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Grabrede 1710


Grabrede für den Schulmeister Didelius aus dem Jahr 1710
 

Der Magister Michael Heinrich Reinhard hält für den Schulmeister Johann Wolfgang Didelius († 19.03.1710), der 72-jährig nach 25-jährigem Organistendienst und als 5. Lehrer der Stadtschule am 19.03.1710 stirbt, die Grabrede. In ihr werden die für die damalige Zeit typischen schulischen Verhältnisse charakterisiert: 

„Hat jemand sich an seinen Landes-Fürsten oder am gemeinen Wesen dergestalt versündigt, daß ihm der strenge Richter verdiente Leib- und Lebensstrafe zu erkennen sollte: den darf man nicht erst auf den Bau setzen, oder in einem Zuchthause Raspel heissen. Man braucht nicht ihn auf die Galeeren zu schmieden, oder auf einem Bergwerck arbeiten zu lassen, daß ihnen das Blut unter den Nägeln hervor dringet: Nein! Informet pueros (Er möge Knaben unterrichten, d. Verf.). Man stecke ihn nur in die Schule, und lasse ihn etliche Jahre unter den unbändigen Knaben schwitzen, er soll bald mürbe werden, besser, als wenn er mit der strengsten und härtesten Leibes-Strafe wäre gekerckert worden." 

„Der stete Ungehorsam, Boßheit, Halsstarrigkeit, Muthwillen, Dummheit der ungezogenen unartigen Jugend sind lauter scharffe Dornen und Spitzen, welche täglich seine Gedult durchbohren, und offt durch Marck und Seele dringen. Keine Profession unter der Sonnen ist, da mehr Härte, Widerspenstigkeit und Unmöglichkeit ist, als in der Schule. Wenn dem Bildhauer ja seine Statua nicht gerathen will, so schmeist er das Holz ins Feuer, und nimmt ein anders. Einem Mahler ist es um ein neues Stück Tuch oder Farben; einem Schuster um ander Leder zu thun, wenn das erste verdorben wäre. Aber hier ist nicht eines, sondern so viel grobe und nichtige Klötzer, die ihm täglich allen saueren Schweiß und Mühe vergeblich machen, die darff er nicht aus Ungedult wegschmeißen oder umgießen, sondern muß sich alle Tage von neuen plagen, ob er gleich offt schlechte Hoffnung hat, daß seine Arbeit endlich noch den Zweck erreichen werde. Da sind unzählige Hindernisse, die alles wieder verderben, was der Praeceptor (Lehrer, d. Verf.) mit Angst und Noth in langer  Zeit gezogen hat. Denn der Knabe darff nur unter böse Buben gerathen, oder er darff nach Hause kommen unter gottlose Eltern, zu ärgerlichen Gesinde; der von Natur verderbte Zunder wird bald fangen, und alles auf einmal verwüsten, was in der Schule gebauet worden ..." 

„Siehet er seine Kinder (der Redner meint die Kinder Didelius', d. Verf.) um den Tisch herum ... die ruffen eins ums andere nach Brod, da ist denn offtmahls Hunger, und es geschiehet gar wohl, daß er das Brod aus dem Mund nehmen muß, und den Kindern geben ... Die wenigsten glauben solches, aber es ist wahr, wollte mancher sich die Mühe nehmen, und den leeren Brod-Schranck, leeren Boden und Keller visitiren ... Ich achte Dreschen und Holtzschneiden vor ein ungleich leichtere Mühe und Arbeit, als Schul-Arbeit ... Und was das ärgste, wird ihm doch die ungeschmeltzte Suppe und das trockene Brod kaum gegönnet.“ 

 
Es ist einfacher, Menschen zu täuschen, anstatt sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.

Mark Twain, 1835-1910, amerikanischer Schriftsteller
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