt im Frühjahr die roten Malta-Kartoffeln verkauften. Auch dabei waren wohl die Glasbläser die besten Kunden. Ein ganz großes Geschäft machten Weigells im Frühjahr zur Spargelzeit. Da konnte man die Spargel in allen Sorten und in allen Preislagen haben. Außer diesen beiden Geschäften von Weigell und Daniel gab es noch viele, sehr viel kleinere Kolonialwarengeschäfte, die sich auf wenige Waren beschränkten. Sie wurde auch gut geführt und hatten damit ihr Auskommen. Von ihnen verdienen noch zwei ihrer Altertümlichkeit genannt zu werden. Das ist erstens das Geschäft von Dressel an der Marktecke, dem Rathaus gegenüber.

Rechts gegenüber Rathaus befindet sicht das Geschäftshaus Dressel.

Schön waren schon die beiden Ladentüren mit den halbrunden Abschlüssen oben. Ganz altertümlich war der Ladentisch, der noch in der Tischplatte die zwei Schlitze hatte, um das Geld hineinzuschieben, in den einen Schlitz die Münzen unter einer Mark, in den anderen Schlitz die größeren. Von Papiergeld wussten wir nichts. Über dem Ladentisch hing ein gewaltiger, schön ausgemalter Delfin, an dem an langen Bindfäden die Tüten hingen. Der Delfin trug die Jahreszahl 1807. An dem Geschäft haftete noch etwas sehr Schönes. Das war die Herstellung eines Kräuterbitters, der dort schon seit ewigen Zeiten nach einem Rezept, das sich immer von dem Vater auf den Sohn vererbte, destilliert wurde. Er schmeckte herrlich und die Literflasche kostete nur drei Mark. Es gibt viele Hildburghäuser, die mit Wehmut an den ausgezeichneten „Dreßels Kräuterbitter“ zurückdenken.



Reklame zum Dressel`s Kräuterbitter

Auch in dem Geschäft von Herrn Saalborn am Markt, jetzt zur Sparkasse gehörig, blieb alles beim Alten. Man sah immer Saalborns Glatzkopf am Stubenfenster neben dem Laden, denn zu tun hatte er wohl nicht viel. Er beobachtete mit Interesse die Geschehnisse auf dem Markt. Oder war es mehr Neugier als Interesse?



Eingang Sparkasse am Markt

Es wird von ihm eine Geschichte erzählt. Vor dem Rathaus fuhr einmal eine Kutsche mit einem Brautpaar vor, das zum Standesamt gehen wollte. Da er das Fenster nicht schnell genug aufbekam, sei er mit dem Kopf durch die Scheibe gefahren. Besagter Herr Saalborn hatte außerdem, und das war wohl sein Hauptgeschäft, einen Kohlenhandel. Mit dem Ausladen der Güter auf der Eisenbahn war man damals nicht so eilfertig wie heute, wo auch der Sonntag zum Werktag gemacht wird. Kurzum, die Kohlenwagen standen manchmal wohl länger auf dem Güterbahnhof. Herr Saalborn musste sich immer schwer ärgern, wenn er bemerkte, dass seine Kohlen immer weniger wurden. Zu erwischen war niemand, darum konnte er auch niemand direkt anschuldigen. So verfasste er folgendes anonyme „Eingesandt“ in die „Dorfzeitung“: „Es soll schon nicht mehr mit zum Ansehen sein, wie von Kindern von Leuten von Wallrabs von den Kohlen vom Bahnhof gestohlen wird.“

Wie war nun die Versorgung mit Textilien? Ich erwähnte schon das Geschäft von Dittelbach am Salzmarkt, das zuerst den Verkauf von fertiger Kleidung betrieb. Gute Stoffgeschäfte waren Eichlam am Markt (später Pulver, dann Härter) und Hohnbaum, Ecke Markt zum Schlossplatz.

Ecke Markt zum Schloßplatz


Sie führten gute Ware. Wollte man aber etwas Besonderes haben, dann ließ man sich bei Hohnbaum das Musterbuch von der Firma Steckner-Leipzig geben. Dann traf man seine Entscheidung nach den eingeklebten Mustern, die ungefähr die Größe von 4 x 8 Zentimetern hatten. Zwei Juden, Walther, hinter dem Rathaus, und Simon, Ecke Untere Marktstraße/Stallbrunnen, hatten auch gut gehende Stoffgeschäfte. Außerdem gab es noch eine Reihe von hausierenden Juden, die mit Stoffen von Haus zu Haus gingen. Das Angebot war also groß.

Spielwaren gab es in zwei Geschäften, nämlich bei Lorbach und bei Friedrich. Beide Läden führten außerdem Messer, Scheren und Galanteriewaren. Unter der letzteren Bezeichnung verstand man schön verschnörkelte Gegenstände, die man als Geburtstags- und Hochzeitsgeschenke kaufte. Sie gehörten in der Hauptsache unter die später mit Recht so verachteten „Hausgräuel“. Für die beiden Spielwarengeschäfte hatte das „Kreisblatt“ je ein Klischee für die Weihnachtszeit. Wir warteten als Kinder immer sehnlich auf den Tag, an dem zum ersten Mal das Füllhorn, aus dem sich die Spielwaren für das Geschäft von Lorbach und das Kasperle-Theater für das Geschäft von Friedrich ergossen, erschien. Dann wussten wir: Nun ist Weihnachten nicht mehr weit! 


Rechts Geschäftshaus Amberg


Von dem Geschäft von Amberg (heute: Apotheke am Markt von Walter Luft), das dann später beherrschend wurde für Stoffe, Konfektion und alle Dinge, die zu einem Textilkaufhaus gehören, habe ich nicht gesprochen, weil der alte Amberg, der Großvater des jetzigen, damals in der Hauptsache nur Kurzwaren verkaufte, auch schon in bedeutender Auswahl, aber doch auf die unterste Etage beschränkt. Es gab auch verschiedene Schuhgeschäfte. Vor allem gab es mehr wirkliche Schuhmacher, weil man sich öfters auch Schuhe „nach Maß“ machen ließ. Die Schuhe wurden auch viel länger ausgebessert. War der Stiefel noch einigermaßen stabil, dann wurden neue Vorderblätter eingearbeitet. So langlebig sind unsere heutigen Schuhe nicht mehr.

Ich habe bisher nicht von der Belieferung mit Milch, Butter und Eiern gesprochen, weil diese Dinge überhaupt in keinem Ladengeschäft zu haben waren. Die ganze Milchversorgung der Stadt besorgte das Rittergut Heßberg. Früh morgens fuhren, ich weiß nicht wie viele kleine Wagen, weiß gestrichen, mit Blau abgesetzt einem Pony bespannt, zur Stadt. Auf dem Bock ein Kutscher und ein Milchmädchen. Diese fleißigen, flinken Mädchen liefen nun mit ihren Kannen, auch Kindermilch in Flaschen gab es, treppauf, treppab und versorgten jedermann mit der gewünschten Milchmenge. Der Kutscher tätigte unterdessen auch noch den Verkauf am Wagen. Ja, so bequem hatten wir es früher! Zweimal in der Woche kamen die Wagen auch noch nachmittags angefahren und verkauften Mager- und Buttermilch.

