Oktober 1989
02.10.1989, Montag
In der Leipziger Nikolaikirche formieren sich nach einer Friedensandacht unter Pfarrer Christian Führer etwa 20.000 Menschen zu einem Protestmarsch durch die Innenstadt. Parolen werden skandiert „Wir bleiben hier!“ oder „Stasi weg, hat keinen Zweck!“. Es kommt zu brutalen Übergriffen der DDR-Sicherheitsorgane. Zahlreiche Teilnehmer werden verhaftet oder schwer verletzt. Die revolutionären Aktionen und die Montagsdemos in Leipzig haben inzwischen Vorbildcharakter für die gesamte DDR.
Der Demokratische Aufbruch – Sozial, Ökologisch (DA) konstituiert sich aus bereits seit Juli 1989 bestehenden Oppositionsgruppen.
Thomas K., ein 28-jähriger Gabelstaplerfahrer aus Hinternah und die 21-jährige Köchin Andrea K., Schleusingerneundorf, sowie Chris S., Koch, aus Suhl, werden auf dem Bahnhof Bad Brambach festgenommen, weil sie die ČSSR illegal erreichen wollen.
Weitere Botschaftsflüchtlinge aus Prag werden über Dresden zur Ausreise geleitet. Tausende Menschen strömen zum Dresdner Hauptbahnhof. Nicht nur Neugierde hat sie getrieben, sondern viele von ihnen wollen auf den Zug aufspringen und die DDR verlassen. Die Ausreise verzögert sich, denn der Bahnhof wird durch Sicherheitskräfte gewaltsam geräumt.
02./03.1989, Montag und Dienstag
Der Berliner Liedermacher Kurt Demmler verliest im Suhler Kulturhaus „7. Oktober“ und im Meininger Kulturbundhaus trotz Verbots und lautstarker Proteste von „eingeschleusten und delegierten“ SED-Funktionären und Stasispitzeln die Resolution der DDR-Künstler.
03.10.1989, Dienstag
Erich Honecker verkündet mit tiefster Überzeugung zum 40. Jahrestag der Vereinigung der antifaschistischen Widerstandskämpfer und der Aktivisten der Ersten Stunde, dass die DDR ein fester Grundpfeiler der Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent sei.
Der visafreie Reiseverkehr mit der ČSSR wird von der DDR-Führung einseitig ausgesetzt. ADN meldet, bestimmte Kreise in der BRD bereiten weitere Provokationen zum 40. Jahrestag der DDR vor. Vom ČSSR-Außenministerium wird die Bundesrepublik in einer Protestnote aufgefordert, ihre Botschaftsgeschäfte in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht zu führen. – Mit dieser Maßnahme kann kein DDR-Bürger das Land nur mit dem Personalausweis verlassen.
04.10.1989, Mittwoch
Die zentrale Festveranstaltung des Bezirks zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR findet in Suhl statt. Das Organ der SED-Bezirksleitung Suhl, Freies Wort, heißt es in der Schlagzeile des Aufmachers: „Verdienstvolle Werktätige des Landkreises“ werden vom 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Albrecht, geehrt.
Hans Albrecht selbst wird am 05.10. von Erich Honecker mit dem Titel „Held der Arbeit“ ausgezeichnet.
(Hans Albrecht: * 22.11.1919, Bochum – † 27.03.2008, Berlin. Seit 1963 Vollmitglied des ZK der SED, seit August 1968 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl und Stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, ab 1971 Volkskammer-Mitglied)
In die USA- Botschaft in der DDR flüchten 18 Ausreisewillige. Ihnen wird zugesichert, dass die Ausreise wohlwollend behandelt wird.
Einladung zur Feier des 40. Geburtstages der Deutschen Demokratischen Republik,
Freies Wort vom 4. Oktober 1989
05.10.1989, Donnerstag
In einem DDR-Sonderzug werden 600 Flüchtlinge von Warschau nach Hannover gebracht. 200 in die Botschaft der Bundesrepublik in Prag geflüchtete Personen kehren in die DDR zurück, nachdem die Zusage erfolgt ist, dass sie innerhalb von zwei Monaten ausreisen dürfen.
In Dresden kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und bewaffneten Kräften der DDR.
In Magdeburg demonstrieren ca. 500 Personen, davon werden 80 verhaftet.
