Eine Seite für Hildburghausen

Noch eine Westreise und eine „Buchpremiere“

® Hans-Jürgen Salier

Notizen aus der ersten Novemberdekade 1989

(Geschrieben 1. bis 4. Oktober 2011)

Das von Peter Fischer, Berlin, und HJS geschriebene Buch Klassische Briefmarken Geschichten zum 150-jährigen Jubiläum sollte zur Ausstellung „PHILATELIE IN DER DDR“ auf der PHILATELIA Köln 89 (3. bis 5. November 1989) erscheinen. Eine Premiere wurde nicht geplant, denn dann hätte man die Reise finanzieren müssen. Von diesem Termin erhielt HJS Ende September von Verlagsdirektor Dr. Harald Böttcher (transpress VEB Verlag für Verkehrswesen Berlin) Kenntnis: „Die Devisensituation ist für den Verlag derart angespannt, die Reise können wir dir nicht finanzieren. Sieh mal zu, wie du das arrangieren kannst.“ Eine Lösung sah HJS schon. Es gab Verwandtschaft zweiten Grades im bergischen Wuppertal. Und da gab es eine Reise-Verordnung, um die nicht mehr so sozialismusgläubigen DDR-Bürger etwas ruhiger zu stellen, denn viele wollten reisen. Vielleicht gehörte diese Reiseerleichterung zu den in Geheimverhandlungen erzwungenen Zugeständnissen. Überlebensnotwendige Kredite aus der Bundesrepublik waren inzwischen ein Lockmittel für den Klassenfeind. Auch wenn HJS politisch motivierte Kredite verabscheute, weil sie den Untergang der DDR hinauszögerten, waren sie in dieser Situation für ihn sehr nützlich. Pragmatik. Die Reise-Verordnung besagte, dass man u. a. bei Todesfällen in der Verwandtschaft bis zum soundsovielsten Grad noch bis zu einem Vierteljahr später reisen durfte. Die Möglichkeit nutzte er, denn die angeheiratete Tante war Anfang August 1989 verstorben. Für die Beantragung von Westreisen wurde so manches „zurechtgerückt“.

Ende Oktober 1989 saßen die Reisenden ziemlich locker und ohne Beklemmungen im Interzonenzug – nicht verkrampft und schweigsam wie Monate zuvor. Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren geld- und demogemäß anders gestrickt. Die klassenbewussten Genossen verbreiteten wegen der Angst keine Angst, sie waren gegen die Gewohnheit plötzlich höflich. Wer versteht noch diese Dialektik?

