Eine Seite für Hildburghausen

Heiteres Hildburghausen

 

Bernhard Sendelbach
Anekdoten um Architekt Carl Ebeling

Gedenken an Architekt Carl Ebeling
Dozent am Technikum in Hildburghausen und guten Freund mit viel Humor

Die Antwort

Ä berühmter Architekt von Technikum in Hilberhausen, dr die wunn’rschönne Aufnahme von danne Hennebergischen Gehöften gemacht hat, is ämal nauf dar Ärrnanstalt gegange un wollt sich die Neubauten zu där’r aseh; es war so ümm 1903 rümm.
Wie’r nu in Park dort war, kam ä Krankr, dar dort dös Pflaster auf die Weg ausgebessert hat, auf’n zu, stellt’n zur Red unn sögt zu ne: „Wissense nett, dass hier n’r Kranke rummlaaf dörfen?“ Dr Harr Architekt sögt: „Was wöllnse denn? Ich bin doch grad so varrückt wie Sie!“ Da hat dr Kranke gemähnt: „Na, da dörfn se ruhig weiter geh.“

II.
Wie dar Ballhausen mit seina grüne Joppen unn die Härschknöpf dra widder ämal bei ‚Sendelbach’ g’sassen hat, war ä große Tischrunde zusamm. Da sägt dar Ebeling zum Ballhausen: „Robert, wenn du jetzter deine Härschknöpf runter lässt schneid unn ich pfeif nacher, schwupp da sännse wudder dran an deine Joppen!“ „Dös gläbb ich nett, dös kannste mar nett weiß gemach“, mänt darauf dar Robert Ballhausen. „Neulich ha ich dös awer g’senn, wies dar Harr Architekt bei änn annern gezeigt hat“, mischt sich ähner von danne danahmsitzenden in dös G’spräch. „So“ machts dar Ballhausen, „wieviel Knöpf hat dann dar an seine Joppen gehatt?“ „Ach an die zehn Stück“, hat die Tischrunde gerufen. „Nu, meinetwagen, da zeig’s ämal mit meina Joppen, ich ha bloß vier Knöpf dra.“ G’sagt, getan, die Knöpf wordn mit dar Scheer runtergschnitten. – Alles hat nu geguckt, was nu kömmt. „Pfeuf nu, Ebeling!“, schreit dar Ballhausen. „Ich pfeuf awer nett“, sögt dar Ebeling ganz ruhig. – Nu hat die ganze Tischrunde herzlich gradnaus gelacht.

III.
Da war dar Robert Ballhausen von Haubinda nach Hilberhausen gezogen; dös war ä Jäger unn hat a ümma ä grüne Joppen mit Härschknöpf a. Ämal, wie se widda am Biertisch bei ‘Sendelbach’ g’sassen hamm, sögt dar Ebeling zum Robert: „Kennst du dös Wunder von Kanaan, wo se aus Wasser Wein gemacht kamm?“ „Freilich“, sögt dar Robert Ballhausen, „awa dös machen se in Hilberhausen a, ohne dass ä Wunder draus wärd.“

IV.
Ä annermal hat dar Architekt Ebeling dann Ballhausen g’frägt, nachdem dar ä paar Tag varheirat war: „Nu, Robert, kann denn deine Frau tüchtig gekoch?“ „Gekoch kann se“, mähnt dar Ballhausen Robert, „awer g’fress ka marsch nett!“

V.
Als dar Architekt Ebeling ämal krank war, sänn seine Kollegen hie unn hamm ne besücht unn sich nach sein Befinden erkundigt, sie standen betrübt vor’n Krankenbett unn war’n racht niederg’schlag’n. „Wie gett’s denn? Wieder besser?“ hat ähner g’frägt. „Ach, ich danke“, hatter gemähnt, „es stett zu beförchten, dass ich nochemal dorchkomm.“

Nach: Sendlebach, Irmgard (Hg.): Bernhard Sendelbachs Gedichte, G’schicht’n und Frau Rauschen. – Verlag Frankenschwelle KG, Hildburghausen, 1999

 



Fritz Eller

Der „Lorz“ 

Ganz am Ostrand des Städtchens biegt von der Eisfelder Straße eine schmale, holprige Nebenstraße ab, der Walkmühlenweg. Auf der einen Seite beschatten den Weg uralte Bäume eines großen, parkartigen Gartens, an der anderen sieht man gepflegte Blumengärten, die zu den später erbauten Häusern an der Hauptstraße gehören. Nach wenigen hundert Schritten hören Park und Garten auf, und der Holperweg senkt sich zur Werra hin, um bei der Bohlenbrücke hinter der alten Walkmühle zu enden und in einen Wiesenweg überzugehen. Kurz ehe man aber die alte Mühle erreicht, steht ein winziges Häuschen. Es ist so niedrig, dass ein normaler Mensch die Dachtraufe bequem mit ausgestrecktem Arm erreichen und das Moos von den Dachziegeln nehmen kann.

Ein großer Stapel Brennholz, ein noch höherer Hügel Waldstreu aus Heidewurzeln und Heidelbeergestrüpp und ein duftiger Stallmisthaufen umrahmen das kleine Gebäude. Auf der Wiese daneben weiden ein paar saubere weiße hornlose Ziegen. Aus dem winzigen Stall hört man Schweinequieken und das tiefe Brummen einer Kuh.

Das kleine Idyll ist ohne Zweifel ein kleines Bauerngehöft, wie es einige in der einstigen Residenzstadt gibt. Ein Bauer mit drei Kühen neben fünf Ziegen und einige „Haseküh“ – das sind Stallkaninchen – dünkt sich wie ein kleiner König. Wer das kleine Tal durchwandert und fragt, wer der Besitzer des Zwergenhofs sei, erhält von Einheimischen die Antwort: „Das da? Das is dem Lorz sein’s!“ Und als der Lorz gestorben war, hieß es „bei der Lorze-Gustel“. 

Mutterseelenallein bewohnte diese lange, hagere, schon recht bejahrte Gustel das Häuschen und ernährte sich recht und schlecht von dem, was „Haseküh“, Ziegen und die Kuh ihr gaben und dem mehr als kargen Ernteertrag ihrer winzigen hungrigen Äcker und Felder. Mutterseelenallein, wie sie wohnte, so pflügte, eggte, säte und erntete sie Getreide, Rüben und Raps. Wie eine Einsiedlerin hauste sie, und nur die Nachbarn wussten, dass hier eine alte Jungfer der Bauer war. Stets sahen Haus und Hof sauber und ordentlich aus.