05. – 09.10.1989, Donnerstag bis Montag
An den Grenzübergängen, vor allem zwischen Berlin (West) und Ost-Berlin, werden zahlreiche Bürger mit dem „weltoffenen“ Argument zurückgewiesen: Wir brauchen zum Geburtstag keine Zuschauer.
06.10.1989, Freitag
Der Leiter der Abteilung Parteiorgane bei der SED-Bezirksleitung Suhl (Abt.-Nr. 20), Töpfer, teilt in einer Aktennotiz (20 30 30 10 – Thüringisches Staatsarchiv Meiningen. SED-Bezirksleitung Suhl, Nr. 449) an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Albrecht, mit:
„Werter Genosse Albrecht!
Wir möchten Dich darüber informieren, daß in der Gemeinde Bedheim, Kreis Hildburghausen, in der Nähe der Bushaltestelle von den 2 DDR-Fahnen eines Fahnenpilzes vermutlich in den Nachtstunden die Embleme abgetrennt wurden.
Die Sicherheitsorgane des Kreises haben die entsprechenden Untersuchungsmaßnahmen eingeleitet.
Die Sekretäre der Ortsleitungen und die OPD-Sekretäre sowie die Bürgermeister wurden beauftragt, Maßnahmen zur weiteren Erhöhung der Sicherheit und Wachsamkeit einzuleiten.“
Die „Provokateure“ konnten trotz intensiver Fahndung nicht ermittelt werden.
In der Aktennotiz 20 30 30 10 zur „Information über Diskussionen und Stimmungen unter der Bevölkerung des Bezirkes Suhl zu aktuellen Ereignissen“ des Leiters der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, Generalmajor Gerhard Lange, an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl, Hans Albrecht, heißt es u. a.:
„ ... Lehrer und Erzieher der Kreise Suhl und Hildburghausen stellen die Frage, warum gerade so viele Jugendliche und Jungerwachsene die DDR ungesetzlich verlassen bzw. verlassen wollten.
Nachdenklich stimme, daß diese Jugendlichen alle das sozialistische Bildungssystem der DDR durchlaufen und die staatliche Fürsorge für die jüngere Generation genossen hätten. Wenn Erziehung und Bildung so wenig nachhaltigen Einfluß hinterließen, könne doch etwas in der staatsbürgerlichen Erziehung nicht stimmen.“
Über Aktivitäten der Staatssicherheit im Vorfeld des 40. Jahrestages gibt es keine konkreten Äußerungen, sie wurden offensichtlich verstärkt, denn der Staatssicherheit ist nicht entgangen, dass es landauf und landab gegen das System brodelt, zudem kommt die gewaltige Flucht- und Ausreisewelle. Die Staatsmacht ist vor allem bemüht, den 40. Jahrestag ohne Störungen „über die Runden zu bringen“. Die Sicherheitskräfte haben erhöhte Alarmbereitschaft. Welche Sicherheitsstufe ausgelöst worden ist, lässt sich nicht mehr ermitteln. Eine klare Befehlslage hat es nicht gegeben, weil sich die Führungen der SED und des MfS selbst weitestgehend paralysiert haben.
Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR finden in Hildburghausen an der Gedenkstätte für
die Opfer
DES faschistischen Terrors
und imperialistischer Kriege
Mahnen zum Kampf
für Frieden und sozialismus
am Johann-Sebastian-Bach-Platz und am Sowjetischen Ehrenmal auf dem Zentralfriedhof Kranzniederlegungen statt. Die Teilnehmer, Delegationen aus den Betrieben, Verwaltungen und Genossenschaften, treffen sich um 7.45 Uhr auf dem Johann-Sebastian-Bach-Platz. Nach dem Zeremoniell an der Gedenkstätte formieren sich die Teilnehmer zu einer Demonstration für die Kranzniederlegung am Sowjetischen Ehrenmal auf dem Zentralfriedhof.
Kundgebung und Kranzniederlegung auf dem Johann-Sebastian-Bach-Platz. Links im Hintergrund ist ein Sowjetsoldat zu sehen, weiterhin Mitglieder der Kampftruppe der Arbeiterklasse, eine paramilitärische Organisation, die dem Ministerium des Innern unterstand, und als Bürgerkrieggruppe galt.
