Das Geleitwort
Der Bundesaußenminister und Vizekanzler a. D., Professor Hans-Dietrich Genscher, schrieb am 22. Februar 2000 das Geleitwort für die Dokumentation von Hans-Jürgen Salier und Bastian Salier „Es ist Frühling und wir sind so frei – Die 89er Revolution im Kreis Hildburghausen“.
Genscher, einer der verdienstvollen Architekten der Einheit Deutschlands würdigt die europäische Freiheitsrevolution und das Werk der beiden aus Hildburghausen stammenden Autoren.
Der Gesamttext kann auf den beiden Homepages www.dunkelgraefinhbn.de und www.schildburghausen.de nachgelesen werden. Er wurde in Zusammenarbeit mit Ines Schwamm gestaltet und aktualisiert.
Geleitwort
von Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher
In diesem Jahr jährt sich die deutsche Einheit zum zehnten Male. schon im vergangenen Herbst gab der zehnte Jahrestag des Berliner Mauerfalls Anlass für ein solches Jubiläum. Die Feiern lenkten den Blick immer wieder auf die Ereignisse von vor zehn Jahren, die im Herbst 1989 schließlich zu einer friedlichen Freiheitsrevolution führten, die der Teilung Deutschlands und Europas ein Ende setzte.
Der überwiegende Teil der Literatur, der sich mit der deutschen Einheit beschäftigt, tut dies aus dem Blickwinkel der Staats- und Regierungsebene. Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich mit den internationalen Aspekten der deutschen Einheit, der Rolle des geeinten Deutschland in dem nun zusammenwachsenden Europa. Nur wenige Publikationen aber gehen auf die Ereignisse im Herbst des Jahres 1989 ein, wie sie sich auf der im wahrsten Sinne des Wortes ursprünglichen Ebene der Freiheitsrevolution zugetragen haben, nämlich der der Menschen, die in der ehemaligen DDR und den Staaten Osteuropas in sozialistischen Regimen lebten.
Die vorliegende Chronik schließt diese Lücke und belegt einmal, dass es eine wahrhaft europäische Freiheitsrevolution war, die durch die Menschen in Gang gesetzt und von ihnen getragen wurde. Entscheidend für den Erfolg der Freiheitsrevolution in Deutschland, auch für die deutsche Einheit, war das Verhalten der Menschen in der ehemaligen DDR selbst. In der deutschen Geschichte ist mit dem Begriff „Stolz“ schrecklicher Missbrauch getrieben worden, vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das sollte uns nicht daran hindern, die friedliche Freiheitsrevolution in der früheren DDR als ein stolzes Kapitel deutscher Freiheitsgeschichte zu betrachten. Es vollendete sich, was 1848/49 gewagt und 1918 erneut versucht wurde. Deutsche, die friedlich für Freiheit und Einheit demonstrierten, das hat zur Mehrung des Ansehens des ganzen deutschen Volkes in der Welt beigetragen. Es hat uns alle in einem ganz ideellen Sinne reicher gemacht.