Stasispitzel waren weiterhin in den Reichsbahnwaggons Richtung Gerstungen – Bebra zur Weiterfahrt in die Bundesrepublik anzutreffen. In der DDR gab es letztlich Vollbeschäftigung. Jeder hatte in dem sozialistischen Vorzeigestaat eine Aufgabe, auch wenn er Lump spielen musste. Da man in „Feindesland“ fuhr, wurden die Eisenbahntüren auch noch von außen verriegelt. Ein Vaterlandsverräter hätte die Gunst der Stunde nutzen können. Ein Aus- oder Zusteigen im komplizierten Grenzbereich um Eisenach war verboten, sogar lebensgefährlich. Es gab ein ausgeklügeltes System an Sicherheitsmaßnahmen. Zum anderen war die Absicherung durch die Personenkontrolleinheiten (PKE) der Stasi in den Uniformen der Grenztruppen und der Transportpolizei gegeben. Niemand aber nahm diese Typen Ende Oktober 1989 noch richtig wahr. Die Menschen hatten längst begonnen, selbstbewusster zu denken und mit den Füßen abzustimmen. Nur Träumer und Liebhaber des DDR-Sozialismus nahmen ihr Leben selbst nicht in die Hand. Die Zwangsehe mit der DDR stand auf dem Prüfstand und wurde befreiend gelöst. Scheidung mit Begeisterung – ohne Anwalt. Wenige Wochen zuvor waren die martialisch auftretenden Grenzwächter und die bewaffneten Organe insgesamt mehr als gefürchtet. Für unsere Brüder und Schwestern im Westen waren alle Uniformierten Vopos und Stasis und alle Autos Trabis. Die Stimmung war heute anders. Plötzlich saßen keine fremden Menschen im Abteil. Man war sich vertraut. Es wurde gelacht, selbst maßvolle politische DDR-Witze wurden erzählt und Reiseziele besprochen, aber auch über die andere politische Kultur und Freiheit in der Bundesrepublik debattierte man verhalten. Den Reisenden war ziemlich egal, ob vielleicht ein Spitzel neben ihm saß. Inzwischen lebten wir in einer beinahe anderen DDR. Die Herrschenden hatten Angst, die Nerven lagen blank, nicht nur wegen der Leipziger Ereignisse. Die allmächtige Sowjetunion war von Glasnost und Perestroika „beherrscht“, die tapferen Polen mit ihrem Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa hatten in den achtziger Jahren mit ihrem Widerstand längst Weltsympathie erworben, Papst Johannes Paul II. war ein entschiedener Gegner des Kommunismus, US-Präsident Ronald Reagan forderte am 12. Juni 1987 in Berlin mit fester Stimme den Jahrhundertsatz „Come here to this gate! Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!“... Ungarn durchschnitt den Stacheldraht des Eisernen Vorhangs, die Staatsmänner Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher rückten nicht ab vom Ziel des Grundgesetzes, in das die Einheit des deutschen Vaterlandes festgeschrieben war. – Unglaubliches ereignete sich in den neunundachtziger Herbsttagen: Botschaftsbesetzungen, massenhaft Demonstrationen selbst im tiefsten Provinznest, das Wunder der Heldenstadt Leipzig, Hunderte Städte und Dörfer mit aufmüpfigen und systemkritischen Bürgern, bewunderte Solidarität nicht nur in der freien Welt und disziplinierte und selbstbewusste DDR-Bürger. Die Kontrolleure waren beinahe zuvorkommend. Es wurde nicht mehr gefilzt und geschnauzt, sondern nett gefragt und niemand der gelernten DDR-Bürger war sonderlich beeindruckt. Das Leben machte plötzlich Spaß und Herzinfarktgefahr drohte nicht.

In der Verwandtschaft gab es große Freude. man kannte sich von Besuchen und Familienfesten. Es gab Postsendungen und Telefonate. HJS wurden eine großartige Gastfreundschaft und nächtelange Gespräche zuteil. Er kam sich vor wie eine Tonband-Endlosschleife. Überall wurde gefragt, wie es in der DDR weitergehe. Zudem hatte HJS im bergischen Land noch zwei leistungsstarke Tauschpartner für postgeschichtliche Themen und Fachliteratur. Auch sie besuchte er. Es gab ein Wiedersehen mit einem Rechtsanwalt und Tauschfreund in Düsseldorf, mit Freunden in Karlsruhe und nahe Pirmasens, nur knapp zehn Autominuten von der französischen Grenze entfernt. Dort holten wir für das Frühstück übrigens die wunderbaren französischen Weißbäckereien und die leckeren Pastetchen, und das alles ohne Visum. Bevor die PHILATELIA in Köln an die Reihe kam, besuchte HJS noch einen Freund und Tauschpartner in Oberursel, den er seit 1958 kannte. Er hätte die Welt umarmen können.