Und Butter und Eier? Die kaufte man nur beim Hersteller. Jeden Sonnabend war großer Markt, am Mittwoch kleiner. Die städtischen Arbeiter stellten an diesen Tagen drei bis vier Reihen niedriger Bänke auf den Markt, vom Rathaus bis zur Apothekergasse. Der Marktbrunnen war zu jener Zeit noch nicht an dieser Stelle, sondern auf der anderen Marktseite, ungefähr vor Weidmanns Haus. Auf diesen Bänken nahmen nun die von allen Dörfern hereinströmenden Bauernfrauen Platz und stellten ihren Tragkorb vor sich hin. Es entstand nun eine Art Börse, denn der Butterpreis war schwankend, er richtete sich nach Angebot und Nachfrage, nach dem wahrscheinlichen Bedarf, wenn zum Beispiel ein Fest bevorstand. Oder wenn ein sehr heißer Tag war, dann waren die Bauersfrauen daran interessiert, sehr schnell zu verkaufen, ehe die Butter zerlief. Und wer weiß, was sonst noch für Gründe für den Marktpreis ins Gewicht fiel. Wie es nun zur Bestimmung eines Festpreises kam, ist mir genau so schleierhaft wie das Gebaren der Händler auf der großen Börse in Hamburg, wo ich auch zugesehen habe. Sie schrien alle durcheinander und aus dem Geschrei war plötzlich der Welthandelspreis geworden. Von unserem Hildburghäuser Buttermarkt hieß es immer, dass für die Preisbildung die Frau vom Judenlehrer Mühlfelder das ausschlaggebende Moment gewesen sei. Meine Mutter hatte aber mit diesem aufregenden Buttermarkt nichts zu tun, denn wir hatten, wie so viele andere Familien, unsere ständige Butterfrau, die zu uns ins Haus kam. In meiner Kinderzeit waren diese Frau Wilhelm aus Pfersdorf und Frau Wittenbeck aus Zeilfeld. Wir mussten natürlich immer 5 Pfennig über den Marktpreis zahlen, hatten aber eben die Annehmlichkeit, dass uns Butter und Eier ins Haus gebracht wurden. Die Eier wurden, um sie vor dem Zerbrechen zu schützen, in alte, schwarzwollene Kopftücher verstaut, die Butter lag in einer weißen Serviette. Im Sommer war jedes Pfund in ein frisches, sauberes Meerrettichblatt eingeschlagen. Die Butter wurde nicht in fertige Model gedrückt, sondern in längliche Walzen geformt, die sich oben und unten zuspitzten. Obenauf wurden kleine Muster gedrückt, die man in eine rohe Kartoffel einschnitt und diese dann als Musterstempel benutzte. Die Butter war selbstverständlich nicht von künstlich gesäuertem Süßrahm gemacht, wie die Molkerei-Butter, sondern aus saurem Rahm. Sie schmeckte sehr gut, hielt sich aber nicht so lange. In der zweiten Hälfte der Woche verlor sie schon an Geschmack. Im Herbst setzte dann noch ein schwunghafter Handel mit Gänsen ein, die hier massenhaft verzehrt wurden, schon, weil sie so gut zu Rohen Klößen schmecken. Der Preis des Gänsefleisches hatte immer die gleiche Höhe wie der des Schweinefleisches.


Da ich einmal vom Geschäftsleben erzähle, muss ich doch auch erwähnen, dass es bis 1898, und das ist ja gerade der Zeitraum, bis zu dem meine Schilderungen reichen, dass es nämlich bis dahin keine Regelung über die Verkaufszeiten gab. Ein Laden musste eben eigentlich immer zum Verkauf bereit sein. Frühmorgens, wenn das Leben der Stadt erwachte, dann machte auch der Geschäftsmann seinen Laden auf. Eine Mittagsruhe gab es nicht. Und abends ging die Ladenglocke auch bis in die Nacht hinein. Das war nur dadurch einigermaßen erträglich, dass die Kolonialwarenhändler meistens neben dem Laden eine Wohnstube hatten, von der aus dann die Kunden ohne allzu große Mühe bemerkt und bedient werden konnten. Am Sonntag waren die Läden bis 11 Uhr geschlossen, aber nach Kirchenschluss machten sie doch wieder auf, Und einen behördlich genehmigten Urlaub mit völligem Ladenschluss kannte man überhaupt nicht. Das kam erst viel später. Allerdings waren die Menschen damals nicht abgehetzt und die Nerven hielten ohne weiteres für ein ganzes Menschenleben aus. Auch war das „Verreisen“ noch nicht so in Mode gekommen, aber eine Freizeit wäre den Händlern doch sehr zu gönnen gewesen. Die Verbesserung begann damit, dass der Sonntagsverkauf auf die Zeit von 11 bis 1 Uhr beschränkt wurde, dass der Ladenschluss zunächst auf 8, dann auf 7 Uhr abends festgesetzt wurde. So sind wir langsam auf den heutigen Stand gekommen. Die Bäcker haben damals natürlich am Sonntagmorgen auch frische Brötchen geliefert.




Geschäftshäuser am Markt.

Auf die vielen Gasthäuser, die es hier gab, will ich nicht weiter eingehen. Sie waren kaum zu zählen. In den Kneipen wurde fast nur Bier getrunken, Wein eigentlich gar nicht. Aber ein Korn oder ein Kräuterbitter waren natürlich auch in Bereitschaft. Es gab nur eine Weinstube, das war Harras am Markt, jetzt auch zur Sparkasse gehörig (heute ein asiatischer Imbissladen). Ich glaube nicht, dass Herr Harras mit diesem Betrieb Seide gesponnen hat. Seine Schwestern hatten nebenan ein Weißwarenlädchen, wo man die Straminsticktücher für den Handarbeitsunterricht in der Schule kaufte. Vielleicht haben sie den Bruder miternährt. Konditor Jordan, in der Marktecke zwischen „Garküche“ und dem Geschäft von Popp (später „Café Funk“, heute: Stadtcafé von Familie Hanusch) hatte einen Konditorladen auch ein paar kleine Marmortischchen stehen und schenkte auch Schoppenweine aus.


Café Funk

Dort versammelte sich nun immer sonntags ein kleiner Stammtisch zu einem Frühschoppen. Jeder der Herren hatte seine Eigenart und sein besonderes Gelüstchen. Herr Kieser trank gerne ein gutes Tröpfchen und bestellte sich einen Schoppen zu 50 Pfennig. Herr von Ried trank einen Schoppen zu 40 Pfennig, den er immer sehr rühmte. Und Herr von Stocmeyer schwor auf seinen Schoppen zu 35 Pfennig. Natürlich bediente Herr Jordan diese illustren Gäste immer selber und ging um jeden Schoppen extra in den Keller. Herr Konditor Funk, der bei ihm gelernt hatte und nun schon lange selbstständig im ganzen Betrieb arbeitete, durfte Herrn Jordan diese Arbeit nicht abnehmen. Eines Tages aber konnte Herr Jordan das Geschäft doch nicht mehr ausführen. Er wurde älter und die Beine versagten manchmal schon den Dienst. Da zog er seinen Gesellen, Herrn Funk, der ohnehin einmal das Geschäft übernehmen sollte, ins Vertrauen und führte ihn in den fast verschlossenen Weinkeller. Da lag ein einziges Fass, auf dem war auf der Stirnseite ein Zettel angeheftet, auf dem handschriftlich von Herrn Jordan vermerkt war: 

            Ein Schoppen zu 50
            ein Schoppen zu 40
            ein Schoppen zu 35
            - je nachdem -

Es bedurfte keiner weiteren Erläuterung, und der Geselle Funk wusste Bescheid.
Wie war es denn in meiner Kinderzeit mit der Straßenbeleuchtung in Hildburghausen bestellt? Wir hatten Gasbeleuchtung. Das Gas wurde in der Städtischen Gasanstalt an der Coburger Straße aus Kohle hergestellt. Die Gaslampen auf der Straße waren zum größten Teil mit arabeskenhaft verschnörkelten, gusseisernen Armen an den Hauswänden angebracht. Manche standen auf gusseisernen Pfosten. Einer davon ist vor meinem Garten auf der Allee stehen geblieben. Glühstrümpfe gab es damals noch nicht. Es waren also Spaltbrenner, die immer mit zischendem Geräusch brennen. Das Anbrennen der Lampen besorgte die Familie Krämer. Vater, Mutter und so viele von den Kindern, als zu diesem Geschäft schon zu brauchen waren, zogen, wenn es dämmrig wurde, mit langen Stangen aus, an denen vorne ein Spirituslämpchen mit röhrenartigem Ende angebracht war. Zuerst stießen sie mit einem Haken, der ebenfalls an der Stange war, den Gashahn oben an der Lampe auf. Dann steckten sie das röhrenförmige Ende des Lämpchens in die Gaslampe hinein und schon leuchtete es hell auf. Im Schnellschritt oder leichten Trab ging es so von Lampe zu Lampe. Abends um 10 Uhr zog die Familie aufs Neue aus. Nun wurde mit einem Ruck der Gashahn wieder runter gedrückt, und finster ward es auf der Erde. Die Krämers waren eine musikalische Familie. Wenn sie abends zum Anzünden hinter der Neustädter Kirche, wo sie wohnten, hervor kamen, dann pfiffen sie oft herrlich zweistimmige Lieder vor sich hin. Warum pfeift heute niemand mehr? Wie oft wurde früher das Straßenbild lebendig gemacht durch einen Jungen, der fröhlich beim Gehen pfiff.

