Fragment Joseph Meyer
Die Zeichnung zu Meyers Turm auf dem Hildburghäuser Stadtberg stammt von seiner talentierten Tochter Meta Meyer.
Carl Joseph Meyer
Fragment.
Ich sitze auf “Hermannseck”* meinem Lieblingsplätzchen in meinem Garten. Vor mir, über lustiges Birkengesträuch hin, das mit Dörfern, Mühlen und Gehöften besäete Thal, dessen Boden ein weiter Wiesengrund mit Erlengebüsch, zwischen dem sich die junge Werra hinschlängelt, nur dann und wann silberne Blicke spendend. Bunte Saatfelder ziehen sich am Gehänge hinan, und über diesen reihen sich die mattfarbigen Beete der Kartoffeln, des Brodes des armen Mannes, bis zum Saum der dunklen Fichtenwälder, dem Schmuck der thüringer hohen Berge. Hie und da tauchen aus dem Dunkel des Waldes, wie Oasen, lichtgrüne Stellen auf, die Nähe der Walddörfer anzeigend, wo vor länger als einem Jahrtausend die Menschen mitten in der Wildniß rodeten und siedelten. Vorn am Waldsaum des Bleßbergs, an dessen majestätischer Pyramide im Zentralpunkte des Bergpanorama’s die anderen Höhen zu beiden Seiten in schöngeschwungenen Linien ablaufen, leuchtet das nette Kirchlein von Stelzen mit seinem Pfarrhause herüber; weiter links, aus dem Buchenhain eines Porphyrkegels, die Krocker Kirche mit ihrem schönen Thurm, und die Klause des Küsters und Schullehrers, beschattet von einer alten Ulme. Noch weiter hin, oben auf der einen Abdachung der Bergplatte, liegt wie ein Kücklein im Nest, die Häuserschaar von Waffenrod, wo in uralter Zeit die Waffenschmiede des Thüringer-Waldes das zähe Eisen geschmolzen aus den in der Nähe brechenden Erzen, das ihre Klingen und Panzer so berühmt machte: jetzt ein armes Dörflein, von Holzhauern bewohnt, denn das Gewerbe seiner Gründer ist längst verkommen. Links, tief unten, hinter Gemüsegärten und Parkanlagen, die jetzt verödet, ist Hildburghausen, die Stadt meiner Sorgen, meines Kampfes und meines verborgenen Glückes. Rechts aber, über den Nacken des Höhenzugs, der die Maingewässer von denen der Weser scheidet, findet das Auge einen Ausblick auf die schönsten Punkte des Frankenlandes. Aus zehnstündiger Ferne her leuchten mit Erz gedeckt die Thürme der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, und nahebei rechts guckt aus dem Walde das herrliche Abteigebäude von Banz hervor, ehedem ein Sitz der Schüler des heiligen Benedikt, jetzt ein Schloß der bayerischen Königsfamilie; noch tiefer im Hintergrund, die Aussicht beschließend, ragen die ungeheueren Felswände des Staffelstein, mit seiner Kapelle und dem Gnadenbilde, dem altberühmten Ziele von viel tausend Wassern! Jeder Tag kleidet die Fernsicht in andere Farben und läßt die hundertmal gesehene Gegend in anderen Schattierungen erscheinen. Und allemal ist’s schön und herrlich; aber am liebsten weilt doch der Blick in den thüringer Bergen. Nichts drüben als Wald und Wolken, kaum hin und wieder eine Blöße, über die ein Pfad in hundert Windungen klettert, oder ein Platz mit blinkenden Holzstößen oder die Rauchwölkchen von Kohlenmeilern und Hüttenwerken, Zeichen verborgenen Lebens und Fleißes. Bloß das Eine fehlt in dieser Waldansicht von meinem Hermannseck aus: die grauen Burgruinen, die jenseits des Rennstiegs von lustigen Bergeshöhen hineinschauen in das thüringer Land. Aber ein Steinhügel, kaum hundert Schritte rückwärts von meinem Sitz, öffnet mir die Burgenwelt des Frankenlandes; dort zählt mein Blick nicht weniger als fünf zusammen. Zunächst der Straufhain mit seinem ganz mit dem Fels verwachsenen Riesenthurme, und sein Nachbar, die Heldburg, mit ihren abenteuerlichen Formen, beide ritterlich, stolz und kühn in den Himmel ragend; - dahinter der Altenstein, die Wiege deutscher Männer, den