Dann kam der wichtige 3. November 1989, ein Freitag, und die Fahrt zum Kölner Messegelände. Auch bei dieser zehntägigen Reise war Ausschlafen nicht angesagt. Die Ereignisse und Begegnungen wurden aufgesaugt. Zu lange lebten wir in staatlich verordneter Abstinenz. Mit einem Cousin fuhr er per Bundesbahn nach Köln. Bereits vor der offiziellen Eröffnung der Briefmarkenmesse mit der DDR-Schau waren wir da. Vor dem Eintritt in das noch verschlossene Messegelände großes Erstaunen. „Ist das nicht ‚Ben Wisch’?“ Ja, es war Hans-Jürgen Wischnewski (1922 – 2005). Um den „Feuerwehrmann der Nation“ drei Bodyguards, ein hoher Sicherheitsaufwand für einen alten politischen Haudegen, der gleichsam in der Welt geschätzt und gefürchtet war. Feinde der Extremisten bedürfen immer der Sicherheit. Der ehemalige Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Kabinett Kiesinger und Staatsminister bei Brandt und Schmidt wurde mit seinen Sondermissionen in Afrika, im arabischen Raum und in Südamerika zu einem weltbekannten Politiker, manchmal sicherlich auch umstritten, aber immer glaubwürdig. Jeder weiß, wer er ist, wenn man die Wortgruppe „Held von Mogadischu“ hört. Ein SPD-Politiker, der sich klar vom Kommunismus abgrenzte, ein Mensch von Friedensnobelpreis-Format. Aber auch im Hobbybereich hatte HJS in geschmuggelten Fachzeitschriften eine Menge Kolumnen von Wischnewski über die Philatelie und vor allem über seine berühmte Deutschlandsammlung, vor allem auch Altdeutsche Staaten, gelesen. Ein wunderbares und kenntnisreiches Philateliebuch hatte er später verfasst: „150 Jahre Deutschland auf Briefmarken“. Von ihm stammt das Zitat: „Briefmarken sind das Geschichtsbuch eines Landes.“ Das Vorwort schrieb sein Freund und Weggefährte Helmut Schmidt. Durch Zufall ergab sich ein kurzes Gespräch. Er sagte, und da war HJS mehr als stolz, dass das 1977 von Dr. Reum und ihm verfasste Buch „Die Thurn und Taxisschen Ortsaufgabestempel in Thüringen“ in seiner Bibliothek stehe, dass es ihm vor allem wegen der Kompliziertheit der Kleinstaaterei auf Thüringer Gebiet beim Sammeln sehr geholfen hätte. Wir sprachen noch kurz über das Buch mit Peter Fischer „150 Jahre Briefmarken“ und orakelten hoffnungsvoll zur Perspektive des deutschen Vaterlandes. Er sah die deutsche Einheit voraus.

Es ist nicht zu glauben und  bedeutungsvolle Ereignisse sind manchmal mehr Zufall als steuerbar. Wenige Minuten später kam es zu einer weiteren sternstundenartigen Begegnung. Das mehrmalige Zusammentreffen und Vier-Augen-Gespräche mit Fritz Walter, dem „Helden von Bern“, 1954, und später Ehrenspielführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Viele Fußballfans werden HJS auch noch ein Vierteljahrhundert später beneiden. Große Persönlichkeiten sind manchmal noch einfacher als der gute Freund von nebenan. Ein Offizieller wollte HJS den Gast vorstellen. Aber das musste nicht sein. Beide hatten schon „einen guten Draht“ zueinander gefunden und waren schnell in angeregtem Gespräch. Das war mehr als nur „small talk“. Fritz Walter kümmerte sich an diesem Tag im Auftrag der Messegesellschaft und der DDR-Ausstellungsleitung um die Besucher, und das tat er mit der ihm eigenen Bescheidenheit, aber mit charmanter Leidenschaft. Immer wieder wollte er wissen, was in der DDR geschieht. Sehr viel Zuversichtliches konnte HJS ihm erzählen. In der Nachbarschaft Hildburghausens auf westlicher Seite hatte er sich schon wiederholt aufgehalten. Die älteren Westfernsehgucker wissen es noch: Für eine auch in Coburg ansässige Firma betrieb er in den sechziger und siebziger Jahren Fernsehwerbung. Auch Werner Bergmann, der in Häselrieth gelebt hatte, der erste FIFA-Schiedsrichter der DDR, war ihm bekannt. Am Ende des Tages schenkte er HJS das großformatige Buch „Fußball-Weltmeisterschaft 1986. Ein Tagebuch, Mexico86“ mit Widmung: „Alles Gute für Hans-Jürgen!

Ihr Fritz Walter – 3.11.89.“

In seinem Leben hatte HJS immer Bücher gesammelt, die teils auch von bedeutenden Leuten signiert wurden. Dieses Buch hat inzwischen einen wichtigen Platz gefunden, weil Fritz Walter ihm als Sportler und als Mensch sehr wichtig ist.