Als einmal ein Dieb versuchte, aus dem Rauchfang der Hütte frische Speckseiten und aus der Truhe der Lorzegustel alte Taler zu holen, musste er mit arg verschwollenen Backen und Kopfbeulen abziehen und das Weite suchen. Gustel hatte einen Hund. Das war ihr einziger männlicher Schutz und nur ein kleines, struppiges Tier zwischen Fox und Dackel, aber scharf und wachsam. Der hatte den Spitzbuben gestellt. Das andere besorgte Gustel mit dem „Mangelholz“.

Der Lorz und die Lorzegustel waren stadtbekannt. Hätte man aber einen Städter nach dem rechten Namen gefragt, er hätte ihn wohl kaum sagen können. Höchstens ein uniformierter Stadtpolizist hätte Auskunft geben können. Die hatten öfters mit dem alten Lorz zu tun. Nicht etwa, dass er ein Verbrecher war – nein! Er war der ehrlichste, geradeste und ordentlichste Mensch, den man sich denken kann, aber ein Schelm, ein Schalk, ein Till Eulenspiegel. Seine Scherze machten vor keiner Obrigkeit halt. Nur – die hohe Obrigkeit hatte nicht immer das rechte Verständnis für Lorzens putzige Einfälle.

Dieser Lorz war einer der „absonderlichsten“ Menschen in dem alten Städtchen. Er selbst musste wohl auch immer überlegen, wie er wirklich hieß: Lorenz Wagner, wenn er bei der Steuererklärung oder sonst wie „amtlich“ befragt wurde. Er selbst nannte sich nur „Der Lorz“ und eine stehende Redensart von ihm, wenn er behelligt oder gedrängelt wurde, war: „Ärscht wartste, spricht der Lorz!“ Der Satz wurde zum geflügelten Wort im Städtchen: Beim Haareschneider, im Wirtshaus, am Bahnhof, beim Tanz, beim Schafkopfspiel. 

Dass sich im Jahre 1900 beim Boxeraufstand im fernen China zwei Landsleute, sogar Stadtkinder und Schulkameraden fanden, verdankten sie dem alten Kleinbauern vom Walkmühlenweg.

Zu meiner Jugendzeit waren diese beiden Nachbarn. Der eine bewohnte im Haus meiner Eltern das erste Stockwerk. Es gehört zu seinen lebhaftesten Jugenderinnerungen, wie Hermann Fischer seine Sofaecke mit allerlei Andenken aus China ausgestattet hatte: Mit einem leichten Gruseln besah ich mir immer einen Kasten an der Wand, der in der Art der Schmetterlings- und Käfersammelkästen gehalten war. Darin prangten aber auf dem weißen Hintergrund nicht schön gespannte Insekten, sondern – ein Zopf, ein etwa materlanger, echter, fest geflochtener pechschwarzer Haarzopf eines Chinesen. Beiderseits des Kastens waren krumme, breite Säbelklingen, Boxersäbel und einige lange, und wie mir, dem neugierigen Kind immer versichert wurde, haarscharf geschliffene Dolche aufgehängt. Auf dem Sofaumbau war ein kleines Museum wunderbar geformter und gemalter Vasen und eine Wasserpfeife aufgebaut. Einen winzig kleinen Pfeifenkopf mit einem langen, strohhalmdünnen Mundstück hat man mir als Opiumpfeife erklärt. Ein lackiertes Schränkchen barg eine große Anzahl sehr hübscher Porzellansachen, so u. a. auch feine, wunderbar bemalte Tassen, die hauchdünn waren und sich anfühlten, als seien sie aus Pergamentpapier gefertigt. Zwanzig Jahre später, als ich meiner zukünftigen Frau als Geburtstagsgeschenk ein echt chinesisches Teeservice für zwei Personen kaufen wollte, das mir in einem Schaufenster aufgefallen war und sehr gut gefiel, habe ich erst begriffen, was auf Fischers Hermanns Sofa für Werte standen. Als ich – seelisch etwas zerknittert – aus dem Leipziger Geschäftshaus trat, gedachte ich dieser Schätze im Lackschrank. Ich habe das Teeservice nicht gekauft …

In einer Porzellanschale lag ein Seidenschal, in den sich eine Frau, sie brauchte nicht einmal übermäßig schlank zu sein, gut hineinwickeln konnte. Diesen Schal zusammenzuknüllen und als kaum apfelgroßes Knäuel in einer Hand zu halten, war damals nicht nur mir ein schier unfassbares Wunder. Der Vollständigkeit halber sei noch ein fast zwei Quadratmeter großer, holzgerahmter Wandschirm aus dicker, schwarzer Seide erwähnt, auf dem in kunstvollsten Stickereien furchtbar anmutende chinesische Drachen zu sehen waren.

Der Besitzer dieser fremdartigen Reichtümer war, wie gesagt, Hermann Fischer und zu dieser Zeit einer der Stadtpolizisten, mit denen der alte Lorz hin und wieder zu tun hatte.

Schräg über der Straße wohnte der andere Chinakämpfer, Karl Bechmann, der bei seinem Vater, dem alten Schreinermeister Heinrich, als Gehilfe arbeitete.

Hermann diente, als der Boxeraufstand ausbrach, in irgendeinem thüringischen Infanterie-Regiment, Karl aber war Matrose. Beide gehörten dann dem Expeditionskorps an, das unter Graf Waldersee nach dem Fernen Osten dampfte, um die Interessen des Deutschen Reiches wahrzunehmen. Sie waren dabei, als der Oberbefehlshaber der britischen Truppen in seiner bedrängten Lage den denkwürdigen Befehl gab: „Germans ti the front!“

Es war kurze Zeit nach der Niederwerfung des Aufstandes als das deutsche Korps Biwak bezog und an Lagerfeuern die Ruhe genoss, die schwer verdient war. Noch hatten viele der Soldaten das grausige Erleben nicht überwunden und versuchten, in Gedanken damit fertig zu werden. Es wurde geplaudert, auch geschrieben, wenige vermochten zu schlafen. Aber es gab auch welche, die schneller über alles Erlebte hinwegkamen, sie konnten sogar Karten spielen.

