Hildburghausen – Mittelpunkt Europas
in Sachen Fertigsuppen
Seit 1995 gibt es ein einmaliges Buch nicht nur in Hildburghausen, mit 460 Seiten Umfang und etwa 300 Abbildungen, eine Dokumentation zu einem Produkt, das in keinem Lebensmitteleinkaufsmarkt oder Discounter fehlt und in Millionen Haushalten oder bei Singles genutzt wird. Selbst die größte Zeitung Deutschlands mit den vier Großbuchstaben ließ es sich nicht nehmen, 1995 eine halbe Seite für das Buch aus dem Verlag Frankenschwelle Hans J. Salier zu reservieren. Die Präsentation gab es auch noch an einem weiteren einmaligen Standort, ebenfalls in Hildburghausen, in Trützschler’s Milch- und Reklamemuseum in der Knappengasse, am Bertholdstor, ein privates Museum. Zugegen war auch Irmgard Sendelbach, geborene Scheller (* 1904), Enkelin des Erfinders Rudolf Scheller, und 2. Ehefrau des Stadtbaumeisters und Heimatdichters Bernhard Sendelbach. Inzwischen war sie einundneunzig Jahre alt, aber geistig spukmunter. Und der Verleger war noch freudig dabei, direkt mit ihr zwei Bücher zu den Gedichten und Erzählungen ihres verstorbenen Mannes zu produzieren. Selbstverständlich war auch der Autor dieses dicken Buches, Volkmar Leonhard, aus Frankfurt am Main angereist, ein schon in die Jahre gekommener Neffe von Frau Sendelbach, der damals Rechtsanwalt einer deutschen Großbank war und der sich in seinem Leben auch der Genealogie verschrieben hat. Seit 2000 ist er Geschäftsführer und seit 2006 Vorsitzender im Institut für Genealogie, das im Bolongaropalast in Frankfurt-Höchst seinen Sitz hat.
Leonhard lässt den staunenden Leser alle Phasen wechselvoller Entwicklung aus dem Munde der Firmeninhaber miterleben. So erfährt er nicht nur, welche Überlegungen zu der Erfindung der Fertigsuppen geführt haben, sondern auch, warum die Suppen zeitweise an der Haustür von jungen Frauen vertrieben wurden. Er erlebt mit, welche Auswirkungen es hatte, dass Maggi und Knorr mit Macht auf den Markt drängten oder wie zwiespältig sich der Erste Weltkrieg auf die Produktion auswirkte.
Summa summarum: Für kurze Zeit war Hildburghausen der Mittelpunkt Deutschlands und Europas für ein Produkt, die fertigen Suppen.
Wer noch eines Nachschlags zur Thematik bedarf, kann seinen Wissenshunger im Stadtmuseum an einigen Originalstücken stillen, die noch vorhandenen Nahrungsprodukte haben das Verfallsdatum allerdings längst überschritten. Lassen wir Volkmar Leonhard zu Wort kommen:
Aus der Geschichte der „Ersten Fabrik condensirter Suppen von Rudolf Scheller Hildburghausen/Thüringen“ 1871 – 1947
Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Fertigsuppen in Deutschland, der Schweiz und Österreich sowie ein Blick in die Geschichte der Meerschaumwarenherstellung in Deutschland und in die Frühzeit industrieller Werbung.
Manche Schellersche Suppe brachte wohlschmeckende Abwechslung in den kargen Essensplan der letzten Zeit des 2. Weltkrieges. Als kleiner Junge hatte ich damals voll Staunen die Fabrikationsräume in dem mir so groß erschienenen Haus in Hildburghausen (Es handelt sich um das inzwischen mehrfach umgebaute Gebäude des ehemaligen Volkspolizeikreisamtes, heute der Polizeiinspektion Hildburghausen, d. Verf.) besichtigt. Ratternde Maschinen wurden von Transmissionsriemen, deren Welle an der Decke lief, getrieben. Ein besonderer Anziehungspunkt war für mich die Grünkernmühle in einer Art Gartenhaus, das im Garten mit einem Liebstöckelbusch davor stand. Damals erfuhr ich, dass die Pflanze nicht Maggikraut, sondern Liebstöckel heißt.