Anmerkung: Das am 9. September 1984 mit großer militärischer Präsenz geweihte Denkmal wird 1990 geschleift. Auf dem Zentralfriedhof an der Schleusinger Straße wird hierfür ein Gedenkstein errichtet. – Zu dem „Sowjetischen Ehrenmal“ auf dem Friedhof ist den Bürgern über Jahrzehnte vermittelt worden, dass es sich ausschließlich um gefallene Sowjetsoldaten handele. Kampfhandlungen mit den Sowjettruppen gab es aber in der Region bekanntermaßen nicht. Dort lagen im Arbeitserziehungslager auf dem Großen Gleichberg bei Römhild ermordete und verstorbene (vorwiegend) Sowjetbürger oder die auf dem Todesmarsch zwischen Gießübel und Kahlert umgekommenen Häftlinge.
Das am 09.09.1984 an der Ostseite des ehemaligen Schlossgeländes errichtete Denkmal.
Ehrenwache am Sowjetischen Ehrenmal auf dem Zentralfriedhof Hildburghausen. Seit dem Besatzungswechsel der US-amerikanischen und sowjetischen Truppen (offiziell am 01.07.1945, tatsächlich 04./05.07, 02.07.1945 Vorauskommando, s. Chronik!) ist Hildburghausen mit zeitlicher Unterbrechung bis 1991 Standort sowjetischer bzw. russischer Militäreinheiten, seit 1967 ist eine Funkmessstation (Radareinheit) zur Kontrolle des NATO-Luftraums stationiert. Große Teile des Hildburghäuser Hausbergs werden zum militärischen Sperrgebiet erklärt.
Foto: Hans-Hermann Langguth
Das Stadttheater wird von meist in Zivil auftretenden Sicherheitskräften abgeschirmt. Betriebe, Institutionen, Parteien, Massenorganisationen, Schulen usw. müssen im Vorfeld die zu Delegierenden benennen, deren Anwesenheit kontrolliert wird. Nach dem Einlass werden die Türen verschlossen.
Freies Wort berichtet am 10.10. in einem redaktionellen und von der SED-Kreisleitung redigierten Beitrag unter der Schlagzeile
„40 Jahre DDR – 40 erfolgreiche Jahre zum Wohle der Bürger unseres Kreises
Herbert Lindenlaub würdigte in seiner Festansprache die erreichten Ergebnisse erfolgreichen Aufbauwerkes / Delegationen aus Kaluga und unseren Partnerkreisen Pelhrimov und Wschowa überbrachten Glückwünsche /
280 Volkskünstler gestalteten Festprogramm.
Hildburghausen (FW).
Zu einem eindrucksvollen Bekenntnis zur weiteren allseitigen Stärkung unseres sozialistischen Vaterlandes gestaltete sich die Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR, zu der am Freitag die Kreisleitung Hildburghausen der SED, der Rat des Kreises und der Kreisausschuß der Nationalen Front in das Stadttheater eingeladen hatten. Den Mitgliedern des Sekretariats der SED-Kreisleitung, des Rates des Kreises, den Repräsentanten der befreundeten Parteien und Massenorganisationen, den Abgeordneten der Volkskammer und des Bezirkstages, den Veteranen, Aktivisten der ersten Stunde, verdienstvollen Bürgern aller Klassen und Schichten galt das herzliche Willkommen des Vorsitzenden des Kreisausschusses der Nationalen Front, Klaus Schwenk. Besonders herzlich begrüßte er Teilnehmer des Freundschaftszuges Kaluga – Suhl, Delegationen aus der VR Polen und der ČSSR sowie bei uns lernende Freunde aus Angola, Vietnam und Kambodscha. Nach der Festansprache von Herbert Lindenlaub, 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, ergriffen die Leiter der Delegationen das Wort zu ihren Grußansprachen. Volkskünstler unseres Kreises gestalteten das abschließende festliche Programm.
Herbert Lindenlaub würdigte in seiner Ansprache, immer wieder vom Beifall unterbrochen, die 40jährige erfolgreiche Entwicklung unseres Arbeiter-und-Bauern-Staats, in dem die Bürger auch unseres Grenzkreises von Ummerstadt bis Masserberg Hervorragendes leisteten. Dafür sprach er allen Bürgern den herzlichsten Dank aus. Er erinnerte daran, daß seit jeher dem einzelnen und der ganzen Gesellschaft zugute kommt, was ehrliche und fleißige Arbeit erbringt. Das wird wie heute auch morgen so sein.
