Eine Seite für Hildburghausen

Aufs Seminar

Wolfgang Rinecker

Der Leopold, Sohn des Nachbarn Gottlieb Kirchacker, saß in der Schule obenan. Er sollte, dachten sein Vater und der Pate, ein Schulmeister werden. Der Herr Pfarrer und der Herr Lehrer redeten auch zu. Jeden Sonnabend, nach dem Gebetläuten, ging der hoffnungsvolle Jüngling ins hintere Dorf und erlernte beim Franklin Kolb das Geigen.

Er war auch ein Schlauberger, der Leopold; einmal in der Woche nämlich, am Donnerstag, lief er mit einem Eimerchen nach Heßlach in die Brauerei und ließ sich Bierhefe geben, die sonst weggeworfen wurde. Sie kostete ihn also nullkommanull Mark oder Pfennige. Noch nicht einmal Schuhsohlen, weil er barfuß losrannte.

Die Rodbühler Leute, um die Kirche im Dorf zu lassen, kauften ihre Hefe bei Leopold Kirchacker, sie mussten dafür einen Pfennig bezahlen.

So verdiente der junge Handelsmann im Monat an die drei Mark. Der Frau Lehrer gab er die Hefe jedoch umsonst, weil er ein Kollege ihres Mannes werden wollte, und da drückt man schon mal ein Auge zu.

Er sollte also nach Ostern ins Seminar eintreten und ein Schulmeister werden. Über die Schlacht im Teutoburger Wald wusste er so gut Bescheid wie über die fünfundneunzig Thesen, die der Doktor Martin Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg schlug, ausgerechnet am Reformationstag des Jahres fünzehnhundertundsiebzehn. Und das Deutsche Reich, mit Seiner Majestät dem Kaiser an der Spitze, besaß in Afrika vier Kolonien sowie eine im Stillen Ozean und Tsingtau.

Die Rodbühler hielten die bestehende Ordnung für gottgewollt; in den Städten und in Sachsen jedoch gab es Leute, die diese Ordnung in ein Chaos vertauschen wollten. Das waren die vaterlandslosen Gesellen, und sie selbst nannten sich „Sozi“, was aus dem Wörterbuch des Teufels stammte und soviel wie Gottesschänder hieß oder auch Einbrecher und Mauser. Das hatte Leopold gelernt und war somit bestens vorbereitet fürs Seminar.

Sonnabends musste er seine Geige mit in die Schule bringen, und er und der Herr Lehrer spielten zweistimmig „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“ und „Bei Straßburg auf der Schanz“, wozu die anderen Kinder sangen. Nikolaus Langkönig bekam eins übers Maul gewischt, denn er zog fürchterlich ab. Der Herr Lehrer fuhrwerkte mit dem Geigenstecken zwischen den Zähnen herum, aber es half nichts.

Der Landesvater wachte über das Wohl und Wehe seiner Landeskinder. Für das Dorf Rodbühl ließ er sich vom Herrn Superintendenten Großkopf vertreten. Diesem hohen geistlichen Herrn, der in Hildburghausen residierte, musste der Leopold Kirchacker vorgeführt werden, denn der Landesvater, der alte Herzog, sollte das Schulgeld für seine künftigen Beamten ans Seminar bezahlen.

Am Gründonnerstag mussten sie sich einfinden, Nachbar Gottlieb Kirchacker und sein hoffnungsvoller Sohn Leopold, Besitzer des örtlichen Hefemonopols. Auf den Glockenschlag zehn Uhr und dreißig Minuten mussten sie sich beim Herrn Sekretär des Herrn Superintendenten melden.

Darum war tagelang große Aufregung in Gottlieb Kirchackers Haus gewesen. Die Sonntagsstiefel wurden schon tags zuvor gewichst, nicht nur einmal. Musikmeister Franklin Kolb, der das ehrsame Handwerk eines Barbiers versah, erbarmte sich der Köpfe und schnitt auch an Gottliebs schönem Bart herum, dass es eine Art hatte.

Dem kugelköpfigen Leopold wollte jedoch aus der ganzen Freundschaft kein Hut passen, bis Gottliebs Vetter, der Gastwirt und Nachbar Max Kirchacker, mit seinem zweitbesten Stück aushalf. „Aber nicht hängenlassen, Leopold, wenn ihr einkehrt; bring ihn wieder mit.“

So ausgerüstet, in den Feiertagsgewändern, traten Vater und Sohn die Reise in die Stadt an, die blankgewichsten Stiefel im Sack, den sie, einander abwechselnd, über der Schulter trugen. An den Füßen Tatschen aus alten Lumpen.

Eva, das Eheweib und die Mutter, hatte anempfohlen, dass sie unterwegs Psalmen beteten, den einhundertachten oder auch den sechsundachtzigsten.

Es war ein schöner Morgen, an manchen Stellen lag noch etwas Schnee, der Weg war steinhart gefroren. Trotzdem zwitscherten schon ein paar Frühlingsvögel.