schauerliche Blitze umspielen, wie die Sage geht, wenn das Vaterland in Schmach liegt und in Noth; - links Luthers Burg, die Veste Koburg, und ihr Nachbar, der Kalenberg, jetzt der prächtige Herzogssitz. Weit hinten am Horizont, in blauer Ferne endlich steht Bambergs, im Bauernkriege ausgebranntes altes Königsschloß, der Altenburg riesige Mauern auf hoher Felsenzinne. Kaum dem bewaffneten Auge sichtbar, begrenzen die lichtblauen Linien des Böhmerwaldes den äußersten Horizont. Sie scheiden Czechen von Deutschen, andere Völker, andere Sprachen, andere Sitten und andere Gesetze. Gleich einem Märchen aber glänzt von den Hasbergen her, über das kesselförmige, mit Dörfern bestreuete Tiefland, weiß wie Schnee, aus dem schwarzen Tannenwalde, die St. Ursula-Kapelle - eine weiße Taube vor schwarzem Gewölk. Dort stand ein Altar Thors, und die Sage geht, Bonifaz habe das Kreuz an seine Stelle gepflanzt; noch wird es von Wassern besucht. Wem wird das Herz nicht höher schlagen bei dem Namen dieses Apostels, der zu den größten Menschen seiner Zeit zu zählen: das Ideal eines christlichen Priesters und Helden. Wo sind sie hin, Bonifaz, Luther? Und wenn sie jetzt da wären, was wäre aus ihnen geworden? Die Burgen und Kapellen tragen an kolossalen Leichensteinen ihre Namen, und den ihrer Zeit. Ihre Herzen, so flammend für die Wahrheit und die Liebe, was würden sie fühlen, lebten sie in unseren Kämpfen, trügen sie unsere Niederlagen, unsere Schande, unsere Wunden, unser Leid. Sie standen auf den höchsten Warten der Menschheit und sind von hinnen gegangen, ohne den Sumpf zu berühren, der uns Alle begräbt. Die Glücklichen! Wir machen mit unserem Herzblut Geschichte, und sterben unter Ruthenstreichen.
Nicht schöner ist die Aussicht von Hermannseck, als wenn die Abendsonne die Landschaft vergoldet und die Berge lange Schatten hineinwerfen. Dann haben die Burgen etwas Märchenhaftes und die Sage wird lebendig, die um Mauern und Thürme spielt. Wenn dann unten aus dem Thale die Schafheerden heimziehen, zu der Hürde an dem steilen Gehänge, und meine Arbeiter singend des Weges heimwandern in ihre Dörfer, und der Himmel seine Purpurdecke ausspannt über das liebe Thal, als wäre es die Wiege eines Königs, und die weißen Nebel über dem Flusse und dem grünen Wiesengrund auf- und abziehen, und die Wehre des Flusses ihren Choral spielen, in den das Rauschen der Baumkronen begleitend einstimmt - dann wird Alles zur Verklärung um mich, und von der Außenwelt dringt sie ein in mein Innerstes.
* Gemeint ist Joseph Meyers Berggarten mit Turm auf dem Hildburghäuser Stadtberg.
Aus: Meyer’s Universum. – Bibliographisches Institut Hildburghausen, 1857, Bd. 17.
Zum Werk
Joseph Meyer beginnt 1833 mit der Edition seiner originellsten, genialsten und weltbekanntesten Schöpfungen „Meyer's Universum oder Abbildung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde”, („... eines belehrenden Bilderwerkes für alle Stände“). Die Texte bis zu seinem Tod (1856) stammen von ihm. Das bis 1864 erscheinende “Universum” entspricht seiner Zielstellung: “Die Intelligenz Aller ist der stärkste Hort der Humanität und der Freiheit.” (12 Monatshefte mit je 3 - 4 Stahlstichen, bis Meyers Tod 710 Stahlstiche im Querformat und ca. 2.800 Textseiten). Insgesamt 17 Bände, produziert in 12 Sprachen, allein in Deutschland 80.000 Abonnenten. Das „Universum“ ist ständig Zielscheibe der Zensur. Für Österreich werden die Texte „gereinigt“ (Die Drucker des Bibliographischen Instituts bezeichnen sie als „dumme Ausgaben des ‚Universums’”), in Preußen wird es 1850 verboten; die Leitung des „Universums“ übernimmt später Dr. Friedrich Hofmann, der nachmalige Chefredakteur der „Gartenlaube“.