In einer der einst ärmsten Gegenden Deutschlands leben wir heute in einem modernen Industrie-Agrarkreis, in dem täglich Erzeugnisse im Werte von 5 Millionen Mark gefertigt werden. In diesem Jahr produzierten wir in viereinhalb Monaten soviel wie 1970 während des ganzen Jahres. Hohe Leistungen wurden zu Ehren des 40. Jahrestages der DDR vollbracht; so der Vorsprung in der Nettoproduktion auf 3,7 Arbeitstage weiter ausgebaut, für 6,2 Millionen Mark zusätzlich gefragte Konsumgüter produziert.
Die Resultate fleißiger Arbeit, so hob der Redner vor, zeigen sich in modernen Wohnungen, einer gesunden und freundlichen Umwelt, in guten Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten. Heute lebt über die Hälfte der Bürger in Wohnungen, die nach dem 7. Oktober 1949 neu gebaut bzw. modernisiert wurden.
Herbert Lindenlaub unterstrich mit Nachdruck: ‘Mit den in vier Jahrzehnten gemachten Erfahrungen, voller Stolz auf das Erreichte, werden wir weiter auf bewährtem Kurs den Sozialismus in den Farben der DDR gestalten. Dabei wissen wir, daß der Klassenkampf noch größere politische, wirtschaftliche und auch persönliche Anstrengungen erforderlich macht. Bereiten wir mit neuen kraftvollen Initiativen den XII. Parteitag der SED vor.’ ...“
Der 1. Kreissekretär der SED, Herbert Lindenlaub, übergibt den Werktätigen des VEB Geräte- und Pumpenbaus Merbelsrod für hervorragende Leistungen zu Ehren des DDR-Jubiläums das Ehrenbanner der SED-Bezirksleitung.
06.10.1989, Freitag
Signal gebend ist Michail Gorbatschows Gang zum Palast der Republik in Ost-Berlin. Die Jubelveranstaltung findet hier zum 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik statt. Obwohl beinahe ausnahmslos linientreue Zuschauer für die Huldigung ausgewählt worden sind, erschallen die ersten Gorbi-Rufe. Die Stimmung ist gereizt, beinahe aggressiv. Vor westlichen Journalisten soll der KPdSU-Generalsekretär gesagt haben: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren!“ Darauf folgt der Staatsakt im Palast der Republik. Erich Honecker nimmt in gewohnter Weise verbale Ausfälle gegen die westdeutschen Klassenfeinde vor und bezeichnet die DDR einen „Vorposten des Friedens und des Sozialismus in Europa“. Gorbatschow dagegen spricht visionär von einer blockübergreifenden Zusammenarbeit und davon, dass die Umgestaltung der Gesellschaft, Demokratisierung und Offenheit lebensnotwendig seien.
Am Abend findet der traditionelle Fackelzug der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Kampfreserve der Partei statt. 100.000 FDJler werden aus der gesamten DDR herangekarrt, um dem ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden in feudalabsolutistischer Manier zu huldigen und sich selbst zu belügen.
Am gleichen Tag treffen sich in der Ost-Berliner Erlöser-Kirche mehr als 2.000 junge Leute zu einer „Zukunftswerkstatt“ unter dem Motto „Wie nun weiter DDR?“ – Die Vertreter von überregionalen Oppositionsgruppen formulieren ein Papier der Zusammenarbeit und verlangen die Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR und freie Wahlen unter UN-Kontrolle.
Anmerkung: Die für die Friedliche Revolution zum Fanal und zum Schlüsselwort für die deutsche Einheit gewordene altbekannte und Gorbatschow zugeschriebene betuliche Spruchweisheit ist vom Reformer nie gesagt worden. Es gibt auch keine Beweise dafür. Der eine gewaltige Wirkung entfaltende Jahrhundertspruch ist vermutlich von seinem Pressesprecher Gerassimow formuliert worden, das hat auch Gorbatschow bestätigt. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 03.10.2004, S. 16 kann sich der Leser ausführlich informieren.
07.10.1989, Sonnabend
In der DDR werden Jubelfeiern zum 40. Jahrestag verordnet und organisiert. Die Stimmung eines Großteils der Bevölkerung ist gedrückt, weil sie Angst vor der nicht lernfähigen SED hat. Es kommt zu teils brutalen Zusammenstößen zwischen Staatsmacht und Opposition. In Dresden demonstrieren 30.000 Menschen, in Magdeburg 5.000, in Leipzig 10.000, in Plauen 10.000, in Potsdam 3.000, in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) 1.000, in Arnstadt 600, in Ost-Berlin Tausende.