Dann rückten die feindlichen Truppen immer weiter vor, die Versorgungslage wurde immer schlechter. Schließlich wichen wir, die wir in Eisfeld in der Nähe von Hildburghausen bei einer Tante evakuiert waren, aus ins Coburger Land zu anderen Verwandten und kehrten schließlich nach Frankfurt/M. zurück. Vergessen waren für Jahrzehnte die guten Suppen. Erst im Zuge unserer Familienforschung erwachte das Interesse neu. Was war wohl aus Schellers, was aus der Suppenfabrik geworden? Mancher Brief wanderte zwischen den Familien hin und her, bis mich endlich Mitte der 80er Jahre überraschend ein großer Teil der Geschäftsunterlagen in vielen Kisten meiner Eltern, die inzwischen in Berlin wohnten, erreichte.
Eine Sichtung ergab schließlich, daß es nicht möglich war, auf der Grundlage dieser Unterlagen einfach eine Übersicht über die Firmengeschichte zu erlangen. Was tun? Den größten Teil der Firmenunterlagen bilden die Kopierbücher, die Kopien der ausgehenden Briefe, Karten und andere Schriftstücke enthalten.
Wollte man die Geschichte der Firma erfassen, so mußte man also vorwiegend diese Korrespondenz lesen. Doch wozu dies mühsame Geschäft, könnte man nicht in der Fachliteratur zur Geschichte der fertigen Suppen nachlesen?! Da fiel mir der Hinweis von Tante Irmgard (Irmgard Sendelbach, d. Verf.), der Enkelin des Firmengründers ein, daß die neuere Fachliteratur, soweit es sie überhaupt gäbe, leider gar nichts über ihren Großvater sage. Es werde nur etwas über Knorr und Maggi gesagt, so daß es danach so scheinen könnte, als ob diese die ersten und einzigen Firmen seien. Vor mir lag also eine Wahrheit, die keiner mehr kannte.
Im Zuge der Lektüre dieser Korrespondenz erschloß sich mir schließlich nicht nur die Schellersche Firmengeschichte, sondern ein großer Teil der gesamten Frühgeschichte der Fertigsuppen mit einer Vielzahl tätiger Firmen und Stufen der Produktentwicklung. Durch Hinweis in der Korrespondenz konnten vielfältige andere Quellen erschlossen werden.
Die Geschichte der Firma Rudolf Scheller, Hildburghausen/Th., ist keine Firmengeschichte im üblichen Sinne. Sie ist eher eine Art Familiengeschichte. Die Firma war bis auf eine völlig unbedeutende Zeit immer Einzelfirma, bei der das Firmengeschehen entscheidend von den handelnden Inhabern, den jeweiligen Familienmitgliedern, geprägt wurde. Für verschiedene Zeiträume fehlen genauere Unterlagen, so daß auf mehr zufällige Äußerungen im persönlichen Schriftwechsel zurückgegriffen werden muß. Ein weiteres Erschwernis beruht darauf, daß zeitweise zwei verschiedenartige Firmen mit verschiedenen Produktionszweigen in einem betrieben wurden, die seit 1860 bestehende Meerschaumwaren-Fabrik stellte bereits 1872 die Produktion ein, der Handel mit Meerschaumwaren aber lief, nachdem er längere Zeit fast nicht betrieben wurde, erst Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts aus. Seit 1871 bestand daneben die Suppenfabrik, die man für die spätere Zeit als Nährmittelfabrik bezeichnen muß.