Karl Bechmann aber war einer, der träumte. Er schickte seine Gedanken in die ferne, ach so ferne Heimat. Während er auf dem staubigen dürren Boden lag, den Kopf auf dem Tornister und die Hände im Nacken verschränkt, wanderte er im Geiste über Länder und Meere bis in jenes stille Städtchen im Tal, wo betagte Eltern seiner warteten. – Aber, wie sprang er auf, als in seinen Träumen hinein der unverfälschte Dialekt der Heimat an sein Ohr drang! Viele Monate war es her, dass er, die Landratte unter lauter Leuten von der „Waterkant“, heimatliche Leute gehört hatte! Nur ein kurzes Sätzchen hatte ihn aufhorchen lassen, dann hörte er nur noch lautes Lachen und Klatschen von Spielkarten dort drüben an den Feuern der Infanterie. Aufgesprungen war der Karl und suchte – suchte! Wer hatte das gerufen: „Ärscht wartste, spricht der Lorz!“? Wo saß der, wer war das? Es musste einer aus der Heimat sein, denn wer sonst sollte dieses geflügelte Wort des Lorz noch kennen? Er ging durch die Reihen der flackernden Feuer. Hier muss es gewesen sein, in dieser Gruppe wurde Schafkopf gespielt. Es war aber schwer, im unruhigen Feuerschein in den sonnenverbrannten Gesichtern den Heimatgenossen zu erkennen. Der da mit dem blonden Schnurrbart? Konnte es sein, dass er, wer weiß wie viele tausend Kilometer von der Heimat weg einen Landsmann, Schulkameraden und alten Freund traf?

„Hermann!“ rief er ihn an. Und wirklich: Aufsehen, einen Augenblick stutzen, die Karten fallen lassen, aufspringen, „Karl!“ schreien und ihm um den Hals fallen – das alles war in einer Sekunde  geschehen.

So hatte der alte Lorz zwei Freunde zusammengeführt, weit, im fernen China.

Als Monate später das Expeditionskorps in die Heimat zurückgekehrt war und die Teilnehmer wieder nach Hause kamen, haben die beiden Chinakrieger dem alten Lorz manchen „seefesten Affen“ im „Tivoli“ besorgt, aus Freude und Dankbarkeit, dass er sie damals zusammenbrachte. Der Alte hatte nichts dagegen, wenn ihm die beiden Kameraden blau nach Hause schickten. So schlimm wurde es übrigens nie, dass er, wenn er auf dem unebenen Weg nach seiner Hütte ins Stolpern kam, sich nicht wieder ins Gleichgewicht bringen konnte. Keinmal versäumte er dabei zu sagen: „Ärscht wartste, spricht der Lorz!“ 

Es war für das kleine Städtchen mit seinen damals kaum sechstausend Einwohnern erstaunlich, wie viele Stadtpolizisten es gab. Das mochte seinen Grund vielleicht darin haben, dass ein Viertel oder mehr der Einwohner Fremde waren, gegen die die überaus ängstlich veranlagten Stadtväter stets Misstrauen hegten´, weil Fremde doch fremde Sitten mitbringen konnten. Und vor dieser Gefahr hatten die stockkonservativen Ratsherren eine Heidenangst!

Es gab zunächst das Bataillon Infanterie, das dort stationiert war. Dazu kam eine große Anzahl Schüler der höheren Schulen des ehemaligen Residenzstädtchens. Am zahlreichsten waren die Studenten der Technischen Lehranstalten für Hoch- und Tiefbau und des Maschinenbau-Technikums. Nicht selten waren unter diesen Franzosen, Belgier und Holländer. Ich entsinne mich auch etlicher Japaner und Chinesen, und kurz vor dem Ersten Weltkrieg gehörten ständig auch Afrikaner aus den ehemaligen deutschen Kolonien zu den Schülern.

Diese Techniker waren eine gute Einnahmequelle für das Städtchen, durch ihre studentische Ungebundenheit aber auch oft die Urheber nächtlicher Ruhestörungen. Damit verschafften sie den vielen Stadtpolizisten erhebliche Arbeit. Unter diesen Hütern der Ruhe und Ordnung gab es mehrere, die noch heute in der Erinnerung als echte „Originale“ und andere, die als besonders „Streng und Amtlich“ weiterleben.

Der Lorz und die Techniker – das war ein ergötzliches Kapitel für sich.

Eine der studentischen Verbindungen tagte im „Tivoli“, sehr  nahe beim Gehöft des alten Lorz. Er machte für „seine“ Techniker alles: fuhr ihnen die Koffer beim Ferienbeginn an den am anderen Stadtende weit entfernten Bahnhof, holte sie mit seiner einspännigen Kuhfuhre auch wieder ab, wobei er seinen Leiterwagen immer festlich schmückte, er besorgte die Bierfässer, Tische und Stühle hinaus, wenn ein Kommers im Freien steigen sollte und war immer gut Freund mit den jungen Leuten.

Nur mit den Stadtpolizisten war er durchaus nicht einverstanden. „Stadtratstagelöhner“ nannte er sie ganz respektlos, und es war ihm gleichgültig, ob es einer hörte oder nicht. Manche von den gestrengen Herren ohne Sinn für den freilich recht derben und zweifelhaften Humor trugen Groll im Herzen. Einer vor allen, es war sogar ein Namensvetter und einer der „Strengen“ zahlte es ihm einmal  heim. Oder, es ist besser, zu sagen, wollte es ihm heimzahlen. Das geschah so:

In der Stadtverordnung von „Anno Tobak“ findet sich ein Satz: „Fahrzeuge sind nach Sonnenuntergang zu beleuchten!“ Nun weiß ja jedes Kind, dass man eine geraume Zeit nach Sonnenuntergang noch ganz gut ohne Beleuchtung fahren kann, ohne Unheil anzurichten. Die Bestimmung bestand aber.

Eines Früh-Herbsttages hatte der Lorz wieder einmal alles Nötige für einen Kommers nach dem „Wendelsbrunnen“ gefahren und zockelte heimwärts. Als er die unendlich lange Wiedersbacher Straße hinunterfuhr, zog er das Schleifzeug an, und knarrend und krächzend holperte der Wagen stadtwärts. Der Lorz dampfte seine Peife und sah über das weite Tal hinweg nach den beiden Gleichbergen, hinter denen gerade die Sonne mit allem Glanz und aller Schönheit eines Herbstabends unterging. Noch ein Viertelstündchen, und der Lorz war daheim.