Situationsbericht aus Ost-Berlin
Das oppositionelle Neue Forum sammelte 11.000 Unterschriften. Jugendliche diskutierten mit einem alten SED-Genossen. Es gab Rangeleien mit der verhassten Stasi, die zivil getarnt den Alex und andere für sie kritische Örtlichkeiten sicherte. Die Polizei griff wegen anwesender Westjournalisten nicht ein. Sprechchöre riefen:
Freiheit! Wir bleiben hier! Neues Forum, Stasi raus, Reformen!
Aus der aus SED-Sicht konterrevolutionären und vom Geheimdienst gesteuerten Provokationen entwickelte sich ein spontaner Protestmarsch. Die Menschen zogen am Roten Rathaus vorbei und sangen die „Internationale“. Zum gleichen Zeitpunkt verabschiedete im Palast der Republik Erich Honecker seine Staatsgäste, darunter auch den sowjetischen Reformer Michail Gorbatschow. Die Demonstranten skandierten u. a. Gorbi hilf uns! Stasi-Einsatzkräfte drängten die Protestierenden ab. Keine Gewalt! rief die Menge. An der Dimitroffstraße wurde eine Polizeikette durchbrochen. Zum Staatsjubiläum sangen die mutigen Menschen Happy birthday, Polizeistaat! An der Gethsemane-Kirche wurde die Menge abgedrängt und gewaltsam geteilt. Einige Demonstranten wurden weggezerrt, brutal verprügelt, eingesperrt. Westliche Journalisten wurden gezwungen, Filme, Video- und Tonbänder abzugeben.
Im brandenburgischen Schwante wird die Sozialdemokratische Partei (SDP) gegründet. Geschäftsführer wird der Historiker Ibrahim Böhme, der später als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt wird.
07.10.1989, Sonnabend
Übergabe des Prestigeobjekts der SED-Kreisleitung „Altes Malzhaus“ in der Unteren Allee in Hildburghausen als Jugendklub. Trotz großer bautechnischer Mängel (z. B. Fehlen einer Be- und Entlüftungsanlage) wird das Haus vom Träger, dem Rat der Stadt, abgenommen. Im Dezember muss die Einrichtung wieder geschlossen werden.
In Reurieth kommt es zu Festnahmen und Zuführungen zur Volkspolizei wegen angeblich antisozialistischer Schriftzüge auf der Fahrbahn. Ferner sind Anti-DDR-Plakate aufgetaucht, die die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag empfindlich „stören“.
08.10.1989, Sonntag
Die erste Veranstaltung des verbotenen Neuen Forums wird in der Leipziger Nikolaikirche organisiert.
In Dresden kommt es zu einer Demonstration mit Sitzstreik.
In Ost-Berlin wird ein Demonstrationszug von Sicherheitsorganen der DDR gewaltsam aufgelöst.
09.10.1989, Montag
Der entscheidende Tag der Friedlichen Revolution
In Leipzig herrscht Ausnahmezustand. Die SED mit ihren Machtinstrumentarien Volkspolizei, Nationale Volksarmee, Staatssicherheit, Kampfgruppen der Arbeiterklasse in den Außenbezirken ist gerüstet. Leipzigs Bürger werden aufgefordert, die Innenstadt zu meiden. Medizinisches Personal in den Gesundheitseinrichtungen ist für den Ernstfall gerüstet. Krankenhausstationen werden geräumt, Blutkonserven geordert. Das Land steht vor einer Entscheidung. Montagsdemo mit 70.000 bis 100.000 Menschen. Ein Aufruf, der von drei Sekretären der SED-Bezirksleitung, von Gewandhauskapellmeister Prof. Kurt Masur, von Pfarrer Peter Zimmermann und vom Kabarettisten Bernd-Lutz Lange unterschrieben und in den Kirchen verlesen und im Rundfunk gesendet wird, verhindert eine bürgerkriegsähnliche Eskalation. In dem Aufruf heißt es:
Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Lande. Deshalb versprechen die Genannten, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird.