Wenn ich mir nun überlege, was denn damals noch zum Straßenbild gehörte, so fällt mir das Wassertragen ein. In meiner Kinderzeit gab es nämlich noch keine Wasserleitung in den Häusern. Da musste alles Wasser von den Brunnen geholt werden. Wir hatten viele Brunnen in der Stadt, einfache und auch recht kunstvolle. Und es ist ein rechter Jammer, dass man diese ganze Brunnenleitung verkommen ließ. Ich will jetzt aber nur von dem Brunnen erzählen, der an unserem Haus auf der Georgstraßenseite direkt an unserer Waschhaustür stand. Im Volksmund hieß er noch der „Traubenbrunnen“, weil unser Haus auch eine Zeit lang ein Gasthaus war und den Namen „Zur goldenen Traube“ führte. Der Brunnen bestand aus einem rechteckigen Sandsteinbecken, rechts und links waren Steinsäulen angebracht, die gerade die richtige Höhe hatten, um die Butte darauf abzustellen. Der Wassereinlauf war auf unserer Hausseite. Unter dem Einlauf waren zwei Eisenschienen, damit man seinen Kübel oder Eimer unterstellen konnte. Es wurde nun mit dem hölzernen Kübel die Butte nach und nach gefüllt. Danach wurde der hölzerne Kübel umgestürzt auf die Butte gelegt, wobei das Ohr des Kübels genau in eine in die Butte eingeschnittene Öffnung passte. Jetzt kam die große Kunst, eine solche gefüllte Butte mit den Traggurten auf dem Rücken zu tragen. Dazu gehörte ein ganz rhythmischer, leicht wiegender Gang, wobei die Arme unter der Brust zusammengelegt wurden. Machte man einen Schritt gegen den Takt, dann bekam man gleich einen gewaltigen Schwupp Wasser in den Nacken, denn der darauf gelegte Kübel hielt das wippende Wasser doch nur schwach ab. Das war eine beschwerliche Arbeit. Dabei musste der Gang zum Brunnen zwei- bis dreimal gemacht werden, bis der Wasserständer, der in jeder Küche stand, gefüllt war. Für unser Haus war es ja günstig, dass man durchs Waschhaus und über den Hof gehen musste, um ins Haus zu kommen. Aber wie weit hatten manche Menschen zum Brunnen zu laufen! Nun wollen wir aber nicht nur die schwere Seite der Sache betrachten, denn mit dem Wasserholen war auch manches Vergnügen verbunden. Zunächst gab es ein Ausruhen, denn man musste doch warten, bis zwei oder drei Vordermänner oder -frauen ihre Butten gefüllt hatten. Es ging natürlich genau nach der Reihe. Dabei ging es am Brunnen lustig zu. Es wurde ein wenig geklatscht. Es wurde gelacht, und man machte Späße. Dazu trugen die Offiziersburschen der Hauptmannswohnung in der Apotheke viel bei. Goethe, der große Menschenkenner, hat nicht von ungefähr eine Szene im „Faust“ an den Brunnen verlegt. Ich erinnere mich aber auch an einen Winter, in dem unser Brunnen ganz einfror. Es wird wohl der Winter 91 auf 92 gewesen sein, der, wenn ich mich recht erinnere, besonders streng war. Nun mussten die Mädchen mit den Butten an den Bauhofsbrunnen neben der katholischen Kirche. Der lief noch. Als dann gegen Ostern unser Brunnen plötzlich wieder lief, da schmückten die Mädchen den Brunnen mit einem Tannenbäumchen, das sie mit bunten, ausgeblasenen Eiern behängten.

Was hatten wir denn für Feste in unserer Kinderzeit? Da muss ich an erster Stelle das Sedanfest nennen. Dafür fühlten wir eine besondere Bindung, weil sich der feierliche Akt doch an „unserem“ Denkmal, am Kriegerdenkmal neben unserem Haus abspielte.

Stadtmauer und Kriegerdenkmal



Kriegerdenkmal


Stadtmauer, Kriegerdenkmal und rechts Pusch`ses Haus

Schon am Abend zuvor warteten wir voller Spannung auf den Augenblick, wenn die Familie Lipfert kommen würde, um das Denkmal zu schmücken. Es hieß, die Familie Lipfert, die an der Schleusinger Straße wohnte, habe dieses Vorrecht, weil Herr Lipfert ein Veteran von 1870/71 sei. In meiner Kinderzeit war das Denkmal nicht von dem heutigen Holzzaun umfriedet, der ewig kaputt ist, sondern von einem soliden Eisenzaun. Er umschloss allerdings nur ein kleineres Areal, als es heute der Fall ist. Und rechts und links vom Denkmal stand je eine Kanone, die im siebziger Jahr den Franzosen abgenommen worden waren. Es waren Kanonen einfachster Konstruktion. Das Kanonenrohr lag auf einer hölzernen Lafette mit großen, eisenbeschlagenen Holzrädern. Das Denkmal, die Kanonen und sogar das Wort Veteran erfüllte uns mit einem gewissen ehrfurchtsvollen Schauer. Trotzdem spielten wir viel um das Denkmal herum und fuhren im Winter mit unserem Böckchen den kleinen Abhang zur Allee hinunter. Es wäre wohl auch den wildesten Jungen nicht eingefallen, über den Eisenzaun, der keineswegs unüberwindlich war, hinwegzusetzen und im inneren Denkmalbereich herumzulaufen. Wie schwer haben es darum heute alle Erzieher, weil es nichts mehr gibt, was man den Kindern als verehrungswürdig, als unantastbar, als heilig hinstellen kann. Für uns Kinder war es deshalb ein Ereignis, wenn am Abend vor dem Sedanfest die Lipferts kamen und die beiden Türen des Eisenzaunes öffneten. Sie brachten eine von Hölperleskraut und Astern gebundene Krone mit. Sie hatten auch eine kleine Leiter dabei, mit deren Hilfe sie den in der Mitte befindlichen Obelisk aus geschliffenem Granit bestiegen und dann auf die pyramidenförmige Spitze des Obelisken den Kranz als Krone aufsetzten. Von der Spitze wurden vier Girlanden, ebenfalls aus Hölperleskraut und Astern zusammen gebunden, zu den vier Pfosten des eisernen Geländers gespannt, die dann auf dem Holm des Geländers rings um das Denkmal liefen. Die Stufen rings um den Obelisken wurden mit grünem Reisig belegt. Rechts und links an den Lafetten wurden Tannenbäumchen befestigt. Die Kanonenrohre bekamen einen großen bunten Strauß ins Maul. In die Mitte ans Geländer kam ein Rednerpult, auch von Tannenbäumchen flankiert. Gewiss ein einfacher Schmuck, aber wir fanden ihn wunderbar! Abends war dann noch „Zapfenstreich“. Da marschierte die Militärmusik mit der zum Zapfenstreich gehörigen Marschmusik durch alle Straßen. Morgens zog die Militärmusik wieder durch die Stadt, diesmal aber mit der „Reveille“ (Weckruf, ein Hornsignal). Mittags war ein Festzug mit Militärmusik, dem Kriegerverein, der Garnison und allen Schulkindern. Die Mädchen hatten Kränzchen im Haar, die, der Jahreszeit angepasst, von Buchsbaum und Zwergastern gebunden waren. Dazu trug man „offene“ Haare. Manche hatten sich dazu die Haare am Abend zuvor mit Zuckerwasser in enge Zöpfchen flechten lassen, sodass nun die Haare wie eine Gloriole um den Kopf standen. Waren wir am Denkmal angekommen, dann mussten wir erst eine Ansprache vom Kirchenrat Human über uns ergehen lassen, die nicht nur wir Kinder nicht verstanden, sondern die, bei dem komischen Vortrag von Human, auch den Erwachsenen unverständlich blieb. Und dann mussten wir Mädchen alle im Zuge vor dem Denkmal vorbei marschieren und den Strauß, den wir in der Hand hielten, auf den Stufen niederlegen. Als ich das erste Mal im Zuge dabei war, hatte ich im Eifer des Gefechts meinen Strauß schon vorzeitig im hohen auf das Denkmal geworfen. Aber Herr Seminarlehrer Reinhard erbarmte sich meiner, angelte den Strauß wieder heraus und gab ihn mir wieder zurück, sodass ich ihn ordnungsgemäß niederlegen konnte. Von der Schule aus hatte dann jedes Kind eine Freimarke für eine Bratwurst und ein Glas Bier oder Limonade bekommen, die man auf dem Schützenhof umsetzte. Wahrscheinlich wurden dann Spiele gespielt, aber daran erinnere ich mich nicht mehr. 