In Weitroda verweilten die Wanderer etwas, weil freundliche Nachbarn sie ansprachen und nach ihrem Befinden fragten, natürlich auch etwas hören wollten.

Lange vor der Zeit erreichten sie die Stadt und kehrten bei Gottliebs entferntem Vetter ein – um fünf Ecken Freundschaft, aber man hielt sie hoch –, der betrieb eine kleine Sattlerei. Doch kamen sie zu etwas ungelegener Zeit, der Meister konnte sich ihnen nicht widmen, weil er das Riemenzeug für das Gespann des Herrn Kreisarztes ausbessern mußte, und der Kutscher wartete darauf.

Die Lumpentatschen herunter und die gewichsten Sonntagsstiefel an. Der Herr Vetter und Meister schaute in die Küche und fragte: „Was pressiert's denn mit euch?"“ Er nickte anerkennend mit dem Kopf, als er hörte, welches Anliegen die Männer aus Rodbühl in die Stadt führte. Sogleich hieß er seine giftige Haushälterin, den Vettern ein Frühstück zu richten und auch eine Kanne Bier auf den Tisch zu stellen.

Leopold würgte an jedem Bissen. Er war dem Herrn Superintendenten schon zweimal begegnet, als der hohe Herr die Rodbühler Schule visitierte und am Benehmen der Mädchen und Jungen manches auszusetzen fand, aber nicht an dem vom Herrn Lehrer selbst verfassten Huldigungsgedicht, das Meta Conrad und Leopold gemeinsam aufsagen mussten. Leopold erinnerte sich der scharfen Brillengläser, die böse umherfunkelten.

Die große Angst trieb den Jungen dreimal auf das gewisse Örtchen, das sich in einer versteckten Ecke des Sattlerhofes befand und in dessen Tür ein herzförmiges Guckloch geschnitzt war.

Einmal dachte er daran, dass heute der Tag war, an dem er in Heßlach Bierhefe holen müsste – hätte er das wichtige Geschäft nicht ausnahmsweise schon mittwochs erledigt gehabt.

Kam die Phantasie über Leopold, dann hielt er sich für einen großen Handelsherrn, den Augsburger Fugger etwa, der so sehr mit guten Goldstücken eingedeckt war, dass er es sich leisten konnte, die Schuldverschreibung des Kaisers zu zerreißen. So hoch hielt der reiche Krämer das Vaterland.

Dann war es soweit, auf den Glockenschlag zehn Uhr und dreißig Minuten. Vater Gottlieb betätigte den Glockenzug am imposanten Amtshaus des Herrn Superintendenten. Leopold klemmte die Schinken zusammen, aus ganz bestimmten Gründen.

Es verging eine Weile, im Haus war es still, dann öffnete ein Bediensteter, der Vater und Sohn so blöd wie hochmütig anblickte und verächtlich fragte: „Was ist?“

Leopold machte einen Kratzfuß, wie es ihm vom Musikmeister und Barbier Franklin Kolb beigebracht worden war, Vater Gottlieb sagte nur freundlich: „Zum Herrn Superintendenten, lieber Freund.“

De Bedienstete wendete sich um und schlurfte ihnen wortlos voran, sah sich nicht einmal nach ihnen um. Sie wurden in ein Zimmer geführt, an dessen Tür das gewichtige Wort „Kanzlei“ stand. Ein Herr mit einem Ziegenbockgesicht und einem steifen Kragen saß an einem großen Schreibtisch und sah sie nicht an. Das war der Herr Sekretarius, in alle frommen und geheimen Amtsdinge eingeweiht.

Die beiden Rodbühler, Vater Gottlieb und Sohn Leopold, blieben an der Tür stehen, wagten vor Ehrfurcht und Bescheidenheit nicht, sich in dem hohen Raum umzusehen, stierten abwechselnd auf den in den Händen gedrehten Hut und auf die gewichsten Feiertagsstiefel, dünkten sich klein und nichtig vor dem wichtigen Herrn mit dem steifen Kragen.

Gottlieb hatte vor Jahren einmal im Katasteramt einsprechen müssen, doch das war nur von halber Vornehmheit. Denn da hatte er mit einem Amtmann zu tun, der nur freundlich herumschnauzte, ihm gar einen Stuhl anbot und sich mit ihm über die Rodbühler Jagdverhältnisse unterhielt.

Endlich sagte der Sekretär etwas. Er sagte: „Äh.“ Und schwieg dann wieder.

Gottlieb Kirchacker und sein Sohn Leopold richteten sich sofort auf und sahen den amtlichen Herrn an. Der Herr Sekretarius war mit einer wichtigen Arbeit beschäftigt, er legte Aktenblätter übereinander, rückte sie hin und her, seufzte manchmal und räusperte sich auch gelegentlich.