Tags darauf war es die mit sechs olympischen Goldmedaillen, insgesamt 22 internationalen Titelgewinnen, wohl erfolgreichste deutsche Schwimmerin bis 1989 aus der DDR und heutige ZDF-Moderatorin, Kristin Otto. Die 1,85 m große bildhübsche Supersportlerin versah ihre Aufgabe souverän. Nicht nur bei Philatelie und Postgeschichte konnte ich mitreden, sondern die Schwimmerei war HJS bekanntlich auch nicht unbekannt.

Es gab noch keinen Publikumsverkehr in der repräsentativ gestalteten DDR-Ausstellung, die kurze Zeit später viele tausend Gäste zählte. Neugierig ging HJS zum Messestand, selbstverständlich war er sehr gespannt, wie das Buch Klassische Briefmarken – Geschichten zum 150jährigen Jubiläum aussieht und wie es beim Publikum ankommt. Es kam in einer Gesamtauflage von 11.000 Exemplaren auf den Markt, Teilauflagen in Leder (DM 50,00) und in Ephalin (DM 30,00) und im Schuber. Für den VEB Philatelie Wermsdorf war HJS als Mitautor nicht sonderlich interessant. Für diese Sozialisten war nur Bares Wahres. Niemand hatte ihm gesagt, wer eigentlich hier in Köln das Sagen hatte: die Außenhandelsorgane der DDR! Aber das war vermutlich seiner Naivität geschuldet. Freundlich wurde er begrüßt und da und dort mal den Besuchern vorgestellt. Die Stasi-Firma interessierte nur gute Umsätze gegen Devisen für die klammen DDR-Kassen. HJS mischte sich lieber unter das interessierte Publikum aus West und Ost, und jeder lud jeden zum Kaffee oder Wasser ein. Da kam keine Müdigkeit auf.

Bei Jahre späterer Betrachtung und der inzwischen offen gelegten Fakten war diese Ausstellung eine Verkaufsausstellung, vielleicht auch für Geheimkonten in der Schweiz, in Österreich oder sonst wo – für den Tag X. Mit vielen Kulturschwüren der deutschen Vergangenheit und dem wertvollen Sammelgut verdienstvoller Sammler und Forscher der DDR sowie Museen und Archiven hatte man eine beachtenswerte Schau zusammengestellt, zu der es auch – man bedenke das Novum – zwei DDR-Ganzsachen (Postkarten mit Wertstempeleindruck der Deutschen Post der DDR) gab und aller Welt verkündete, dass zwischen der DDR und der Bundesrepublik alles in bester Ordnung wäre. Staffage. Objektiv war nichts in Ordnung. Der VEB Philatelie Wermsdorf, 1962 von Gert Neumann gegründet und 1972 in einen VEB umgewandelt, hatte die finanzielle Federführung. Für Sammler mit Verstand war das Geschäftsgebaren dieser Firma in der DDR denkenden Sammlern nicht geheuer. HJS sprach zur DDR-Zeit immer wieder mit Sammlern, die ihre Sammlungen oder Teile daraus dorthin verkaufen wollten und warnte davor. Nicht etwa, weil die Preise nicht korrekt gewesen wären, sondern weil das gesamte Material gegen Devisen nach dem Westen verschoben wurde und nichts wieder davon auf den DDR-Markt kam. Heute wissen wir das eindeutig. Seit Mai 1985 wurde dieser VEB der Berliner KoKo-Zentrale unterstellt und eingegliedert in die „Kunst- und Antiquitäten GmbH“. Dieses Szenarium wurde am 29. November 1985 vom DDR-Ministerrat durch einen Beschluss gedeckelt, der am 1. Januar 1986 wirksam wurde. Die Firma unter dem Stasi-Oberst im Range eines Staatsekretärs, Dr. Alexander Schalck-Golodkowski, verkaufte gigantische Mengen an Briefmarken, postalischen Belegen und philatelistischen Sammelgegenständen nach dem Westen, selbst das rätselhafte Stasi-Gold. Vor allem finanziell ertragreich waren die konfiszierten, enteigneten und abgepressten Sammlungen bedeutender DDR-Philatelisten, von Republik-Flüchtlingen, vom DDR-Zoll im Briefverkehr beschlagnahmte Sendungen. Palettenweise wurden druckfrische DDR-Postwertzeichen auf den internationalen Markt geworfen, besonders die in der DDR verbotenen Nazimarken, die im Arbeiter-und-Bauern-Staat lagernden riesigen Bestände der ehemaligen Reichsdruckerei. Selbst eine der umfangreichsten Sammlungen zur Nazizeit mit allergrößten Seltenheiten, ausgerechnet vom ersten DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck zusammengetragen, fand 1983 den Weg nach Wermsdorf. Die beiden Töchter Piecks wollten sich vermutlich den Lebensabend bei nicht so üppiger Rente verschönern. Die DDR verkaufte diese in der DDR verbotenen Sammelgegenstände mit Riesengewinn auf dem sehr aufnahmefähigen Westmarkt. Wäre HJS mit dem Verkauf einer einzigen Hitlermarke erwischt worden, hätte man sicherlich seine Sammlungen beschlagnahmt und dann anschließend nach dem Westen verscherbelt. Vielleicht hätten sie ihn auch noch eingesperrt und nach dem West verkauft. Der SED-Menschenhandel war ein einträgliches Geschäft in den Ost-West-Beziehungen. Dieser Staat war nicht sozial, sondern asozial. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Hier funktionierte die Ware-Geld-Beziehung in der DDR, genügend Gutmenschen zur Duldung dieser Verbrechen gab es in beiden deutschen Teilstaaten. Die Instrumentarien des Kapitalismus hatten fest gegriffen, ja die Einheitsparteisozialisten hatten sie in (kriminellen) Bereichen sogar noch weit übertroffen. Ich denke nur an den Autoschwindel und die korrupten Machenschaften bis hin zum Brutalsten, was sich dieser angeblich so soziale Arbeiter-und-Bauern-Staat geleistet hat, wie den erwähnten hunderttausendfachen Menschenhandel.