Bei den Worten Zapfenstreich und Reveille denke ich nun an Kaiser Geburtstag am 27. Januar, denn der wurde natürlich auch mit Zapfenstreich am Abend vorher und Reveille am Morgen des Geburtstages begonnen. Um ½ 10 Uhr ging es zur Kirche, um 11 Uhr war Parade auf dem Exerzierplatz hinten im Irrgarten, da, wo jetzt Rasen und Blumenanlagen sind. Bei der Parade waren auch alle Reserveoffiziere dabei. Es war eine feine Sache, wenn alles schön zackig klappte. Offiziere, Reserveoffiziere und Honoratioren fanden sich dann zu einem Essen, das man Liebesmahl nannte, im Offizierskasino im Schloss zusammen, wo sich mancher brave Mann zu Ehren seines Kaisers ein Räuschchen holte. Die Hauptfeier kam aber dann abends. Da hatte jede Kompanie ihr eigenes Fest, und zwar eine im „Schützenhof“, eine in der „Bucht (später: Kino „Capitol“), eine im „Tivoli (später Firma „Kuss & Co“, Ecke Winzergasse) und eine in der „Stumpfenburg“.

Gasthaus "Zur guten Quelle" (Bucht)

Gaststätte Tivoli

Da muss es oft sehr nette Aufführungen gegeben haben, denn jede Kompanie hatte doch irgendwelche begabte Menschen, die dann Theater spielten oder sonstige Scherze machten. Und dann wurde getanzt bis zur Bewusstlosigkeit, denn an dem Tag gab es keinen Zapfenstreich, der sonst die Soldaten zur bestimmten Zeit in die Kaserne zurückrief. Der Geburtstag unseres Herzogs Georg II. am 2. April wurde in ähnlicher Weise gefeiert.

Jetzt muss ich etwas weit ausholen, um noch einen Eindruck zu schildern, der mir aus meiner Kinderzeit haften geblieben ist. Ich erwähnte schon den Kirchenrat Human, ein grundgelehrtes Haus, der sich durch die Abfassung einer Chronik von Hildburghausen und vieler anderer Schriften, die sich mit der Stadtgeschichte befassen, ein großes Verdienst erworben hat. Er war ein Original, dem der Beifall oder das Missfallen der Masse gänzlich gleichgültig war. Er hatte sich eine so komische Sprechweise angewöhnt, dass er kaum zu verstehen war. Aber er hatte ein warmes Herz fürs Volk, und er half vielen in der Not. Besonders anzuerkennen ist es, dass er sich zu einer Zeit, wo solche Bestrebungen noch gar nicht „Mode“ waren, um die Jugend kümmerte. Er gründete einen Jünglingsverein, der natürlich auf kirchlicher Grundlage aufgebaut war, der aber den jungen Leuten so viel gab, dass viele von ihnen ihrem Human das ganze Leben lang dankbar blieben für die Förderung, die er ihnen auf geistigem Gebiete gegeben hatte. Mit diesem Jünglingsverein hatte es Human unternommen, Theater spielen zu lassen, und zwar hatten sie „Wilhelm Tell“ von Schiller aufs Programm gesetzt. Das war ein gewagtes Unternehmen, aber Human hatte unter seinen jungen Leuten wirklich ganz vorzügliche Darsteller für die Rollen gefunden. Ich war glühend vor Erregung, als ich zur Aufführung des „Wilhelm Tell“ mit meiner Mutter in drangvoller Enge im Kaisersaal saß. Ich glaube, dass wir von 7 Uhr abends bis Mitternacht gesessen haben, denn bei Liebhaberbühnen dauert ja der Szenenwechsel schon so lange. Aber die Zeit wurde mir nicht lang. Ich war von dem Stück ganz hingerissen. Ich habe den Tell noch oft gesehen, aber ich meine immer. So eine gute Tellfigur, wie sie der Trimperts Louis spielte, habe ich nie wieder erlebt. Auch der Sohn vom Schneider Gunzenheimer gab einen herrlichen Stauffacher. Da er schreckliche O-Beine hatte, so war es mir immer bei späteren Aufführungen, als fehlte etwas, als wäre mit dem Stauffacher etwas nicht in Ordnung, denn die O-Beine gehörten bei mir eben immer zur Figur. Die Armgard war eine wirkliche tragische Figur, und die Bäcker Hochreins Tochter als Bertha von Bruneck erschien mir großartig. Die Tell-Kinder waren einfach entzückend, es waren Schuster Schmidts Kinder aus dem Spittelbach.

Human hatte auch ein Luther- und ein Melanchthonspiel gebracht. Wenn beide auch schön waren, besonders der Melanchthon war rührend (es war der Bruder von Albert Fischer aus dem Rathaus), so haben mich diese beiden Aufführungen doch nicht so ergriffen wie die Tellaufführung.

Was gab es denn nun zu sehen im alten Hildburghausen? Ja, da müsst ihr mit uns gehen, als mein Vater mich an einem wunderschönen Vorfrühlingstag an der Hand nahm und sagte: „Komm Else, wir wollen auf den Flößplatz, das Holz ist da.“ Wer weiß heute noch, wo der Flößplatz war? Wir gingen also die Heßberger Straße hinaus bis zu dem Haus an der tiefsten Stelle der Straße. Da, wo früher Gärtner Albrecht seine Gärtnerei betrieb und wo sich heute die Gärtnerei der Irrenanstalt befindet. Zwischen diesem Haus und dem sogenannten Trockenbach ging ein Fahrweg zur Werra hinunter. Es war der alte Verbindungsweg von Birkenfeld zur Wiedersbacher Straße. Der Gärtnereizaun umschloss damals das Gelände, das nur halb so groß war wie die heutige Gärtnerei. Der freie Platz bis zur Werra hinunter war der Flößplatz. In dem kleinen roten Häuschen, das heute noch bei dem Brückenübergang steht, wohnte der Floßknecht Knauer, der Vater des späteren Ofensetzermeisters Knauer. Als mein Vater und ich dort ankamen, war ein reges Treiben. Im Wasser schwammen die großen Scheite, die vom Thüringer Wald herunter geschwommen kamen. Eifrig waren Männer mit langen Stangen, an denen Haken befestigt waren, dabei, die Scheite anzuschlagen und heraus zu ziehen. Andere Männer waren damit beschäftigt, die Holzscheite aufzumetern. Lange Reihen waren schon aufgemetert und dampften in der Sonne. Uns führte noch ein ganz persönliches Interesse dorthin, denn mein Vater bekam damals noch – wie alle meiningen’schen Beamten sein Deputatholz. Wenn ich mich recht erinnere, dann waren es 8 Kubikmeter von diesem Flößholz. Da wir aber im Haus schon modern eingerichtet waren und Dauerbrandöfen für Kohle hatten, gab es bei uns gar keine Verwendung für diese Holzmengen. Aber dafür war schnell Rat geschaffen, denn für das Holz gab es Liebhaber genug. Mein Vater schloss gleich auf dem Flößplatz einen Verkauf ab. Und da waren auch gleich Fuhrleute bereit, die den Transport besorgten. Ich glaube aber, dass die Flößerei höchstens bis 1896 dauerte. Die Beamten bekamen dann an Stelle des Flößholzes eine Abfindungssumme. In späteren Jahren, als wir mit den Eltern eine Wanderung über den Thüringer Wald machten, zeigte uns Vater noch den alten Flößteich in halber Höhe des Saargrundes. Dort wurde im Frühjahr das Schmelzwasser aufgespeichert. Wenn schöne Märztage kamen, dann wurde das im Winter mit Schlitten entlang des Werralaufes angefahrene Holz zu Wasser gebracht. Nun öffnete der Flößteich seine Schleusen und brachte das Holz in schnelle Fahrt. In jedem Ort waren bestellte Floßknechte, die den Werralauf abgehen mussten und aufpassten, dass das Holz nicht an Erlenstämmen oder sonstigen Hindernissen hängen blieb.