Als er die Akten zum fünften Male umgestapelt hatte, fragte der Herr Sekretär: „Ihr seid aus Rodbühl?“

Gottlieb Kirchacker katzbuckelte und kratzfußte; und Leopold katzbuckelte und kratzfußte noch etwas tiefer. „Ja“, erwiderte Gottlieb, er sei der Gottlieb Kirchacker aus Rodbühl und dies sein Sohn Leopold, „zum hochwohlgeborenen Herrn Superintendenten vorgeladen, wenn es beliebt, Herr Sekretarius.“ Und dachte, dass er lieber das Wörtchen „wohlgeboren“ vor den Sekretarius hätte setzen sollen.

Nun ja, so also, und ob sie einen guten Weg gehabt hätten am heutigen Gründonnerstag, fragte der halbgeistliche Herr Sekretarius, die Amtsperson.

„Zu dienen, Herr Sekretarius“, erwiderte Gottlieb artig, „tüchtig ausmarschiert und dem Herrn ein Loblied gesungen, wie es uns ländlichen Christenmenschen ziemet.“

Es hing eine Uhr im Zimmer, die zeigte zehn Minuten über die vom Herrn Superintendenten bestimmte Zeit. Der sei übrigens, meinte der Herr Sekretarius so nebenhin, gar nicht anwesend, sondern visitiere eines der ihm anvertrauten Dörfer.

Nun ja, dachte Gottlieb, diese hohen Herren sind freilich nicht nur für unsereins auf der Welt, beileibe nicht, das soll man gar nicht erst denken.

Der Sekretär musterte Leopold und fragte dann Gottlieb: „Warum soll der Bursch nicht ein gottgefälliges Handwerk erlernen? Er ist stramm und groß.“

Er habe eben die Gaben, dass etwas Besseres aus ihm werde, antwortete Gottlieb, so sagten jedenfalls der Herr Pfarrer und der Herr Lehrer. „Darum, mit Gottes Hilfe, soll er es versuchen und Schulmeister werden.“ Leopold war zumute, als krabbelte ihm ein großes Ameisenvolk über den nassgeschwitzten Rücken.

Gottlieb Kirchacker jedoch, und so wenig auch sein Sohn Leopold, konnten nicht wissen, dass auf die Freistelle auch der Schwager des Herrn Sekretarius reflektierte, für seinen ältesten Sohn. Denn es wurde heuer im Kreis Hildburghausen nur dieses einzige Stipendium vergeben. Das hing mit den Stiftungsgesetzen zusammen; in jedem Schaltjahr musste ein Platz nach der Herrschaft Kranichfeld vergeben werden.

Wenn nun der Schwager die verbleibende Stelle für seinen Sohn erhielt, wollte er der Frau des Sekretärs eine Wiese überschreiben lassen, und die sollte dann um gutes Geld als Baugrund verkauft werden. Und von diesem Geld konnte die Tochter des Sekretärs eine schöne Ausstattung erhalten und endlich den Provisor der Apotheke heiraten. Und mit Gottes und einer anderen Stiftung Hilfe konnten sie gewiss auch einmal zu etwas Eigenem kommen.

Es wäre da also, sagte der Herr Sekretarius, im Unterland ein armer Mann, der neun hungrige Mäuler zu stopfen habe. Und der Bub, um den es sich dort unten handle, der sei von arg schwächlicher Konstitution, so dass er sich nicht in einem Handwerk fortbringen könne – zudem schwache Augen, die es ihm verböten, etwa als Schneider die Nadel zu führen. Ja, was aus dem armen Kerl wohl werden solle, nähme ihm der kräftige und vor Gesundheit nur so strotzende Leopold Kirchacker den Freiplatz weg. Mit seiner körperlichen Kraft könne sich der Rodbühler wohl im Leben selber weiterhelfen. Was da wohl der Herr und Heiland getan hätte?

Gottlieb wusste, dass die Sache schon im vornherein gegen ihn entschieden worden war. Er war aber von Herzen froh, dass ihm der liebe Herrgott und seine Frau Eva lauter solche kräftige und kugelköpfige Kinder wie den Leopold geschenkt hatten. Und darum sagte er tapfer: „Der Leopold wird schon, mit Gottes Hilfe, ein rechtschaffener Mann werden, Herr Sekretär, er ist so stark wie fleißig.“

„Ihr seid ein guter Mann, Gottlieb Kirchacker, gottesfürchtig und barmherzig“, salbte der Sekretär und brachte die Rodbühler bis an die Haustür, gab ihnen auch in Vertretung seines Herrn Vorgesetzten Gottes Segen mit auf den Weg.

Heimzu gingen die beiden Rodbühler wieder in ihren Lumpentatschen. Leopold war so böse nicht über den Ausgang der Geschichte. Aber nachmittags, als er die am Tage zuvor in Heßlach geholte Hefe austrug, musste auch die Schulmeisterin ihren Pfennig bezahlen. Und von da an immer. 

Nach: Wolfgang Rinecker: Meine Rodbühler Geschichten. – Greifenverlag, Rudolstadt, 1971.

Biografie Rinecker

 
Es ist einfacher, Menschen zu täuschen, anstatt sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.

Mark Twain, 1835-1910, amerikanischer Schriftsteller
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