Unterwegs erwartete ihn das unerbittliche Schicksal in höchsteigener Person seines uniformierten Namensvetters in blinkender Pickelhaube und langem Säbel am Stadteingang bei der Alten Schäferei, genau dort, wo der Lorz abbiegen wollte und musste, um sein Gehöft zu erreichen. Die Hand des „Amtlichen Stadtratstagelöhners“ in weißen Zwirnhandschuhen gebot dem Lorz ein „Halt!“

„Was is’n lus? Hä?“ befragte sich der Lorz.

„Sie haben keine Beleuchtung an Ihrem Wagen. Das verstößt gegen die Polizeivorschrift. Ich werde Sie zur Anzeige bringen!“

„Ärscht wartste, spricht der Lorz!“, kam die prompte Antwort. „Es is doch noch helllichter Tog, wos sull denn jetzer schu ä Latärn? Hä? Ich soll mich woll auslasslach? Ihr habt wohl weiter nix zu tunn, als wie euch Gedanken ze mach, wie Ihr die Leut könnt gekujennier? Nuja, was will mer a vun änn Stadtratstaglöhner weiter verlang. Hü, Scheck, mach aß de hämmkümmst!“

Und die müde Kuh schaukelte an dem verdutzten Stadtobrigkeitsbehüter vorbei, bog links ab und fuhr heim. Jener aber waltete seines Amtes, erstattete Anzeige, und zwei Tage später bekam „Herr Lorenz Wagner, Bauer, Walkmühlenweg“ ein Strafmandat über Drei Mark, zahlbar bis zu dem und dem Tag mittags zwölf Uhr. „Ärscht wartste, spricht der Lorz!“ Mit diesem, seinem eigenen und einem anderen, aber klassischen, weitverbreiteten Zitat steckte der Lorz den Strafzettel hinter den Spiegel … 

Im altehrwürdigen Rathaus, einem Schmuckkästchen spätmittelalterlicher Städtebaukunst an einem wunderbar schön angelegtem Marktplatz thronte nächst den höchsten Herren der Verwaltung auch der Herr Stadtkämmerer und Obersekretarius Peter, ein kleiner, dicker, rotgesichtiger Mann mit würdigem Schritt, den jedes Kind der Stadt kannte, wie er seinen erheblichen Schmerbauch vom Rathause über den Markt hinweg zum „Englischen Hof“ schleifte und – nach ausgiebigem Schoppen dann heimwärts.

Dieser Herr Stadtkämmerer war, schon des Schoppens und des Mittagessens wegen, ein Muster der Pünktlichkeit und außerdem Gartennachbar des Lorz. Und der kannte den – wie er ihn mit galligem Hohn nannte – „Stadtschreiber Peter“ genau. Auch in seinen Schwächen. Er wusste, dass sein Nachbar, wenn er über seiner Stadtkämmerei die Rathausglocke die Mittagsglocke anschlug, auch schon an der Tür stand, Hut und Stock nahm und, ehe der letzte Glockenschlag noch verhallt war, den Marktplatz in Richtung „Englischer Hof“ überquerte.

Der Lorz war aber auch bekannt, dass sein hochmögender Nachbar, wenn er einen Ärger loswerden wollte, als „Blitzableiter“ meist die Stadtpolizisten benutzte. Er konnte also getrost annehmen, dass auch sein Namensvetter in Uniform, etwas abbekommen würde, wenn ihm, dem Lorz, sein Plänchen gelungen war.

Ruhig ließ er den Tag herankommen, der auf dem Strafzettel als letzter Termin bezeichnet war. Das war dann ein schöner, warmer und sonniger Herbsttag, einer der Tage, die einem im Kalender ganz irr machen können. Da putzte der Lorz seine Kuh, band ihr hübsche Blumensträußchen aus Astern, Georginen und anderen Herbstblumen an die Hörner, worüber die alte „Scheck“ mehr als verwundert den dicken Kopf schüttelte. Das Geschirr war blank und glänzte wie Lack, der Wagen gewaschen und geschmiert, mit Bäumchen, Zweigen und Blumen geschmückt wie eine Hochzeitskutsche. Dann hängte Lorz an jede Wagenecke eine Laterne mit dicken Talglichtern, eine bekam die Scheck zwischen die Hörner gebunden, und ganz hinten an den Wagen hängte er zwischen die Räder noch eine. Mit ernsthafter Miene brannte der Alte dann alle Lichter an.

So kurz nach 11 Uhr fuhr er, feierlich im Gehrockanzug, den Walkmühlenweg vor und bog in die Eisfelder Straße ein. Jeder sah dem alten Unikum lächelnd nach, der seiner Pfeife Wolken entlockte, als wenn das Heldburger Schmalspurbähnle bergaufwärts muckert. Jetzt rumpelte der Wagen über das weithin berüchtigte Kopfsteinpflaster des Marienplatzes. Mit lauten Peitschenknall trieb Lorz sein Zugtier die letzte Steigung hinan und fuhr durch die Obere Marktstraße dem Rathaus zu. Nicht rechts – nicht links sah er. Hinter ihm zog lang und weiß wie der gepflegte Schweif eines Zirkusschimmels der Rauch seiner Pfeife.

Am Rathaus guckte der Lorz nach der Uhr. Es passte ihm genau, dass es zwanzig Minuten vor zwölf war. So lenkte er hinüber zu dem „Braunen Roß“, dem Nachbarlokal, das zwischen dem „Englischen Hof“ und dem weniger vornehmen Bierlokal „Fränkische Leuchte“, das aber nur „Die Funzel“ genannt wurde, räumlich und auch in anderer Hinsicht die Mitte hielt. So lange knallte er da mit der Peitsche, bis die dicke Kellnerin endlich kam und nach seinem Begehr fragte. Lorz bestellte sich bei ihr eine Maß Bier. Vor seiner Scheck stehend, trank er aus, wischte sich den grauen Schnauzbart, zahlte und fuhr einen schönen Bogen um den ganzen Marktplatz, blickte nach der Uhr, nickte, bog bei der „Sonne“ ein und hielt fünf Minuten vor zwölf Uhr am Rathaus, direkt unter den weitbogigen Fenstern der Wachtstube, in der die Hüter der städtischen Ordnung die Augen des Gesetzes offenhielten. Hier klopfte er nun erst einmal seinen Pfeifenkopf leer und stopfte ihn neu. Offenbar verwendete er dabei eine „Spezial-Mischung“, denn statt seines ledernen Tabakbeutels brachte er aus der Hosentasche eine blaue Tüte, aus der er Tabak entnahm. Diesen aber hatte Lorz erst kürzlich beim alten Huldreich, der wie Andreas Hofer aussah, gekauft, und der war nicht wenig verwundert, dass Lorz statt seines üblichen „Wilhelm Stein Nr. 3“ die übel berüchtigste Marke nahm. Und die war dem Lorz noch nicht gut genug. Ein paar trockene Eichen- und Buchenblätter mischte er daheim noch darunter, um damit eine besonders kräftige Wirkung zu erzielen.