Da wir einmal an der Werra sind, machen wir vielleicht gleich einen Gang bis Birkenfeld hinauf, um nach den verschiedenen Badeanstalten zu sehen. In meiner Kindheit hatten wir noch nicht ein so herrliches Schwimmbad mit olympischen Maßen und mit Sprungturm versehen. Wer baden wollte, dem stand eben nur die Werra zur Verfügung. Aber so schmutzig wie heute war damals die Werra nicht. Sie erwärmte sich aber sehr schwer, weil sie fast in ihrem ganzen Lauf von buschigen Erlen umstanden ist. Aber uns machte die Kälte nichts aus, wir waren es halt gewöhnt. Haben wir das Brückchen über den Mühlgraben der Walkmühle überschritten und sind ein Stückchen den Birkenfelder Kirchweg gegangen, da kommt schon wieder eine Brücke über die Werra. Und da war linker Hand das Aktienbad. Es war gegründet und errichtet durch eine Geldeinlage verschiedener Hildburghäuser, die nun als „Aktionäre“ dort frei baden konnten. Wer nicht zur Familie eines Aktionärs gehörte, der musste sich für die Sommersaison eine Badekarte lösen. Mein Vater war Aktionär, hatte aber, glaube ich, die Aktie schon von seinem Schwiegervater, dem Sanitätsrat Friedrich Hermann Knopf geerbt. Mein Vater war lange Jahre auch Vorstand des Aktienbades. Die Werra, die wir eben schon überschritten, floss in einem Bogen weiter nach rechts. In diesem Bogen waren nun gleich zwei Bäder, erst das Soldatenbad, und ein Stück weiter, in der sogenannten „Klä’ Werr’“, das Bürgerschulbad. Ging man nun den Kirchweg weiter, und es war drüben im Soldatenbad großer Betrieb mit Baden und Schwimmunterricht, dann verlangte es der gute Ton, dass wir mit abgewandtem Gesicht vorbeigingen. Erwachsene mussten ihren Sonnenschirm so halten, dass das Soldatenbad verdeckt war. Du meine Güte, wie einfältig war man doch damals! Aber, wenn man ein Bild der vergangenen Zeiten entwerfen will, darf man so etwas ja auch nicht verschweigen. Linker Hand von dem Birkenfelder Kirchenweg waren nun noch zwei Badeanstalten, ehe man an die Ebenrettersmühle kam.



Ebenrettersmühle

Da war das Technikerbad. Es gehörte der Verbindung „Volta“. Die Fahne mit den Verbindungsfarben der Volta wehte am Fahnenmast. Etwas weiter oberhalb war das Bad für die Gymnasiasten und Seminaristen Da wurde im Sommer an Stelle des Turnunterrichts bei gutem Wetter Schwimmunterricht erteilt. 

In der Ebenrettersmühle selbst war das Bad für Frauen und Mädchen. Fräulein Rühl, eine Tochter des Besitzers der Ebenrettersmühle, gab Schwimmunterricht. Wie primitiv die ganze Anlage war, kann ich überhaupt nicht beschreiben. Aber wir fanden nichts dabei. Wir hatten ja auch keine Vergleichsmöglichkeiten. Wir können Fräulein Rühl heute noch dankbar sein, dass uns durch ihre Einrichtung wenigstens die Möglichkeit gegeben wurde, das Schwimmen zu erlernen. Unser Bad war aber noch nicht das letzte in der Reihe, denn kurz vor Birkenfeld war noch ein Technikerbad. Ich meine, es gehörte der Technikerverbindung „Rhenania“.

Zum Schluss will ich auch noch sagen, warum ich meine Schilderungen gerade bis zum Jahr 1898 befristet habe. 1898/99 sind nämlich die Jahre, in denen die Stadt mit einer Hochdruckwasserleitung ausgestattet wurde und in denen ein Kanalisationsnetz ausgebaut wurde. Damit wachte Hildburghausen doch ein wenig aus seinem Dornröschenschlaf auf und gewann so langsam „Weltniveau“. Wenigstens bildeten wir uns das ein!

Eine Frage habe ich nun noch gar nicht aufgeworfen. Sicher wird man auch wissen wollen, welche geistigen Genüsse und Anregungen denn uns Hildburghäusern geboten wurden. In diesem Falle möchte ich aber den Rahmen meiner Betrachtungen über die Jahrhundertwende hinaus führen, denn in geistigen und vergnüglichen Dingen wurde auch nach dem Bau einer Wasserleitung und einer Kanalisation und auch nach der Jahrhundertwende in demselben Stil gelebt und genossen wie vorher, bis uns der Kriegsbeginn 1914 jäh aus der gewohnten Bahn riss. Ich fange wohl bei dem Bedeutendsten an, das uns geboten wurde, nämlich beim Theater. Es ist wohl allgemein bekannt, dass unser Theatergebäude von unserem zweiten Herzog Ernst Friedrich I. im Jahr 1721 gebaut wurde, und zwar diente es sportlichen Zwecken. Es war als Ballhaus gebaut, das heißt, es wurde darin das „Jeu de Paume“ gespielt, ein Art Tennis.

Ernst Friedrich III. Carl baute es dann als Theater um, und es hat bei der Verschwendungssucht des Herzogs glanzvolle Aufführungen erlebt, an denen unentgeltlich auch die Bürger der Stadt teilnehmen konnten. Nach der Herzogszeit spielten oft wandernde Truppen hier, aber das Theater geriet dann doch sehr in Verfall. Man ging 1890 an eine gründliche Restaurierung, zu der auch der Herzog von Meiningen beitrug. 1891 wurde das Theater im Beisein des Herzogs und seiner Frau, Baronin von Heldburg, neu eröffnet. Es spielten die in ganz Europa berühmten „Meininger“. Die „Minna von Barnhelm“ wurde aufgeführt.

Damit fing eine wirklich beglückende Ära für Hildburghausen an, denn von da ab kamen die Meininger im Winter jeden zweiten Dienstag hierher und boten uns ihre vorzüglichen Aufführungen. Außer den zwölf Abonnementsvorstellungen gab es noch drei bis vier Sondervorstellungen. Das Theater war ohne Ausnahme ausverkauft.



Theater

Es wurden aber damals hinter den Sitzplätzen des zweiten Ranges Galeriestehplätze verkauft, die von unseren Dienstmädchen fleißig benutzt wurden. Und der freie Raum rechts und links von den Sitzreihen des Parketts waren „Schülerstehplätze“, in denen Gymnasiasten und Seminaristen meist so gedrängt standen, dass kein Apfel zur Erde fallen konnte. Mein Bruder Hermann hat aber gesagt, dass er später den Theatervorstellungen nie wieder mit solchem Genuss und mit solcher innerer Anteilnahme gefolgt sei, als damals in dieser drangvollen Enge. Dabei hat sich wahrscheinlich das Fluidum der Begeisterung von einem Jüngling auf den anderen übertragen. Ob damals Lehrlinge diese Aufführungen, die ihnen auf der Galerie oder im Parkettstehplatz auch möglich und zugänglich waren, aufsuchten, weiß ich nicht. Vielleicht fehlte ihnen der Anstoß. Es werden aber sicher die Mitglieder des Human’schen Jünglingsvereins das Theater besucht haben, sonst hätten sie nicht selber mit solcher Gewandtheit Theater spielen können.

Den gleichen Genuss wie das Meininger Theater bot uns die Meininger Hofkapelle, die unter dem Dirigenten Fritz Steinbach, und vor ihm unter Hans von Bülow ebensolchen Ruhm erlangt hatte, wie das Theater. Die Hofkapelle des Theaterherzogs Georg II. war auch in ganz Europa durch Gastspiele bekannt. Die Ensembles von Theater und Kapelle wirkten daher auf alle begabten jungen Künstler wie Magneten. Und in Meiningen drängelten sich die Schauspieler und Musiker, um in diesen berühmten Spiel- und Klangkörpern mitwirken zu dürfen. In Hildburghausen gab die Hofkapelle im Winter sechs hervorragende Abonnementskonzerte. Auch hier gab es jedes Jahr einige Sonderkonzerte. Ich danke es noch heute meinen Eltern, dass sie mich frühzeitig an den Aufführungen teilnehmen ließen. Nachdem Steinbach Meiningen verlassen hatte – er ging 1902 nach Köln, um dort das Gürzenich zu übernehmen – wurden wir von den darauf folgenden Dirigenten teil gut, teils etwas stiefmütterlich behandelt. Ein vorzüglicher Zusammenklang ergab sich mit dem Dirigenten und Komponisten Wilhelm Berger, und nach ihm in der Zeit von 1913 bis 1915, als Max Reger in Meiningen Dirigent war.