Die sowjetische Führung verweigert den Aufmarsch von Truppen. Demonstranten skandieren Wir sind das Volk. Dieser Tag und der Mut der Leipziger werden zum Entscheidungstag der Friedlichen Revolution. Der Veränderungswille ist größer als die Angst. Leipzig erhält vom Volk den Beinamen „HELDENSTADT“.
Anmerkung: Der Autor HJS erlebte den Folgetag, von Berlin kommend, bei Buchautoren in Leipzig. Es war auch für ihn ein befreiender Tag, vor allem die Erlebnisberichte der Akteure an diesem wichtigsten Tag der Friedlichen Revolution. Das dort entstandene Kraftfeld beschleunigte maßgeblich den Zusammenbruch der zweiten Diktatur des 20. Jahrhunderts in Deutschland.
09.10.1989, Montag
Wolfgang Berghofer, Oberbürgermeister Dresdens, empfängt 20 Personen (Gruppe der 20), die am Vortag von Demonstranten gewählt worden sind, um das Neun-Punkte-Programm zu überbringen: Klärung der Übergriffe auf die Demonstranten am Vortag, Gewährung von Meinungs-, Demonstrations- und Reisefreiheit, freie Wahlen, Zulassung des Neuen Forums.
10.10.1989, Dienstag
Die Bayerische Grenzpolizei teilt mit, dass von den seit Mitte August registrierten geflohenen DDR-Bürgern trotz eifriger Aktivitäten der DDR nur 50 Rückkehrer festgestellt worden sind.
Von einer Besuchsreise in die Bundesrepublik kommt Uwe G., 30, Hildburghausen, TKO-Leiter im VEB Bau Hildburghausen nicht wieder zurück.
11.10.1989, Mittwoch
Die Thomaner, der weltberühmte Leipziger Knabenchor, treten in der Eisfelder Dreifaltigkeitskirche auf. Das Konzert mit dem Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch wird von vielen Sicherheitskräften und Spitzeln observiert.
12.10.1989, Donnerstag
Die Evangelische Kirche, der Kulturbund der DDR, die Akademie der Künste der DDR u. a. Institutionen und gesellschaftlichen Kräfte geben Erklärungen ab, in denen sie das gesellschaftliche Klima in der DDR beklagen.
13.10.1989, Freitag
23 Ärzte des Kreises Hildburghausen unterzeichnen zwei Tage nach der Erklärung des SED-Politbüros einen Brief an das ZK der SED und teilen ihre Überlegungen mit, was sich am und für den Sozialismus ändern muss. Initiator ist der spätere Thüringer Sozialminister Dr. Hans-Henning Axthelm, Eisfeld. Einige Vorschläge sind:
- schrittweise Einführung des Sozialdienstes statt des Wehrdienstes für Bewerber medizinischer Berufe;
- stärkere Einbeziehung des einzelnen Arztes in die Organisation der medizinischen Arbeit;
- Abkehr von einer quantitativen Betreuungsideologie;
- Veränderungen der Reisebestimmungen, um den Ärzten vermehrt Weiterbildungsmaßnahmen zu erschließen.
Mit zeitlicher Verzögerung veröffentlicht Freies Wort am 28.10. einen Beitrag unter der Überschrift „Vertrauen fordern? – Nein! Beweisen, daß man es verdient. Eindeutige Meinungen unter Hildburghäuser Ärzten: Konstruktiv wird es dann, wenn jeder sich zuerst um das Gebiet kümmert, von dem er am meisten versteht“ von einer kritischen und kontroversen Versammlung der Ärzteschaft mit dem Sekretär der SED-Bezirksleitung, Dr. Karlheinz Walther, dem Bezirksarzt OMR Dr. Alfred Krauß, dem Ratsvorsitzenden Johannes Müller und Kreisarzt OMR Dr. Hans-Ulrich Bauriedl.
15.10.1989, Sonntag
In der General-Heusinger-Kaserne in Hammelburg (Unterfranken) treffen gegen 4 Uhr früh 112 Flüchtlinge aus der DDR ein. Die dort stationierten Soldaten müssen im Freien campieren. Am 16.10. halten sich bereits 700 DDR-Bürger dort auf. Auch beim BGS (Bundesgrenzschutz) Oerlenbach treffen in dieser Woche 93 Flüchtlinge ein.