Er brannte an, zog, hustete, räusperte und spuckte, zog dann heftiger, bis übelriechender Dampf in dicken Wolken ihn umgab. Sorgsam strängte er dann ab, zog das Schleifzeug fest an, überprüfte mit auffallender Sorgfalt, dass alle Laternen brannten und stieg mit schwerem Bauernschritt die Wendeltreppe mit den ausgetretenen Steinstufen hinan zur Stadtkämmerei.

Noch fehlten zwei Minuten bis zwölf Uhr, als der Lorz eintrat. Der Herr Peter saß schon mit gespitzten Ohren, auf den ersten Glockenschlag der Zwölf wartend. Dass jemand zwei Minuten vor dieser Zeit noch kam, war ihm neu, war nie dagewesen, war einfach unerhört! Es dauerte eine Weile, bis sich der Dicke soweit gefasst hatte, dass er überhaupt sprechen konnte: „Was will der Herr Wagner?“, fragte er in schon sehr amtlichem, gar nicht nachbarlichem Ton. Einen gereizten Ärger konnte man unschwer daraus hören.

„Mei Straf will ich zahl! Da!“ Und damit stellte Lorz eine enorme Geldkatze auf den Tisch. „Da is ös Gald, da is mei Strafzettel, un ich will mei Quittung!“ Aus dem Geldsack schüttete er zugleich seine drei Mark auf die Tischplatte: dreihundert einzelne Kupferpfennige, die er von Langguths Eduard, Köhlers Huldreich und beim „Sprützenfischer“ in den letzten Tagen unter allerlei Ausreden eingewechselt hatte. „So, da is mei Gald!“, sagte er nochmals.

Da aber stemmte sich der Stadtkämmerer ächzend auf und sagte: „Da muss der Herr Wagner schon noch einmal kommen! Jetzt ist Mittag!“ Und wirklich, in diesem Augenblick schlug mit weithallendem Klang die Rathausglocke die Mittagsstunde an. Überall hörte man darauf. Lautes Türenschlagen, Trappen von eiligen Füßen, „Mahlzeit!“-Rufen. Und hier stand seelenruhig lang und hager der alte Lorz und vor ihm rot und keuchend der dicke Peter.

„Wos?“, erstaunte sich der Lorz, „noch e mol? Nä! Da uf mein Zettel stett’s drauf, dös muss bis heut um zwölfe bezahlt sei. Dös Gald lag da, eh’s zwölfe geschlag’n hat. Also, jetzt wärd gezählt un quittiert!“ Mit aller ihm zu Gebote stehenden Seelenruhe und den langsamsten Bewegungen häufte der Lorz sorgfältig hübsch nebeneinander aus je zehn Pfennigstücken seine Geldhäufchen auf und dampfte dabei wie ein Bienenzüchter, der einen Schwarm einzufangen hat. „Ich habe jetzt keine Zeit mehr!“, donnerte Peter, der seinen Englischen-Hof-Schoppen zu Wasser werden sah.

„’Ärscht wartste, spricht der Lorz!’ Jetzt wärd dös Gald gezählt un dann quittiert!“, war noch einmal die Antwort des Alten.

Wohl oder übel musste sich Herr Peter bequemen und nachzählen. Zwei Köpfe beugten sich in dem etwas düsteren Nordzimmer über den Tisch, rot, schnaufend und ächzend der Stadt so durstiger Kämmerer und der grauköpfige schelmisch schmunzelnde Lorz. Und dieser setzte den Dicken so unter Dampf, dass der die Puste beinahe verlor und sich das Rauchen strengstens verbat.

„Wo stett’n dös geschrie’m, aß mer net papp dörf, hä? Ich ho nix dervo g’sänn! Däs wär’ ja noch schönner!“ Und er dampfte weiter. Häufchen um Häufchen musste Peter nachzählen, denn der Lorz, der alte Schalk, schüttelte ein über das andere Mal den grauen Kopf und brummte: „Es hat doch g’schtimmt derhämm! Ich muss mich doch da verzählt ha, ich ha noch drei Pfäng über!“

„Wie kommen Sie denn dazu, die Strafe in lauter Pfennigen zu bezahlen? Wollen Sie hier einen Spaß machen?“

„Iiiich? Spoß?“, echote der Lorz, „mir is net nach Spaß zumut, wemmer Straf muss zahl, bloß weil mer fümf Minuten nach der Sonn noch kä Latern a’gebrännt hat! Und bloß Pfäng? Ha, aus meiner klänne Wärtschaft ka ich immer bloß Pfäng derspor. Die Taler sin bei mir rar, dös müssten Sie doch wiss, Härr Stadtschreiber!“ Wirklich – der Lorz sagte laut und betont „Stadtschreiber“! Er wusste schon warum!

Endlich hatte Peter die drei Häufchen gefunden, in denen je ein Pfennig fehlte, strich hastig das Geld ein und quittierte mit einer ihm durchaus ungewohnten Eile den Strafzettel, den Lorz recht, recht umständlich einsteckte. Zum Abschied hinterließ er noch ein paar der dicksten Rauchwolken und stieg schmunzelnd die Treppen wieder hinab. Bei seiner Scheck blieb er stehen und klopfte erst einmal den Pfeifenkopf aus. Es war ihm dort oben beinahe selber zuviel geworden von dem Eichen- und Buchenlaubduft.