Und dann komme ich auf ein zweites Faktum zu sprechen, das hier wesentlich zur Belebung des Musiklebens beitrug, zum Köhler’schen Gesangverein. Es war ein gemischter Chor, der, solange ich denken kann, von Herrn Musikdirektor Geuther geleitet wurde. Hier muss ich aber unbedingt eine kleine Betrachtung über das Lehrerbildungsseminar einschalten. Da wurden die jungen Lehrer nicht nur in Deutsch und allen naturwissenschaftlichen Fächern vorzüglich ausgebildet, sondern die Musikausbildung bewegte sich auf einer ganz ungewöhnlichen Höhe. Davon gaben die Seminarkonzerte, die zu Kaisers- und Herzogs-Geburtstag stattfanden, Zeugnis. Die Abschlussprüfungen in Musik wurden ja auch immer im Beisein des jeweiligen Meininger Dirigenten abgehalten. Es wurde durch diese Ausbildung erreicht, dass jeder Lehrer, der nun zur Berufsarbeit hinaus aufs Land ging, auch als Kantor und Leiter eines Gesangvereins tätig sein konnte. Das ist eine Tatsache, die das geistige Leben auf dem Lande außerordentlich günstig beeinflusste. Das kann heute durch Kino-Vorführungen und Fernsehen nicht wett gemacht werden. Die Namen der Musiklehrer am Seminar: Johne (mein Klavierlehrer), Geuther, Mitzenheim (meines Bruders Klavierlehrer) und nach Johnes Tod, Mühlfeldt (Ulrichs Klavierlehrer), alle mit dem Musikleben Hildburghausens eng verbunden.

Unser gemischter Chor unter dem Namen „Köhlerscher Gesangverein“ fand seit der Ära Steinbach immer die volle Anerkennung der Meininger Dirigenten und wurde bei großen Oratorien immer um Mitwirkung gebeten.

Mir war durch das Vierhändigspielen meiner Eltern die Hausmusik wohl vertraut, aber hier will ich noch meine Kindheitserinnerungen an die „große Musik“ erzählen. Ich war oft in Meiningen bei den Großeltern Pusch und bei den Puschens Tanten zu Besuch. Besonders gerne hielt ich mich bei meiner Tante Marie, der ältesten Schwester meines Vaters, auf, die damals Wäscheinspektorin im Schloss war. Einmal nun nahm Tante Marie besonders feines Bettzeug aus den ungeheuer umfangreichen Wäscheschränken heraus und ging persönlich damit zum Gastzimmer, um die Bettwäsche dem Zimmermädchen auszuhändigen und zu kontrollieren, dass das Bett auch recht gut gemacht werde. Der Gast, den der Herzog da erwartete, war Johannes Brahms. Ich war damals vielleicht acht Jahre alt, aber der Name „Brahms“ war mir schon ein ehrfurchtsvoller Begriff. Glücklich war ich, dass ich ihn dann auch auf der Straße sah. Ich bin wieder einmal in Meiningen zu Besuch und bin etwa neun Jahre alt. Diesmal war nur meine Tante Otti zu Hause, die ein eifriges Mitglied des Meininger Singvereins war, jenes Chores, der in Meiningen stets bei den großen Chorwerken mitgewirkt hat, oft auch als Verstärkung bei den Opern. Tante Otti hat während ihrer Mitgliedschaft zum Singverein allein 21-mal das „Deutsche Requiem“ von Brahms mitgesungen! Als sie nun abends zu einer Singvereinprobe musste, mochte sie mich nicht allein zu Hause lassen und nahm mich daher zur Probe mit. Ich wurde Steinbach, der die Proben des Singvereins immer persönlich leitete, vorgestellt und durfte mich neben meine Tante setzen. Steinbach ließ eine Stelle, die ihm nicht recht war, vom Alt mehrfach wiederholen. Wahrscheinlich habe ich unwillkürlich ein bisschen mitgesummt, auf einmal sagte Steinbach: „Da, die Kleine kann es nun schon, und sie stümpern immer noch daran herum.“ 1897 bin ich schon zehneinhalb Jahre alt und wirke in unserem Köhler’schen Gesangverein wieder einmal in Meiningen bei einer Aufführung der Matthäuspassion mit. Nach der Aufführung lässt Steinbach die Matthäuspassion auch mit den beiden Chören, dem Meininger Singverein und dem Köhler’schen Gesangverein in der Stadtkirche (Christuskirche) Hildburghausen aufführen. Natürlich nahm mich Tante Otti mit zur Hauptprobe in die Stadtkirche.



Stadtkirche

Mit Herzklopfen folge ich der Probe, denn ich sah und hörte dabei zum ersten Mal einen wütenden Dirigenten. Mit dem Spiegel auf der Empore, der dem Organisten die Stabführung des Dirigenten anzeigen sollte, klappte es nicht. Während er den Spiegel verstellt und ausprobiert, kommt ein Depeschenbote und überreicht ihm ein Telegramm. Steinbach öffnet es, liest es und sinkt auf eine Bank nieder. Nach einiger Zeit fasst er sich wieder und sagt: „Brahms ist tot.“ Diese Nachricht gab nun der Aufführung eine ganz besondere Note, denn Brahms und Steinbach waren sehr befreundet. Auf ganz besonderen Wunsch des Herzogs war es Steinbach auch gelungen, die 4. Sinfonie von Brahms, sein bedeutendstes Orchesterwerk am 25. Oktober 1885 in Meiningen uraufzuführen.

Nun war mit dem Köhler’schen Gesangverein und dem vorzüglichen Männerchor des Seminars nicht etwa das Reich der Chöre zu Ende. Nein, es gab noch den Arbeitergesangverein, die Liedertafel, den Sängerkranz, den Kirchenchor, den Singkranz des Gymnasiums und vielleicht noch mehr, die ich nicht mehr alle im Gedächtnis habe. Aber alle arbeiteten ernsthaft und leisteten Gutes.


Anlasskarte „Sängergruß aus Hildburghausen“ der „Liedertafel“ mit der Inschrift „Herz u. Lied – frisch, froh – gesund – LIEDERTAFEL – Wahr dir’s Gott zu – jeder Stund“
Atelier Meffert, Hildburghausen (Inhaber: Gustav Meffert). Postalisch 1900 gelaufen, ovaler Bahnpoststempel

Alle gaben sie Konzerte, meistens mit anschließendem Tänzchen. Von dem Arbeitergesangverein sei noch gesagt, dass sich aus seinen Reihen heraus ein Doppelquartett bildete, das den Namen „Die Gasröhren“ führte, weil es wohl hauptsächlich Mitarbeiter des städtischen Gaswerkes waren. Das Doppelquartett leistete Vorzügliches und jeder horchte auf, wenn die Gasröhren sich irgendwo hören ließen.

Dass es allen ernst mit der Musik war, beweist Folgendes: Studierten wir im Köhler’schen Gesangverein ein großes Werk ein, etwa die Neunte, eine der Bach’schen Passionen, das Deutsche Requiem oder ähnliche Werke, dann lag es unserem Dirigenten Geuther natürlich am Herzen, mit einem guten und vollzähligen Chor in Meiningen anzutreten. Dann kamen mit der größten Selbstverständlichkeit alle Dirigenten der anderen Chöre und stellten sich unter Geuthers Leitung, um an dem großen Werk mitzutun. So wurden unsere Männerstimmen in Meiningen bewundert wegen ihrer Sicherheit und ihrer Klangschönheit. Als unter Regers Leitung in Meiningen eines seiner schwierigsten Werke „Die Nonnen“ aufgeführt wurde, sangen gleichzeitig im Chor mein Vater, mein Mann, mein Bruder und ich mit.