16.10.1989, Montag
Mehr als 120.000 Menschen demonstrieren in Leipzig für Reformen und eine demokratische Erneuerung der DDR. Die Sicherheitskräfte greifen nicht ein, und erstmals berichtet die Nachrichtenagentur ADN ausführlich über die Demonstration. Weitere Demonstrationen gibt es in Dresden, Halle, Magdeburg und Potsdam.
17.10.1989, Dienstag
In fünf Kirchen Dresdens versammeln sich ca. 20.000 Menschen. Hauptinhalt der Treffen ist das Gespräch des Oberbürgermeisters Wolfgang Berghofer vom Vortag.
Auf Beschluss des Politbüros der SED werden der Wirtschaftsfunktionär Günter Mittag und der Medienverantwortliche Joachim Herrmann von ihren Funktionen abgelöst. Die Abteilung Agitation beim ZK der SED wird aufgelöst.
Mit dem Stichtag werden für den Bezirk Suhl vom Rat des Bezirkes die Personen erfasst, die die DDR ungesetzlich verlassen haben. Sie sind zu behandeln nach der Anordnung Nr. 2 vom 20.08.1958. Im Kreis Hildburghausen sind es 60, im Bezirk Suhl insgesamt 890.
18.10.1989, Mittwoch
Der SED-Generalsekretär Erich Honecker tritt angeblich aus gesundheitlichen Gründen zurück. In Wahrheit wird er von seinem Ziehkind Egon Krenz und seinen Vertrauten gestürzt. Das noch in Teilen vorhandene Politbüro des Zentralkomitees der SED sieht sein Heil in der Flucht nach vorn. Der neue „Machthaber“ beharrt auf dem Führungsanspruch der SED und kündigt eine „Wende“ an, bei der jedoch der Sozialismus nicht in Frage gestellt wird.
Ein aus der Bundesrepublik „geschmuggelter“ Kopierer machte es möglich, dass es zu den Demos in Hildburghausen immer wieder auch witzige Flugblätter gegeben hat. Der Chemnitzer Karikaturist Rainer Bach, vor allem bekannt aus „Das Magazin“, schenkte Bastian Salier den Originalabzug zu Egon Krenz.
20.10.1989, Freitag
Das Kreisparteiaktiv der SED Hildburghausen erklärt im Namen aller Mitglieder und Kandidaten der SED die Entschlossenheit, auch weiterhin die ganze Kraft für die Erfüllung der Beschlüsse des XI. Parteitages einzusetzen und die Beschlüsse der 9. Tagung des ZK zu unterstützen.
In Verkennung der tatsächlichen politischen Lage und der Stimmung eines Großteils der Bevölkerung, heißt es in Freies Wort vom 24.10.1989 unter der Überschrift „Breiter Dialog und aktives Mittun“ zu dieser Tagung:
„Zu den Aufgaben der Kreisparteiorganisation sprach Herbert Lindenlaub, 1. Sekretär der Kreisleitung. Er unterstrich, in jeder Grundorganisation gelte es jetzt, daß jeder Genosse den freimütigen Dialog mit allen Werktätigen und Bürgern über die Probleme der 9. ZK-Tagung führt. Bei allem berechtigtem Stolz auf die Ergebnisse, über die wir zum 40. Jahrestag der DDR Rechenschaft ablegen, übersehen wir nicht, daß es auch in unserem Kreis Probleme und Rückstände gibt, über die offen gesprochen und die vor allem schneller verändert werden müssen. Dazu sind alle Bürger aufgerufen, ihre Vorschläge und Hinweise, aber auch ihre entschlossene Tat einzubringen. Mehr denn je seien das aktive Mittun aller, das gemeinsame Handeln zur Gestaltung des Sozialismus in den Farben der DDR nötig. Nur durch die eigene Leistung jedes einzelnen ist es möglich, Mängel und Hemmnisse schneller zu überwinden.
