AEL Römhild
Zeitzeugenbericht
des niederländischen Häftlings
Dolf Van de Ven zum Arbeitserziehungslager der Gestapo auf dem Großen Gleichberg bei Römhild 1945
… Es fällt mir nicht leicht, über meine Gefangenschaft während des Krieges zu schreiben, denn es gibt so viele schreckliche Erlebnisse, dass ich sie nicht mehr schön der Reihe nach ins Gedächtnis zurückrufen kann. Diese Erlebnisse drängen sich fast gleichzeitig nach vorne – als kämpfen sie um die Vorherrschaft. Mich eine bestimmte Zeit zu konzentrieren, ist dadurch fast unmöglich. Plötzlich verdrängt die eine Erinnerung die andere; alles läuft durcheinander. Ein wenig Ordnung in die Vergangenheit zu bringen, strengt mich sehr an und macht mich für längere Zeit unruhig und reizbar. Die Frage: Hat das alles noch Sinn und Zweck – nach so langer Zeit? Trotzdem möchte ich Ihnen mal wieder schreiben, wenn auch nach längerer Zeit. Vorweg eine Berichtigung meines letzten Briefes. Auf Seite 2 habe ich mitgeteilt, dass ein paar Gefangene, wozu auch ich gehörte, vom Bahnhof Römhild bis zum Steinbruchlager Römhild mehrere Tote auf verschiedenen Fahrrädern nach oben geschoben haben. Das stimmte schon! Nur hieß mein Toter nicht Lehmann, sondern Ernst Neumann, war Berliner und während des Transportes im Zug von Berlin nach Römhild gestorben. Merkwürdig ist, dass so eine Erinnerung, plötzlich wie ein Funken, durch das Gehirn geht. So weiß ich auch wieder die Namen von anderen Deutschen, die in diesem Transport mitkamen, Adolf Wiegen, Berlin-Neukölln, Inhaber eines Geschäftes für Büro-Bedarfsartikel; Paul Leo, Leo war sein Familienname, er kam aus Zittau; Heinrich … war Oberkellner im berühmten Adlon-Hotel zu Berlin; Willi Ahrend (?), Oskar Hering (?). Dann waren da noch die Niederländer: Henk Wouters, Henk van Hal, Henk Moria und ich. Außerdem war ein Flame dabei: Jacques van de Velde. Es werden 150 bis 175 Gefangene total gewesen sein, die mit diesem Transport mitkamen; von allen Nationalitäten, vor allem: Russen, Polen, Tschechen, Serben, Kroaten usw. Die erste Nacht mussten wir in einem Stollen schlafen – wie schon geschrieben. Die anderen Nächte in einer langen Holzbaracke. Über eine breite Holztreppe gelangten wir auf den Speicher. Der Boden war aus Holzbrettern, das Dach war als Satteldach ausgeführt; der First ziemlich niedrig, die Beleuchtung spärlich. Hier schliefen wir; liegend auf dem Holzboden, in Lagerkleidung, ohne Betten, ohne Matratzen, ohne Stroh, ohne Decken und ohne Heizung. Wir lagen dort in zwei Reihen. Jede Reihe bildete eine Schlange von Gefangenen, dicht aneinander liegend, in eine S-Form des Körpers, um in der Kälte einander zu wärmen. Wenn einer seine Lage ändern wollte, wegen Schmerzen in den Hüften, musste die ganze Schlange sich drehen. Geschlafen wurde nicht viel, denn das Drehen geschah fortwährend – und man spürte dadurch immer wieder, wie kalt es oben war. Dass da eine Waschgelegenheit war – oder Handtücher oder Toiletten – davon weiß ich nichts. Draußen auf dem Platz war eine Toilette, wo man in zwei Reihen, Rücken gegeneinander, seinen Bedürfnissen nachkommen konnte. Alle hatten Durchfall, kein Toilettenpapier, kein Waschbecken, um Hände oder andere Körperteile zu waschen. Aber von dieser einzigen Toilette durften wir nachts keinen Gebrauch machen. Warmhalten war das Wichtigste, also kroch man so dicht wie möglich aneinander. Und dann dazu Wandläuse und Körperläuse. Wahrscheinlich war die Nacht nicht zum Schlafen gedacht. Nur zum Zusammenlegen, zur Einsperrung, damit größere Teile der Wachmannschaft ruhig schlafen konnten …
Am Tage mussten wir draußen arbeiten. Es regnete in der Zeit (Frühjahr 1945) sehr oft und lange Zeit hintereinander. Aber ich hatte Glück und wurde zu einer Lagertruppe eingeteilt. Sie musste den Appellplatz sauber halten, den Sammelkasten des Abortes leeren usw.