Das geputzte Fuhrwerk des alten Lorz hatte, da die Schule gerade aus war, eine Menge Schulkinder herbeigelockt, die staunend und lachend das Gefährt umstanden. Sie begrüßten auf ihre lärmende Art den Lorz, was etliche Schutzleute veranlasste, missbilligende Blicke auf den Marktplatz zu werfen. Den Lorz störte das alles nicht. Aus der Tasche seines Gehrockes, in der er seine Pfeife barg, brachte er eine Zigarrentüte und brannte sich nach dem zweifelhaften und verzweifelten Genuss seiner Mischtabake eine lange, dicke Zigarre an, gerade in dem Augenblick, da der Herr Stadtkämmerer und Ober-Sekretarius Peter schwankenden Bauches die Tür des Rathauses verließ. Die Schulkinder grüßten auch ihn stürmisch und lachend. Lorz aber strängte an, lockerte die Bremsen, knallte ein paar Mal laut mit der Peitsche und fuhr eine Ehrenrunde um den schönen Marktplatz, gefolgt von den johlenden Schulkindern, lächelnd bestaunt von ehrsamen Bürgern, die zum Mittagessen heimwärts eilten, streng beobachtet von den Wachleuten hinter den Fenstern. Neben dem „Englischen Hof“ genehmigte er sich noch ein „Stehmaß“ und blinzelte vergnügt nach dem feinen Hotelfenster, hinter dem sein Nachbar Peter eiliger als sonst und diesmal auch stehend, seinen üblichen Schoppen trank. 

Der alte Lorz hat nie wieder einen Strafzettel bekommen; denn bald danach ist der alte Lorenz Wagner gestorben. Er hatte die letzten Kartoffeln hereingefahren und abgeladen. Nach dem Mittagessen tat er wie sonst. Er setzte sich in seine Sofaecke und brannte sich die Pfeife an. Als er ein paar matte Züge getan hatte, meinte er verdrießlich: „Die Pfäuf’n schmeckt heit net!“ Seine Gustel sah ihm besorgt ins Gesicht. Es schien ihr etwas verfallen. Und dass dem alten Vater, der seine neunundsiebzig Jahre trug, die Pfeife nicht schmeckte, war ihr recht bedenklich. Und so fragte sie ihn in ihrer Sorge, ob sie nicht doch lieber schnell den alten Dr. Kost holen solle. Aber der alte Lorz wollte davon nichts wissen. „Ärscht wartste, spricht der Lorz! Dös wärd scho widder wär’n. Un dar alt Grobsack ka mir a nimmer gehalf. Hol ne net, ärscht wartste …“ 

Und Gustel brauchte nicht mehr lange zu warten. Der Lorz legte seine Pfeife in die Sofaecke und rückte sich zurecht – wie immer, wenn er sein Mittagsschläfchen machen wollte … Und er schläft noch heute.

Als sich seine Gustel nach ihm umdrehte, war er schon fern allem Erdenleid, war er dort, wo man auch nach Sonnenuntergang noch ohne Laterne am Wagen fahren kann. 

(leicht bearbeitet)

 



Fritz Eller

Das Schwarze Ei 

Wenn ich Wilhelm Raabes „Hungerpastor“ lese und mir die Figur des köstlichen Oheim Grünebaum vorzustellen versuche, dann taucht aus dem Nebel des Jugenderinnerns eine Gestalt auf, die gut hätte sein können für den wackeren Schumachermeister aus Neustadt. Freilich ist es keiner aus Hans Sachsens Zunft, sondern ein ehrbarer Töpfermeister.

Auf etwas kurz geratenen und nicht ganz geraden Beinen durchschritt er trotz alledem würdevoll diese Welt. Für uns Kinder in der Winzergasse, wo er meinem Elternhause gegenüber in einem niedrigen, langgestreckten Hause wohnte und schaffte, war er ein Mann, mit dem man rechnen musste.

Eines unserer beliebtesten Spiele in der vom Verkehr wenig berührten Straße war „Balltreiberles“, bei dem es darauf ankam, durch möglichst weite Würfe den Gegner über eine bestimmte Grenze hinauszutreiben. Dabei konnte es nur allzu leicht geschehen, dass der Ball seitwärts rollte und in die Nähe des Hauses des achtbaren Töpfermeisters Fritz Gutjahr gelangte. Geschah das gerade zu der Zeit, dass der Nachbar in seiner Haustüre stand, war es um unseren Ball geschehen. Die durch das Treten der Töpferscheibe wohl trainierten Beine des Herrn Gutjahr überraschten durch ungewöhnliche Fixigkeit. Rasch hatte er den Ball erreicht und steckte ihn in seinen Schürzenlatz, wobei er uns drohend zurief: „Dös is mai Terräng!“ Damit strafte er uns dafür, dass wir Jungens uns öfter einmal an die Tongrube in seinem großen Garten schlichen, um uns mit Munition für das „Kullernschießen“ zu versorgen. Das war ein Spiel bei uns: Kleine Lehmkugeln wurden auf schwache Weidenruten gesteckt und damit auf die Hausnummern an den Scheunentoren gezielt. 
Herr Gutjahr war ein sehr geschickter Töpfer, der aus Ummerstadt stammte, wo ja die keramische Kunst und Handwerkerei von jeher zu hoher Blüte gediehen war.

Ummerstadt war mit seinen etwa eintausend Einwohnern wohl der kleinste Ort, zumindest in Thüringen, der seit mehreren Jahrhunderten Stadtrechte hatte, worauf die Leutchen nicht wenig stolz waren. Dass der damalige Bürgermeister des Kreisstädtchens Hildburghausen auch aus Ummerstadt stammte, war für unseren Nachbar Grund genug, oft und gern und überall zu sagen: „Iiiiiich – un der Härr Bürchermästa von Stocmeier stammen alle baide aus Ummerstadt. Un aus Ummerstadt kommen bloß geschaite Leut’!“

Meistens war das dann der Beginn einer längeren, mit arg stockschnupfig klingender Sprache vorgetragenen Rede – denn die Gabe der Beredsamkeit war ihm im hohen Maße vom Schicksal geschenkt worden.

Meister Gutjahr war ein Mann von mancherlei Interessen. Da war als erstes sein Handwerk. Das verstand er meisterhaft. Gut geformte Töpfe und Kannen, Teller und Schüsseln, Pfannen und Vasen entstanden unter seinen geschickten Händen auf der Drehscheibe. Allerliebste Spielzeugtöpfchen und Küchengeschirr für Puppenstuben fertigte er ebenso schön wie große Gebrauchswaren für den Haushalt. Auch das Bemalen und Glasieren wusste er sehr gut auszuführen. Buntbemalte Teller versah er häufig mit launigen Scherzversen. Am bekanntesten wurden zwei seiner Sprüche:

            „Meine Frau, die kann gut kochen,
            sie nimmt das Fleisch,
            ich krieg’ die Knochen!“

Einem Gastwirt, der zugleich Jäger war und gern und oft etwas Gutes aß, stellte er einen mit einem dicken Hund bemalten Teller auf das Wandbrett der Gaststube, damit die Gäste lesen konnten:

            „Der Sendelbach und sein Hund –
            die fressen zu jeder Stund’!“

Seine Ware verkaufte er meist auf dem Wochenmarkt, der im Städtchen jeden Mittwoch und Sonnabend war. Dorthin brachte er auch die Erträgnisse seines großen Obst- und Gemüsegartens.