Die Freiheitsrevolution von 1989 – es war in Wahrheit eine europäische Freiheitsrevolution in verschiedenen Ländern des sowjetischen Machtbereichs – sind dem Mut der Menschen in der DDR, in Ungarn, Polen und in der Tschechoslowakei zu verdanken, aber in hervorragendem Maße auch der Verantwortung und der Weitsicht von Gorbatschow und Schewardnadse, die sich mit der Politik der friedlichen Veränderung für immer in das europäische Buch der Geschichte eingetragen haben. „Perestroika“ und „Glasnost“ als Freiheitsrevolution von oben widerlegten das Misstrauen, das ihnen anfangs entgegengebracht wurde. Ihr friedlicher Verlauf und ihr Resultat sind jedoch ohne die Entspannungspolitik und die vom KSZE-Prozess geschaffenen Rahmenbedingungen nicht denkbar. Im Sommer 1989 beriefen sich die ungarische Führung und ihr damaliger Außenminister Horn ausdrücklich auf die KSZE-Vereinbarungen zur Ausreisefreiheit, um DDR-Bürgern trotz entgegenstehender bilateraler Vereinbarungen mit der DDR die Ausreise in den Westen zu ermöglichen. Die Welt hatte den Atem angehalten, als die Außenminister Ungarns und Österreichs, Guyla Horn und Alois Mock, den Stacheldrahtzaun des Eisernen Vorhangs zerschnitten. Diese Entscheidung bedeutete die Verwirklichung des Rechts auf Freizügigkeit für Zehntausende ehemaliger DDR-Bewohner. Sie erging gegen den Willen der DDR-Führung, die Außenminister Horn vergeblich von der Notwendigkeit der Öffnung zu überzeugen versucht hatte. Sie bedeutete eine Zeitwende. Es dauerte nur zwanzig Tage, nämlich bis zum 30. September 1989, bis die DDR-Führung einsah, dass die Mauer auf Dauer keinen Bestand haben würde. Die Tore der deutschen Botschaft in Prag wurden schon mit Zustimmung der DDR-Führung geöffnet. Ohne den mutigen Schritt Ungarns, aber auch nicht ohne den Mut der Menschen, die damals den Mut fanden, die Grenze zu überschreiten, wäre diese Entscheidung nicht zustande gekommen, ohne diese Entscheidung nicht die Öffnung der Mauer in Berlin am 9. November.
Wie die Ereignisse von den Menschen in der damaligen DDR wahrgenommen, aufgenommen und in ihrem Bekunden eines eigenen Freiheitswillens umgesetzt wurden, das zeichnen Hans-Jürgen und Bastian Salier in ihrer Chronik nach. Sie lenken unseren Blick auf den kleinen Landkreis Hildburghausen in Südthüringen, nahe der damaligen Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, sie dokumentieren den Aufbruch, der mit dem Ruf nach „Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit“ in den größeren Zentren der damaligen DDR begann und sich bis in die kleineren Städte und Gemeinden fortsetzte.
Die Autoren zeichnen den Weg des demokratischen Aufbruchs von den Aufrufen der damaligen Bürgerinitiativen bis zu den ersten demokratischen Volkskammerwahlen am 18. März 1990 nach und betten die lokalen Ereignisse in den größeren Zusammenhang der Überwindung der deutschen Teilung ein. Die Empfindungen, Ängste und Befürchtungen angesichts der Auflehnung gegen das bestehende Regime und den damit einhergehenden zu befürchtenden Repressalien, aber auch die Dynamik des Aufbruchs und das Gefühl der so lange vermissten Selbstständigkeit und Freiheit angesichts des nahenden Endes der DDR, die noch Anfang Oktober des Jahres 1989 ihren 40. Jahrestag feierte, sind auf jeder Seite des Buches zu spüren und versetzen uns als Leser in die Lage, die damalige Situation der Menschen nachzuempfinden.
Der hier gezeigte Ausschnitt aus der Geschichte der deutschen Einheit mag zwar auf einen kleinen geografischen Bereich der damaligen DDR eingegrenzt sein. Für das Verständnis der Ereignisse von damals ist eine Aufarbeitung der Ereignisse im Kleinen – wie sie mit dem vorliegenden Werk geleistet wird – aber notwendig und wünschenswert. Nur so wird man der Tatsache gerecht, dass es die Menschen in der damaligen DDR und anderen osteuropäischen Staaten selbst waren, die mit ihrem Mut die Freiheitsrevolution ermöglicht haben.
Aufmerksam, detailliert und genau zeichnen die beiden Autoren das Bild des Aufbruchs nach. Sie wenden sich damit nicht nur an die Protagonisten der Kerzenlichtrevolution von vor zehn Jahren. Auch dem Leser aus der alten Bundesrepublik sei die Chronik, die den Weg der Revolution „von unten“ beschreibt, ans Herz gelegt. Insgesamt ergibt sich so ein eindrucksvoll dokumentiertes Bild, das Zusammenhänge deutlich macht oder wieder in Erinnerung ruft – in einer Zeit, in der die Einheit längst zum Alltag geworden ist oder von dessen Problemen überlagert wird. Dem Werk von Hans-Jürgen und Bastian Salier wünsche ich daher ein breite Leserschaft.
HANS-DIETRICH GENSCHER
Bonn, 22. Februar 2000