Auch Kammermusik wurde uns in den Jahren viel geboten, sei es durch das einheimische „Geuther-Quartett“, sei es durch auswärtige Künstler. Reger selbst hat uns hier seine Klavier-Trios zu Gehör gebracht. Es war ein merkwürdiger Anblick, wie der ungeschlachte Mann wunderbar zart am Klavier spielen konnte. Wem nun nicht das Herz danach stand, an diesem mannigfaltigen Musikleben teilzunehmen, der fand vielleicht seine Genugtuung im Turnverein, der auch ernsthaft arbeitete und Vorzügliches leistete. Dazu gab es auch noch am Gymnasium den Turnkranz „Georgiana“ und am Seminar die Turnverbindung „Frisia“. Auch die Turner boten alle öffentlichen Aufführungen mit hervorragenden Leistungen. Alle ließen auch nach der Aufführung ein Tänzchen folgen. Das Wort und der Begriff „Sport“ spielte in meiner Kindheit noch keine Rolle. Wir gingen im Sommer zum Schwimmen. Im Winter fuhren wir mit unserem Böckle und liefen Schlittschuh, ohne zu wissen, dass wir damit „Sport“ trieben. Beim Schlittschuhlaufen auf dem Kanal kam uns dann doch eine kleine sportliche Erweckung. Das war den Technikern zu danken, unter denen mancher Eiskünstler war. Dadurch wurde unser Ehrgeiz auch angestachelt. Herrlich war es, wenn am Mittwoch oder Sonnabendnachmittag die Militärmusik am Kanal konzertierte. Dann konnte man in schönen Wechselbogen dahinschweben. Es gab noch eine andere Art von Bestätigung, die von manchen auch zum Sport gerechnet wird, die im Wesentlichen aber doch die Geselligkeit pflegte. Da es hier nach meinen Erinnerungen mindestens sechs Kegelbahnen gab, kann man ermessen, wie viele Kegelgesellschaften es gab. Die Bahnen waren jeden Tag belegt. Jeden Tag kegelte eine andere Vereinigung. Mein Mann und ich hatten auch mit bekannten Ehepaaren einen Kegelabend. Es ging da immer sehr lustig zu.

Die Schützengesellschaft pflegte den Schießsport und die Geselligkeit. Ihre großen Tage hatten die Schützen im Juni zur Schützenfestwoche. Da ging es hoch her. Es kamen auswärtige Gäste, und es wurde nach der Scheibe geschossen. Es gab Preise, und die Schützengesellschaft veranstaltete ein großes Festessen im engsten Kreise. Die Karussells und die Schaustellerbuden zogen viele Menschen zum Schützenhof. Jung und Alt amüsierte sich, die Rauchwolken des Bratwurststandes stiegen zum Himmel auf. Bierfässer wurden angerollt. Im Gasthausgarten spielte die Militärkapelle. Am Freitagabend gab es sogar ein großes Feuerwerk, und ein Schützenball beschloss am Sonntag das Fest.

Unter den Vereinen wäre auch noch die Sanitätskolonne zu nennen. Sie führte außer ihren ernsthaften Übungsstunden ein reges geselliges Leben. Ebenso war es mit dem Kriegerverein, der oft mit Theateraufführungen hervortrat. Den Jünglingsverein unter Humans Leitung erwähnte ich schon. Ebenso gab es unter Leitung der Gemeindeschwester einen Jungfrauenverein, in dem unsere Dienstmädchen schöne, fröhliche Stunden verlebten.

Wer aber bei alledem sich nicht aufgerufen fühlte, für den gab es „Entrée-Bälle“, bei denen man gegen Eintrittsgeld tanzen konnte. Nach den Erzählungen unserer Dienstmädchen ging es dort hochanständig zu. Betrunkenheit kam wohl fast nicht vor. Der Bürgerverein gab auch seine Bälle. Ob er sich sonst noch Pflichten auferlegt hatte, weiß ich nicht.

Noch ein anderer Verein zählte hier sehr viele Mitglieder, das war der Alpenverein. Sein idealer Zweck war die Förderung des Wanderns im Gebirge. Durch Anlage von Wegen, durch ihre Bezeichnung, vor allem aber durch die Errichtung von „Hütten“, das heißt von einfachen Unterkunftshäusern mit oder ohne Bewirtschaftung auf Bergeshöhen, wurden weite Wandergebiete erschlossen. Wenn aber dann der Alpenverein zu einem Ball einlud, da gingen die Wogen hoch. Da kam Alles in Tracht und kurzer Wichs, und es wurde gejodelt bis zum frühen Morgen.

Zwei Gesellschaften gab es, deren Ziel es war, nicht nur Gesellschaft zu pflegen, sondern den Mitgliedern auch geistige Genüsse zu bieten. Das waren „Die Harmonie“ und „Das Kasino“. Das Kasino war eine Gesellschaft mit alter Tradition. Leider weiß ich nichts über ihre Entstehungsgeschichte. Sie mag aber wohl bis in die Hofzeit zurückreichen. Das Kasino hielt seine Veranstaltungen früher in eigenen Räumen ab, nämlich in der Gadow’schen Druckerei in der Druckerei in der Schlossgasse. Das Haus hatten die Herzöge ursprünglich als Ritterakademie erbauen lassen. Dort hatte die Kasino-Gesellschaft einen netten Saal (Herr Knackmuß benutzt ihn jetzt als Atelier) mit einigen Nebenräumen. Fand eine Veranstaltung statt, dann sorgte Herr Hoftraiteur (Küchenleiter) Fischer vom „Englischen Hof“ für die Verpflegung. Seine Torfahrt liegt ja dem Gadow’schen Gebäude gerade gegenüber. Als Kind folgte ich noch seiner Einladung dorthin. Die Kasinodienerin, Frau Schröder, eingehüllt in ihr großes Umschlagtuch. Diese Frauen trugen damals nie Mäntel, sondern nur die großen, plaidartigen, grauen oder schwarzen Umschlagtücher, die vorne mit einer Stopfnadel zusammengehalten wurden. An deren Öhr war ein Klümpchen Siegellack befestigt, damit die Nadel nicht durchrutschen konnte. Das Umschlagtuch roch immer nach einer Mischung aus Lavendel und Pfefferminz. Die Kasinodienerin ging mit ihrer Einladungsliste von Mitglied zu Mitglied. In diesem Falle hatte die Liste nun auch die „verehrlichen Kasinokinder“ eingeladen und zu der Hauptprobe eines Theaterstückchens, das zu dem folgenden Tanzabend aufgeführt werden sollte. Als ich dann erwachsen war, war der Gadow’sche Saal längst aufgegeben. Wir tanzten bei größeren Sachen, etwa bei einem Kostümfest, wo etwas Drum und Dran nötig war, im Kaisersaal.



"Gasthof zum goldenen Hirsch " und "Kaisersaal"


Die meisten Veranstaltungen hatten wir aber im neuerbauten „Burghof“. Dort waren die Räume für unsere Gesellschaft vorzüglich geeignet.



Burghof

Ein netter, kleiner Saal, schön geschmückt mit dem historischen Wandgemälde „Herzog Casimir von Coburg empfängt seine Braut Elisabeth von Braunschweig am Fuße der Heldburg“, dazu ein paar hübsche, wohl durchwärmte Nebenräume, kleine Bühne, guter Konzertflügel.



Kleiner Saal im Burghof mit Wandgemälden.

Alles war da. An den kleinen Tanzabenden, deren wir im Winter vielleicht fünf bis sechs hatten, wurde zuerst immer etwas Anregendes geboten, etwa eine kleine Kammermusik von auswärtigen Künstlern, ein Rezitationsvortrag. Der große Rezitator und Sänger Wüllner wurde auch einmal engagiert. Es kam auch einmal ein Schauspieler aus Meiningen und trug Ernstes und Heiteres vor. Oder wir spielten selber Theater oder trugen lustige Parodien vor. Das hiesige Offizierskorps war eo ipso dem Kasino angeschlossen. Die jungen Leutnants waren auch eifrige Tänzer bei uns. Von den verheirateten Offizieren kam selten jemand. Es mag sein, dass sie sich aus einem gewissen Kastengeist abschlossen. Es mag auch sein, dass sie mit dem Pfennig rechnen mussten und sich nicht viel Geselligkeit leisten konnten. Außer den Rundtänzen wurde mindestens zweimal am Abend eine Quadrille getanzt, für musikalische Menschen ein Hochgenuss! In den Tanzpausen saß man an kleinen Tischchen, trank eine Zitronenlimonade oder einen Schoppen Wein und aß zwischendurch ein belegtes Brötchen, das man am Büfett auswählte. In unseren Tanzkleidchen kamen wir uns sehr hübsch vor, sie waren aber alle von der Hausschneiderin gemacht. Es wurde immer wieder versucht, einen Neujahrsball mit Essen auf die Beine zu bringen. Es zeichneten sich aber so wenige Mitglieder dafür ein, dass der Plan immer wieder ins Wasser fiel. Drei Mark für das Essen und dann vielleicht noch 1,20 bis 1,50 Mark für eine Flasche Wein. Das war mehr, als ein Familienvater bezahlen konnte oder wollte. Die jüngeren Tänzer, Offiziere und Studenten etwa, konnten das erst recht nicht. So kann man wohl sagen, dass wir uns für wenig Geld viel amüsiert haben.