Um die Machenschaften und das Geschäftsgebaren der Kommunisten zu verschleiern, gab es in Ost-Berlin ein Sonder-Zollamt. – Auch treue Kunden aus dem sozialistischen Herrschaftsbereich waren als Kunden des VEB Philatelie Wermsdorf zur Genüge vorhanden, wie der Volkskammerpräsident Gerald Götting (DDR-CDU) und der sowjetische Briefmarkenfreund, KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew, der vor allem bei seltenen Zeppelin-Ausgaben und -Flugbelegen aus dem Hause Wermsdorf ins Schwärmen kam. Das kommunistische Bruderherz wurde nicht nur von seinem Spießgesellen Honecker abgeschleckt, sondern musste auch gegen Devisenzahlungen mit wertvollen philatelistischen Belegen befriedigt werden. Trotz inniger schmatzender Küsse war er bei seinen teuren Genossen gefürchtet. Es wäre ein reichlich abendfüllendes Programm, weitere Details darzustellen. VEB Philatelie Wermsdorf, das Stasi-Unternehmen, ging später in der Bundespost auf und nannte sich Deutsche Postphilatelie GmbH, Spezialisten hatte dieses Unternehmen in genügender Zahl. Die offiziellen Umsätze dieser Firma VEB Philatelie Wermsdorf sind nicht bekannt. Die wenigen Insider, die inzwischen geplaudert haben, gehen seit den siebziger Jahren von ein oder zwei Milliarden D-Mark aus ... Es stellt sich immer wieder eine Frage: Was war an diesem Staat DDR wirklich bewahrenswert?