Bei der Entwicklung der Firma spielte eine Rolle, daß sie in einem kleinen ehemaligen Residenzstädtchen wirkte, dessen Leben noch viel mehr vom Persönlichen mit all seinen Beziehungen geprägt war, als das Leben in größeren oder Großstädten, und in dem die Verwandtschaft in der näheren Umgebung – und auch weiteren – noch eine größere Rolle spielte. Man ist weltoffen, aber unternehmerisch, noch nicht so gewandt beim Geschäft und damit in engeren Grenzen befangen. Die Aufbruchstimmung um die Zeit der Einführung der Gewerbefreiheit von 1869, das heißt der Gründerzeit, ist aber auch hier lebendig. Man erfindet und gründet. Ausreichendes Kapital ist jedoch schwerer zu mobilisieren. So wird der Konkurrenzkampf leicht zu einem Überlebenskampf, wenn man die Grenzen der eigenen Stadt überschreitet.
Nach diesem Exkurs zurück in die Zeit um 1870/71. Wie sah damals der Markt vorgefertigter Lebensmittel aus?
Im Zuge der Welle des wirtschaftlichen Aufbruches und der Industrialisierung begann eine vermehrte Entwicklung und Herstellung vorgefertigter Nährmittel, die bisher zum Beispiel in Einzelfällen in Apotheken zusammengestellt und als eine Art Heilmittel vertrieben wurden, wie es bereits für die Bouillontafeln und Liebig’s Fleischextrakt erwähnt wurde. Ein anderes Beispiel sind das Milchpulver (1826) und das Kindermehl, das der Frankfurter Apothekergehilfe und Chemiker Heinrich Nestlé (1814 – 1890) erfand und seit 1867 in Vevey/Schweiz, wohin er ausgewandert war, produzierte. Das war schließlich eine der Grundlagen des größten Nährmittelkonzerns der Welt, der noch heute seinen Namen trägt. Ein Blick in die Biographie Nestlés zeigt außer der Berufsgleichheit eine gewisse Wissensverwandtschaft mit Rudolf Scheller.
In diese Zeit fällt auch der Beginn der Aktivitäten von Knorr und anderer späterer Konkurrenten in der Suppenfabrikation, die die Erfindung Rudolf Schellers nachahmen sollten. Bei Suppen fällt dann auch leicht der Name Maggi, dessen Produkte allerdings einen anderen Anfang nahmen. Nicht vergessen werden sollen hier die Schokoladentafeln, die Rudolf Scheller immer als Vorbild für die Tafelform seiner Suppen nannte. Damit genug des kurzen Ausblicks.
Zunächst fehlte es offenbar an den nötigen maschinellen Einrichtungen. Nach der Familienüberlieferung bastelte Rudolf Scheller an einer Maschine für die Formung der Suppentafeln, bis diese eine zufriedenstellende Leistung erbrachte. Keine Fabrik hatte eine solche liefern können. Als Vorbild für die Suppentafeln nannte er die Bouillon- und Schokoladentafeln. Welche genauen Zusammenhänge hier bestehen, wissen wir nicht. Die erste Form-Presse von 1871, eine Spindelpresse befindet sich heute im Stadtmuseum Hildburghausen. Wir wissen nur, daß es noch bis Juni 1872 dauerte, bis der Vertrieb begann, nachdem die Firma, wohl als ‚Fabrik condensirter Suppen von Rudolf Scheller in Hildburghausen/Thüringen‘, 1871 ins Handelsregister eingetragen worden war. Die nach unten konischen Suppentafeln hatten die Maße zirka 9 x 7 x 1,5 cm, von denen es noch eine Anzahl Formen gibt. Jede Tafel war für eine Teilung in sechs gleiche Teile, wie sich aus der Form ergibt, teilweise vorbereitet, wobei jedes Teilstück einem Teller Suppe entsprach. Über den technischen Ablauf der Produktion ist nichts bekannt. R. Scheller begann mit einer Auswahl von vier kondensierten Suppen: Reis-, braune Mehl-, braune Grieß- und Erbsensuppe. Die Kochzeit wurde mit 5 – 10 Minuten genannt. Die ersten Lieferungen im Frühjahr 1872 erfolgten in dem Städtchen Hildburghausen selbst und in die nähere Umgebung, zum Beispiel nach Suhl oder Saalfeld.
Bearbeitet nach: Volkmar Leonhard (Leonhards Text wird im Original veröffentlicht, also nicht nach der Rechtschreibreform bearbeitet)