Die Verpflegung geschah im Freien: morgens und mittags eine Scheibe trockenes Brot (ohne Butter/Margarine) und abends eine ganz dünne Suppe (ohne Fleischbestandteile, nur zerschnittene Weißkohlblätter). An eine Lagerbeleuchtung kann ich mich gar nicht erinnern. Vielleicht gab es eine, aber die hat dann nie gebrannt. Ob die Stacheldraht-Absperrung doppelt war oder sogar unter Hochspannung gestanden hat, weiß ich nicht mehr. Flüchten war fast unmöglich. Die Gefangenen untereinander trauten sich nicht und waren immer bereit, eine Scheibe Brot extra zu verdienen, das ist aber ein Kapitel für sich, worüber man nirgends etwas lesen oder hören kann! Und die Wachmannschaft mit Schäferhunden passte schon auf. Wenn mal einer ausrückte, war er ein paar Stunden später wieder zurück im Lager. Mit Schäferhunden wurden die Wälder durchkämmt – und wohin sollte man in Lagerkleidung und mit kurzgeschnittenen Haaren – wo man noch nicht mal wusste, wo man in Deutschland war? Die Disziplin wurde von Gefangenen instand gehalten. Es gab so genannte Kolonnenführer. Viele bewarben sich um solch einen Posten. Dafür gab’s extra Brot oder Nachschlag der Suppe (wenn was übrig blieb). So einen Posten konnte man bekommen durch Verrat und Tricks. Vor der Mannschaft mussten die Kolonnenführer sich aber bewähren. Und das hieß: mit Knüppeln auf seine Mitgefangenen losschlagen, zu Recht oder zu Unrecht. Hauptsache: Die Wachmannschaft brauchte sich um die Disziplin oder Leistung nicht mehr zu kümmern.
Es wird ein paar Tage vor Ostern 1945 gewesen sein. Die Arbeit wurde eingestellt, nur der Steinbrecher arbeitete weiter, bis der Vorrat ein Ende nahm. In der Ferne donnerte es andauernd, wie ein aufkommendes Gewitter. Dazu flogen kleinere Flugzeuge immer wieder über das Lager hinweg und kreisten über die Umgebung. Wir kannten den Flugzeugtyp nicht und konnten die Nationalitäts-Zeichen nicht feststellen. Nachher stellte sich heraus, dass das amerikanische Aufklärungsflugzeuge waren. Und darauf wurde nicht geschossen. Wenn diese Flugzeuge sich hören ließen, mussten wir uns schnellstens an die Wände der Baracken verdrücken und durften uns nicht mehr bewegen, so lange, bis sie wieder verschwunden waren. Sie kamen aber immer wieder zurück. Geschossen haben sie aber nicht einmal auf das Lager oder auf uns. Die Wachmannschaft aber wurde immer nervöser und die Gefangenen rechneten mit einer baldigen Befreiung, hielten sich aber sehr ruhig. Denn sie ahnten, dass das dicke Ende noch kommen musste.
Am Sonntag, dem 1. April 1945, es war der erste Ostertag, kamen andauernd Frauen und Kinder an das Tor des Lagers. Sie wurden aber nicht hereingelassen und mussten dort von ihren Männern, die zur Wachmannschaft gehörten, Abschied nehmen. Nach dem Abschiednehmen blieben sie jedoch noch sehr lange dort stehen, bis sie endlich verschwanden. Gegen Mittag wurde Appell abgenommen. Da hieß es, dass das Lager geräumt würde. Wer Fußbeschwerden hatte, brauchte nicht auf Transport. Sie konnten ruhig im Lager die künftigen Geschehnisse abwarten. Sie mussten aus der Reihe treten und eine neue Kolonne bilden. So bildete sich eine Gruppe von, meiner Meinung nach 50 bis 60 Mann. Auch ich wollte mich dieser Gruppe anschließen, obwohl ich keine Fußbeschwerden hatte und sogar als einziger Gefangener sehr gute Polizeischuhe besaß, weil alle anderen Gefangenen auf Holzpantinen liefen. Aber als ich sah, dass ein Russe einen anderen Russen mit größter Gewalt wieder zurückbrachte in unsere Reihen, verstand ich ganz plötzlich weshalb. Ich dachte plötzlich: Hier hat die Mannschaft noch die volle Kontrolle und es ist alles möglich. Auf Marsch wird das anders sein; wir liefen 2 bis 3 km pro Stunde und die Amerikaner kommen uns fahrend nach. Die werden uns schnell einholen. Die Bewachung muss sich dann sehr schnell aus dem Staube machen und hat die Situation nicht mehr in der Hand. Das ist die größte Chance zu überleben. Diese Überlegung ging sehr schnell durch den Kopf.
So standen da 2 Kolonnen, unsere, die auf den Marsch ging: +/- 350 Mann; eine zweite Kolonne von 50 bis 60 Mann. Die zweite Kolonne marschierte in den Steinbruch und wir mussten vielleicht noch ¾ Stunde auf dem Appellplatz stehen bleiben. Es dauerte gar nicht lange, da fielen die ersten Pistolenschüsse im Steinbruch. Ich habe versucht, sie zu zählen. Ich kam bis 50 Schüsse, es können aber wesentlich mehr gewesen sein, denn es fielen auch Schüsse fast zeitgleich. Dann marschierte unsere Kolonne ab, als die Mannschaft teilweise sich wieder zu uns fügte.“
Briefausschnitt des niederländischen Häftlings Dolf Van de Ven an den Autor und Historiker Gert Stoi, Römhild, vom 14. Juli 1997.
Aus: Das Arbeitserziehungslager Römhild 1943 – 1945 – Dokumentation eines Verbrechens. – Salier Verlag Leipzig und Hildburghausen, 2010), S. 201 ff.
Mit freundlicher Genehmigung des Salier Verlags