Die PHILATELIA wurde zu einem großen Treffen der deutschen Philatelistenfamilie, als wenn es nie eine Trennung gegeben hätte. Tauschpartner lernten sich persönlich kennen oder feierten nach Jahren der Trennung ein Wiedersehen. Gemeinsam mit Wolfram Grallert, den ich erst wenige Tage vorher in Leipzig und im Zentralvorstand in Berlin traf, wir arbeiteten zum Zeitpunkt an einem deutsch-deutschen Philateliekompendium (Philatelie in Übersichten) diskutierten, planten und führten gegenseitig unsere Bekannten zusammen, die wir meist nur vom Namen her oder aus der Fachliteratur kannten. Zwischen den Funktionären der beiden deutschen Verbände und den nach Köln gereisten DDR-Philatelisten gab es keine Abgrenzung oder Ressentiments. Die obligatorischen DDR-Aufpasser, denen man ihre Mission meist ohne Kennzeichnung ansah, kamen sich in der Messehalle und in den Räumlichkeiten ziemlich hilflos und armselig vor. Zu übersehen war aber auch nicht, wie sich stramme Genossen in Position brachten und sich förmlich bei den Noch-nicht-Partnern der Bundesrepublik anbiederten. Das war in den folgenden Monaten oft zu sehen, so auch im Frühjahr 1990, als HJS mit seinem Freund Walter Fischer aus Rodach bei einer philatelistischen Großveranstaltung im fränkischen Forchheim kurz mit dem Präsidenten des Bundes Deutscher Philatelisten, Michael Adler, wegen gemeinsamer Projekte ein kurzes Gespräch führte. Die strammen IM aus dem Verband waren die ersten Gesprächspartner. Spätestens seit diesem Zeitpunkt zog sich HJS aus der „offiziellen“ Philatelie zurück, auch wenn dann andere Akzente beim Neuanfang nach dem Zusammenbruch der DDR gesetzt werden mussten. Es blieb kaum noch Zeit für Hobbys. Sammlerfreundschaften wurden abgebrochen. Aber seine umfangreiche Stasiakte, die viele Namen und Adressen auflistete, versöhnte ihn wieder, hatte er doch inzwischen mit alten Freunden telefonisch oder durch E-Mails Kontakt aufgenommen. Also nicht, der Stasi sei Dank! Dann müsste er ja auch schreiben, dass er ohne die DDR viele dieser wunderbaren Menschen gar nicht kennengelernt hätte.

Der Abschied aus Wuppertal war nicht schmerzlich, gab es doch bald einen erhofften gemeinsamen Weg in die Zukunft – wenn auch noch mit politischen Unwägbarkeiten behaftet. Seit Jahren fühlte HJS das. Jetzt müssen wir zusammenstehen und unsere Kräfte verdoppeln und sie vermehrten sich in den nächsten Wochen.

Eine sentimentale Heulsuse ist HJS nicht, aber auf der Rückfahrt mit dem Intercity in Richtung Würzburg hatte er Tränen in den Augen. Der Zugbegleiter fragte ihn nach seinem Befinden, die Situation war ihm nicht peinlich. Der Staat DDR, der längst nicht mehr sein Vaterland war, hatte ihn in grenzenlose Wut versetzt, er weinte.

Einen Tag nach Rückkehr aus der Bundesrepublik und drei Tage vor Fall von Mauer und Stacheldraht sandte HJS einen handschriftlichen Brief an seinen langjährigen Freund, den Geschäftsführer des Bundes Deutscher Philatelisten e.V. (BDPh), Wolfgang Fendler aus Friedrichsdorf im Taunus, wenige Kilometer von der Mainmetropole Frankfurt entfernt. In Köln musste das Treffen vertagt werden, weil Wolfgang Fendler für den Verband andere Verpflichtungen wahrnehmen musste. Ein Jahr zuvor war HJS Gast bei Familie Fendler in Friedrichsdorf. Fendler war aus Sicht von HJS der Macher im Bund Deutscher Philatelisten. Ihn hatte er als wunderbaren Menschen kennen gelernt: kompetent, bescheiden, aber mit klarer Linie und nicht elitär. Er war Träger der Richard-Renner-Medaille (2002) und wurde 2007 posthum mit der jährlich nur einmal vergebenen Verdienstnadel in Gold geehrt. In den Unterlagen von HJS finden sich noch gut und gerne weit mehr als 50 Briefe von ihm, da ist kein Brief in eine Schreibmaschine diktiert, sondern die teils sehr umfängliche Korrespondenz war handschriftlich verfasst worden. Das hatte er sich nie nehmen lassen. 20 Jahre war er Geschäftsführer des Bundes Deutscher Philatelisten e.V. gewesen. Eine sehr enge und respektvolle Sammlerfreundschaft entstand. Auch Wolfgang Fendler, der in seiner Funktion restlos ausgelastet gewesen war, der durch die Welt jettete, nahm sich für unsere Familie und unsere Sammelgebiete sehr viel Zeit. Die Geschichte der deutschen Philatelie, vor allem die „Deutschen Philatelistentage“ waren sein Thema gewesen, hier hatte er geforscht und publiziert. Mit Beleg- und Datenmaterial hatte HJS ihm geholfen, er dagegen half beim Aufbau meiner Schweiz-Sammlung. 1976 war Familie Fendler für drei Tage Gast in der Luxemburgstraße in Hildburghausen gewesen. Die Staatssicherheit war nie dahinter gekommen, denn polizeilich mit entsprechendem Eintrag in das „Hausbuch“ waren Fendlers als Neffe und Nichte der Mutter von HJS gemeldet gewesen.