Die Stammtische, den „Bügeleisenstammtisch“ erwähnte ich schon, und die Skatclübchen sind wohl nicht zu zählen. Von den Männervereinigungen darf die Loge „Karl zum Rautenkranz“ wohl nicht vergessen werden. Von ihren geheimnisvollen Riten und Zielen wusste und weiß man nicht viel. Aber sie pflegen auch Musik und Geselligkeit. Eine Männergesellschaft, die keine geheimen Ziele verfolgte, sondern nur der Männerunterhaltung und dem Lied frönte, war der „Fröhliche Mann“. Auch diese Vereinigung hatte eine lange Tradition. Schon Herrmann Meyer, die Bornmüllers und Gadow gehörten zu ihren Mitgliedern. An den Stiftungsfesten des fröhlichen Mannes wurde immer viel Witz verspritzt. Jeweils nach fünf Jahren führten sie dabei noch die Parodie eines Ordenskapitels auf, bei der natürlich keiner etwas übelnehmen durfte. Von dem reichen Ordenssegen, der sich im Laufe der Jahre über meinen Vater ergoss, haben nun schon drei Generationen von Kindern und Enkeln ihren Spaß gehabt. Schon mein Bruder und ich hatten unsere Freude daran. Dann spielten Joachim und Ulrich mit dem Ordenssegen. Und nun haben sich meine Enkel auch noch herrlich damit verkleidet und kamen sich wie ein Maharadscha mit den Ordensketten vor.

Bei der Erzählung von den vielen Vergnügungen, die es in Hildburghausen gab, habe ich ein sehr belebendes Element noch nicht erwähnt. Das waren die Techniker. Von der Ausbildung, die sie auf der hiesigen Anstalt erhielten. Hörte man viel Gutes. Außerdem verlebten sie hier aber ein sehr vergnügtes Studentendasein. Es gab verschiedene Korporationen, die alle studentisch aufgezogen waren. Sie trugen Couleur. Ihre Chargierten trugen bei festlichen Anlässen „große Wichs“. Sie hatten Fahnen, sie hatten natürlich auch verschiedene Vereinslokale. Sie machten auch mal nächtlichen Radau. Große Witzbolde hatten einmal nachts die beiden alten Kanonen von unserem Kriegerdenkmal entführt und sie vorne auf den Markt gefahren, drohend gegen das Rathaus aufgestellt, in dem sich die Polizeiwache befand. Es war eben Jugend, und sie brachte „Leben in die Bude“. Natürlich hatte auch jede Verbindung ihr Stiftungsfest mit Tanz, und viele Hildburghäuser Mädchen sind als glückliche Bräute und Frauen mit einem Techniker hinaus in die Welt gezogen.


Neues Technikum

Von meiner Kindheit weiß ich es nicht anders, als dass wir an Fassnacht einen großen Karnevalsumzug mit vielen Wagen hatten, Da waren natürlich auch die Techniker, und zumal die Rheinländer unter ihnen, mit von der Partie und oft spiritus rector. Es war auch üblich, dass zu Pfingsten ein großes „Altherrentreffen“ ehemaliger Techniker hier stattfand. Da ging es dann hoch her mit einem Kommers auf dem Markt, Musik und Tanz. Viele der ehemaligen Techniker waren nun reiche Fabrikherren und wollten nun ihren Frauen, Söhnen und Töchtern die alte Studentenzeit zeigen. Und heute? Wie schade, dass wir das Technikum nicht mehr haben!
Damit schließe ich meine Aufzeichnungen. Statistisches Material habe ich nicht benutzt, sondern ich habe versucht, rein gefühlsmäßig ein Stimmungsbild aus meinen Kindertagen wieder herauf zu beschwören.
Sollten mir Irrtümer unterlaufen sein, so möchte ich dieselbe Entschuldigung für mich in Anspruch nehmen, die ein großer Deutscher auch für sich in Anspruch nahm: Dann ist mein Stimmungsbild eben „Dichtung und Wahrheit“.


Impressum
 2014

© Dipl.-Ing. Ulrich Wienbeck, Hamburg
Erstausgabe als Manuskript, 2000  

Herausgeber: www.dunkelgraefinhbn.de und www.schildburghausen.de

            Hans-Jürgen Salier, Gerbergasse 19, 98646   Hildburghausen 

Texterfassung und Bearbeitung: Hans-Jürgen Salier (März 2014)

Mitarbeit: Ines Schwamm 

Persönliche Nachbemerkung von Hans-Jürgen Salier

Mit Ulrich Wienbeck, dem Sohn von Else Wienbeck (1886 – 1961), hatte Hans-Jürgen Salier viele Kontakte, vor allem nach 1990. Bei seinen Besuchen in Hildburghausen schaute Herr Wienbeck jedes Mal im Verlag vorbei, der bekanntlich nur wenige Meter von seinem Haus in der Offizin seinen Sitz hatte. Es kam zu angeregten Gesprächen zu unserer Heimatstadt, zu gemeinsamen Bekannten, aber auch zum Wienbeck-Haus, das berühmte Radefeld’sche Haus, das zumindest als Dunkelgräfin-Haus unlauslöschbar in die Geschichte eingegangen ist. Als wertvolle Mitbringsel brachte er seine sehr kenntnisreichen und mit einem großen Engagement in Hamburg geschriebenen Arbeiten mit, z. B. zu Carl Barth 1787 – 1853. Eine biographische Skizze“ aus dem Jahr 1988, Unser Haus (1984) mit knapp 250 Seiten, das in Lederin gebundene und mehr als 400 Seiten fassende 1988/89 erarbeitete „Ausführliches Inhaltsverzeichnis zur Chronik der Stadt Hildburghausen“ von Dr. Rudolf Armin Human (1886) und natürlich die vorliegenden Lebenserinnerungen seiner Mutter Else. Auch in der Fremde war Ulrich Wienbeck der Stadt seiner familiären Wurzeln außerordentlich eng verbunden. Unsere Kontakte waren sehr herzlich, zumal Else und Ulrich Wienbeck auch meine Familie aus dem Logenhaus in der Schlossgasse gut kannten. Für meine 1999 erschienene große „Chronik der Stadt Hildburghausen“, die ich zur 675-Jahrfeier der Stadt schrieb, gestattete er mir die Veröffentlichung einiger Ausschnitte aus den Lebenserinnerungen „Hildburghausen vor der Jahrhundertwende“ seiner Mutter Else. Leider war die Aufnahme weiterer Texte für das „Hildburghäuser Lesebuch“ mit Bastian Salier, 1999, zeitlich nicht möglich. Im Jahr 2000 übergab er mir eine neugefasste Ausgabe der Erinnerungen seiner Mutter. Zudem ist eine Teilkorrespondenz zur Veröffentlichung vorhanden. Mein Anliegen war es, die Arbeit nur in unscheinbaren Teilen zu bearbeiten, da und dort Tippfehler zu bereinigen und den Text mit historischen Abbildungen aus der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert zu bebildern.

Das soll nun geschehen, den Hildburghäusern und den Freunden der Stadt zur Freude. Zuerst stellen wir den Text auf unsere Homepage, und nach und nach kommen Abbildungen hinzu. Wir freuen uns auf die Resonanz unserer Leser. 

Es ist einfacher, Menschen zu täuschen, anstatt sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.

Mark Twain, 1835-1910, amerikanischer Schriftsteller
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