Eine ganz besondere Liebhaberei von ihm waren Hühner. Als fleißige Legehühner schätzte er die rebhuhnfarbigen Italiener und lobte die Größe und Güte der Eier seiner Lieblinge über den grünen Klee.

Eines schönen Frühjahrs hatte er von auswärts, sicherlich aus Ummerstadt, wieder, wie alljährlich, ein Mandel Bruteier eingekauft, die eine Glucke brav erbrütete. Wer beschreibt aber sein Erstaunen, als sich unter den dreizehn geschlüpften Küken ein Fremdling befand. Dieses eine Hühnchen, es war schwarz! Kohlrabenschwarz! Ob durch ein Versehen, oder aus Absicht unter die italienischen Bruteier eines von Schwarzen Wyandotten gekommen war, weiß ich nicht, man muss es aber getrost annehmen, denn auch in Ummerstadt gibt und gab es Spaßvögel. Dieses kleine piepsende schwarze Küchlein wurde eine wirklich prachtvolle Henne. Für Meister Gutjahr war dieser „Zufall“ etwas Außergewöhnliches, ein kleines Wunder, und er hatte für seine Stammtischreden in Zukunft eine neues Thema: „Maine schworze Hänne!“ – Sie nahm immer wunderbarere Formen und Eigenschaften an, je mehr sich seine Phantasie damit beschäftigte. Seine Lieblingshenne kam nun auch in das Alter, da sie die liebevolle Pflege durch entsprechende Eierproduktion vergelten musste. Das tat sie auch und erfreute ihren Besitzer mit wohlgeformten, schön bräunlichen Eiern. Ein bestimmtes Nest im Hühnerstall neben dem Brennofen war der Platz ihrer nahrhaften Tätigkeit. Das hatte der Meister gut beobachtet. Aber – andere wussten das auch! A n d e r e ? – Wer soll denn da noch aufgepasst haben?

Nun, im Nachbarhaus wohnte der Schreinermeister Bechmann und im 1. Stockwerk bei ihm zur Miete der Lehrer Eichhorn. Um das damals knapp bemessene Gehalt eines Lehrers aufzubessern, wohnten bei dieser Familie in Untermiete jedes Jahr eine ganze Anzahl Studierender des Maschinenbau-Technikums. Sehr oft waren das frohgemute, auch zu mancherlei Jugendstreichen aufgelegte junge Männer. Sie verkehrten mit dem etwas grilligen und schrulligen Töpfermeister immer sehr freundschaftlich, lobten sein Kunst und hörten geduldig auch die Lobreden über „Maine schworze Hänne“ an.

 

Wieder war es nun Frühling geworden. Die Schwarze Henne hatte ihren ersten Geburtstag hinter sich und stand auf der Höhe ihrer erfreulichen Eierlegefähigkeit. – Es war der Dienstag vor Gründonnerstag. Morgen, zum Wochenmarkt, wird die Nachfrage nach Eiern besonders groß sein. Schon stand in der Vorratskammer des Meisters, treu behütet von seiner kleinen, wieselflinken Frau, ein Korb voll der schönsten sauberen Eier. Am Dienstag um die Stunde, da die Hühner schlafen gehen wollen, kontrolliert der biedere Meister nochmals alle Nester. Seine Schwarze Henne wird ihn doch nicht im Stich lassen und auch noch einen Beitrag für das Gründonnerstagsgeschäft liefern! Und siehe da! Im düsteren Winkel, wo das Nest steht, erfühlt der Meister Gutjahr drei Eier. Sorgsam nimmt er sie heraus, um sie beim schwindenden Tageslicht zu begutachten. Aber! Bei meiner Seel! Was ist das? Mit wirbelnd schnellen Beinen rennt er über seinen Hof und ruft nach seiner Ottilie: „Da! Guck ha, Fra! Sowas hast du noch net gsehn, un iiiich a net“ Und damit hält er seiner treuen Ehegefährtin ein Ei entgegen – unzweifelhaft ein ganz richtiges, echtes wohlgeformtes schönes Hühnerei. Aber …  s c h w a r z !  Kohlrabenschwarz! So schwarz – ja, schwarz wie „Maine schworze Hänne!“

Die Frau versucht das Ei zu prüfen, aber er hält es fest! Das gibt er nicht aus den Fingern! Er erlaubt seiner Eheliebsten nur, mit angefeuchtetem Zeigefinger drüberzuwischen. Wirklich, es ist schwarz, es bleibt auch schwarz! „Nain! Dös is net gefärbt! Dös is ächt!“ Zwar äußert seine Frau Bedenken, ob das Ei nicht doch etwas gefärbt sein könnte. Aber, es wird probiert, das Ei auf die Spitze gestellt … das Ei ist roh. Um es zu färben, hätte man es ja kochen müssen. Behutsam wird das Wunderwerk in weiches Papier gewickelt. Das muss er morgen seinen Freunden zeigen und allen denen, die es sehen oder auch nicht sehen wollen. Dass „saine schworze Hänne“ hier ein kleines Wunder vollbracht hat, ist für ihn ohne allen Zweifel! Das sieht auch die Frau Meisterin schließlich ein. Ach! Auch sie hatte ja keine Ahnung von der Färbekraft und Haltbarkeit der chinesischen schwarzen Ausziehtusche, wie sie die Techniker für ihre Zeichnungen oft und viel verbrauchten.

Wer sollte auch auf den Gedanken kommen, dass einer der im Nachbarhaus wohnenden Techniker am Nachmittag, als sich seine Stubenkameraden mit dem Töpfereiehepaar vor der Haustür angelegentlich unterhielten, heimlich und flink über den Bretterzaun geklettert war und ein fein säuberlich schwarz angepinseltes, sonst aber richtiges, echtes, rohes Hühnerei in das Nest schmuggelte zu den beiden bräunlichen, die schon dort lagen.

Beim Mittagsschoppen am Mittwoch nach dem Wochenmarkt aber wurde das Wunderei am Stammtisch vorsichtig aus seiner Umhüllung befreit, und alle Stammtischfreunde durften es bewundern.