In der Stasiakte fand HJS seinen Brief vom 6. November 1989 an Wolfgang Fendler vor, Er hatte ihn einen Tag nach seiner Rückkehr von der PHILATELIA in Köln geschrieben. Auch wenn die DDR vor dem nicht übersehbaren Zusammenbruch gestanden hatte, war die Staatssicherheit noch immer in treuer Pflichterfüllung ihres Kampfauftrages der SED ausgelastet. Sie war mehr als denn je mit der „Aufdeckung und Beseitigung feindlicher Zersetzungstätigkeiten“ beschäftigt und stocherte mit begrenzter menschlicher Erkenntnisfähigkeit scheinbar sinnlos in unzähligen Wespennestern herum, Feinde über Feinde wurden gesehen. Die Wut gegen das SED-Spitzelunternehmen für die DDR-Bevölkerung war längst auf dem Siedepunkt angelangt. Die Menschen hatten immer weniger Furcht vor den Helden an der unsichtbaren Front. Die Geheimpolizei dagegen sah jetzt hinter jedem Gebüsch mehr Feinde denn je. – „Dank“ der Stasi blieb die handschriftliche Kopie des euphorischen Briefes erhalten.

Der 6. November 1989 war für HJS ein politisch sehr wichtiger Tag. In einem kurzen Telefonat teilte er seinem Freund Jochem Vonderlind mit, dass die Liberalen die richtige und immer wieder auf politische Veränderung drängende politische Kraft in Hildburghausen seien. Er sagte: „Geh’ ins Sekretariat in der Karl-Marx-Straße (ehemalige und heutige Obere Marktstraße).“ Dort traf HJS den Kreisvorsitzenden Franz Lichte und den Mitarbeiter Horst Gärtner. Und auf dem Flur sagte er zu beiden: „Wenn ihr wollt, gehöre ich ab heute zu euch.“ Sehr deutlich sagte er ihnen aber auch, wenn diese Partei falsche sozialistische Wege geht oder ihm nicht mehr passt, wäre er einmal Mitglied gewesen. Ab diesem Zeitpunkt war HJS bis 2000 sehr aktiv in der LDPD, im dann umbenannten Bund Freier Demokraten (BFD) und schließlich in der FDP und arbeitete in den folgenden Jahren kommunalpolitisch für sie. Auch wenn er heute nicht mehr Mitglied ist, hält er sie für eine der wichtigsten Parteien in Deutschland. Über sie ist trotz aller Fehler, Irritationen und Schwächen in den letzten mehr als zwanzig Jahren unendlicher Blödsinn geredet worden und von den Medien nach „Eigentoren“ erniedrigt worden. Sie hat größere Aufmerksamkeit verdient, Deutschland braucht sie tatsächlich.

Ein spannender Monatsbeginn – November 1989.

Auszüge aus dem Manuskript
Eigentlich nicht erwähnenswert ... Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung

 
Es ist einfacher, Menschen zu täuschen, anstatt sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.

Mark Twain, 1835-1910, amerikanischer Schriftsteller
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