Es gab ein großes Hallo!

Aber auf dem Heimweg, als Meister Gutjahr seinen fast leeren Handwagen heimwärts zog, wunderte er sich kopfschüttelnd, was denn „die dummen Leut’“ da so zu lachen hatten, wenn er das Wunderwerk von „mainer schworzen Hänne“ auf der flachen Hand herumzeigte und – wer es hören wollte, bekam es wieder und immer wieder zu hören, was hier geschehen war.

Meister Gutjahr allerdings würzte seine begeisterte Rede über das von „meiner schworzen Hänne“ vollbrachte Mirakel mit einer Pointe, die, mit erhobenem linken Zeigefinger vorgetragen, seine Ausführungen krönte und wochenlang Gesprächsthema bei Jung und Alt im ganzen Städtchen war. 

Seine Lobreden gipfelten in dem unvergleichlichen Satz:

            „Dies schworze Ai hat kain anderer Mensch gelegt
            wie maine schworze Hänne!“ 


Biografisches zu Fritz Eller

* 1903, Themar; † nach 1967, Borna b. Leipzig

Lehrer
1906 zieht die Familie nach Hildburghausen. Seine Ausbildung als Lehrer erhielt er im Hildburghäuser Lehrerseminar und arbeitet in Thräna bei Borna. Seine Erinnerungen an Hildburghausen schrieb er Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Sehr engen Kontakt pflegte er mit seinem Lehrer Prof. Dr. Ernst Kaiser.




Die Gastwirtschaften in Hildburghausen haben manches Stück Geschichte erlebt und auch gestaltet. Eines der beliebtesten Lokale war das seit 1875 im Besitz des Brauereigentümers Gehring befindliche „Eskimo“ in der Unteren Marktstraße 22 (heute: „Markteck“ und Uhrmacher Martin). Gehring besaß auch das ehemalige Malzhaus in der Unteren Allee (gegenüber der ehemaligen „Dorfzeitung“/Druckerei „Offizin“). Er hatte den Spitznamen „Eskimo“, nachdem auch das Hotel-Restaurant benannt wurde. Einige Stammtische hatten hier ihr Domizil. Die Mitglieder waren meist Ortshonoratioren. Da wurde nicht nur über die große Politik palavert, hier gab es so manche bierselige Kuriosität, beispielsweise den Bügeleisen(stamm)tisch.

 

Weshalb der Tisch diesen Namen bekommen hatte? Die Frau des Hauses ließ eines Tages versehentlich das Bügeleisen stehen. Und es passierte, was passieren musste. Zurück blieben ein übler Geruch und ein schwarz eingebrannter Abdruck des Bügeleisens. Und daraus entwickelte sich eine possenhafte Tradition. Samstags – nach dem Großreinemachen – gehörte auch das kräftige Schrubben der Ahornplatte mit Scheuersand dazu, und als Krönung wurde wieder eine „frische“ Sengstelle eingebrannt.



„Bügeleisen-Tisch“ im „Eskimo“, Hildburghausen.
Verlag der Kesselring’schen Hofbuchhandlung (Max Achilles, Hildburghausen), um 1905, postalisch nicht gelaufen.




„Trantisch“ im „Eskimo“, Hildburghausen
Verlag der Kesselring’schen Hofbuchhandlung (Max Achilles, Hildburghausen), um 1905, postalisch nicht gelaufen.

 




Ansichtskarte für Hildburghausen, um 1910, verlegt von der Hofkunstanstalt Löffler & Co. im reußischen Greiz, der „Perle des Vogtlandes“, mit einem „sinnigen“ touristischen Werbetext im Beinahe-Sächsisch, den jeder leicht versteht: alle Einheimischen, die Studenten des Technikums und das Militär der 95er und vielleicht auch der eine oder andere hier Durchreisende. Immerhin, Hildburghausen hatte ja mit der Werra-Eisenbahn Anschluss an den Weltverkehr.
Der Text lautet: Eija, Heernse, das is Sie aber weeß Knebbchen eine scheene Gegend!
Was Knebbchen heißt? Das weiß doch jeder: Knöpfchen.
Tja, das Tourismus-Marketing beherrschte vor 100 Jahren auch beinahe jeder, immerhin kann man sich beim Lesen des Satzes etwas länger aufhalten.

 

Friedrich Moses
Dr Schinknknochn 

Ä Fra tut Arbessuppn kochn.
Sie setzt än große Topf voll bei
un käfft a nuch än Schinknknochn,
dan schteckt se in die Arbes nei. 

Un wie die Suppn fertig war,
da hatse nu ihrn Tisch gedeckt,
dan Schinknknochn doch zuvor
hatse halt nei ihrn Schrank gesteckt. 

Un acht Tag drauf gings widder so.
Da tutse widder Arbes kochn
un sögt sich leis: "Ich bin na froh,
dass ich nuch ha dan Schinknknochn." 

So gings a in der dritten Wochen,
da setzt se widder Arbes zu,
un der geplagte Schinknknochn,
der musst sei letzte Kraft hertu. 

Zwä Tag drauf kümmt die Nachbarn nei
un sögt: "Ich tu heit Arbes kochn.
Ach, wenn du na so gut wöllst sei,
borg mir ämal dein Schinknknochn."

Die Fra sögt: "Setz dich na ä weng,
mei Hausfra drohm, die hatn ahm,
die mussn numehr widder breng,
da kannste ne gleich mitgenahm." 

Un nacher in der verten Wochn,
da tutse widder Arbes kochn.
Doch aus warsch mit dan Schinknknochn:
Er hat halt nimmer schö gerochn.

Scherzpostkarten des „Hofphotographen“ Ferdinand Zink. Er übernahm 1890 das Atelier des Hoffotografen Hermann Straube. Zink errichtete um 1900 das Doppelhaus in der Oberen Allee (linke Seite, vom Goetheplatz kommend, gegenüber der heutigen Firma „Farben-Bauer“).



„Gruss aus Hildburghausen bei Nacht – Neueste Aufnahme bei Nacht.“
Gebrüder Metz, Kunstverlags-Anstalt, Tübingen, postalisch um 1900 gelaufen.



Alkohol ist keine Antwort, aber man vergisst beim Trinken die Frage.

(Henry Mon)

 




Postkarten um 1900



Es ist einfacher, Menschen zu täuschen, anstatt sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.

Mark Twain, 1835-1910, amerikanischer Schriftsteller
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