Im Standpunkt der Parteiaktivisten heißt es: Wir bekräftigen unsere Entschlossenheit, noch konsequenter unsere Verantwortung bei der abstrichlosen Erfüllung der Beschlüsse des XI. Parteitages wahrzunehmen. Die Kommunisten versichern, sich dabei einheitlich und geschlossen an die Spitze zu stellen. Auf der Grundlage der Erklärung des Politbüros und der Rede des Generalsekretärs des ZK, Egon Krenz, werden wir mit allen Werktätigen, mit Bürgern aller Klassen und Schichten einen breiten Dialog führen, ihnen Ziel und Inhalt unserer Politik noch überzeugender erläutern, ihre Fragen beantworten, gemeinsam Lösungswege für anstehende Probleme suchen und alles für die weitere Stärkung des Sozialismus in den Farben der DDR mobilisieren. In diesem Sinne gehen wir an die umfassende Vorbereitung des XII. Parteitages der SED.“
Die Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees der SED dagegen „rechnet“ in den „Informationen 1989/7, Nr. 261“ (ohne Impressum, Herkunfts- und Herstellungsdatum) unter der Überschrift „Zum ‚Neuen Forum’ und zu anderen illegalen oppositionellen Gruppierungen in der DDR“ in üblicher Diktion ab. Am Schluss der 4-seitigen Propagandaschrift heißt es:
„Vor jeder Parteiorganisation und jedem Genossen steht jetzt die Aufgabe, auf der Grundlage der Erklärung des Politbüros vom 11. Oktober 1989 in Vorbereitung des XII. Parteitages die Aussprache mit Vertretern aller Klassen und Schichten – Arbeitern, Genossenschaftsbauern, Angehörigen der Intelligenz, Künstlern und Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und Studenten, Bürgern aller Glaubensrichtungen – über alle sie bewegenden Fragen der weiteren Gestaltung unserer sozialistischen Gesellschaft zu führen. Als Partei der Arbeiterklasse stellen wir uns der Diskussion. Wir sprechen mit allen in der festen Überzeugung, daß der Sozialismus in unserem Lande heute und zu keiner Zeit zur Disposition steht. Dafür bedarf es überzeugender Argumente – mit unserem Wort und mit der beispielhaften Tat. Jeden Tag wollen wir gewinnen, denn der Sozialismus braucht jeden, er hat Platz und Perspektive für alle. Das erfordert das geduldige Gespräch auch mit Andersdenkenden und mit all jenen, die Zweifel, Skepsis und Vorbehalte zur Politik der SED und ihrer Gesellschaftskonzeption äußern.
Für die politische Arbeit ist es sehr wichtig, zwischen den Gegnern des Sozialismus, die den Aufruf zum ‚Neuen Forum’ erarbeitet haben, und Irregeführten zu unterscheiden. Diesen muß geholfen werden, wieder auf den richtigen Weg zu kommen und sich von den Feinden des Sozialismus zu trennen. Wir grenzen uns eindeutig von allen ab, – unter welcher Fahne auch immer – in Worten für eine Verbesserung des Sozialismus plädieren, tatsächlich aber auf seine Abschaffung hinwirken und loyale, ehrliche Bürger dafür zu mißbrauchen trachten.
Mehr denn je gilt der Grundsatz: ‚Wo ein Genosse ist, kämpft die Partei’, im bewährten vertrauensvollen Zusammenwirken der Genossen unserer Partei mit allen Bürgern gehen wir zuversichtlich an die Lösung aller vor uns stehenden Aufgaben. Es bleibt dabei: der Arbeitsplatz ist unser Kampfplatz für Sozialismus und Frieden.“
20.10.1989, Freitag
Die SED kreiert in ihrem Zentralorgan „Neues Deutschland“ den Begriff der „Wende“. Dort heißt es, die SED habe eine Wende eingeleitet. Sie beweise ihren Mut zur Wahrheit, mache Schluss mit Schönfärberei und Unbescheidenheit.
Anmerkung: In dieser Dokumentation wird der Begriff der Wende nicht gebraucht, weil das die Fortsetzung der Lügenpolitik der SED und ihrer im Namen in Folge veränderten Partei ist. Diese Partei gesteht es sich bis heute nicht ein, dass es sich um eine Revolution gehandelt hat, dass die SED-Ideologie reaktionär und menschenfeindlich ist.
Die Informationen 1989/7 Nr. 261 der Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees der SED. Der Text ist unglaubliche Realsatire, wenn sie für die Bürger der DDR nicht so unendlich gefährlich und die Existenz bedrohend gewesen wäre. Die Denkstrukturen finden sich unverändert, teils mit anderen Themenfeldern besetzt, in der Partei DIE LINKE.
20.10.1989, Freitag
Der vorläufige Sprecherrat des Neuen Forums trifft sich im Suhler Gemeindehaus (Kirchberg 7), darunter auch Teilnehmer aus dem Kreis Hildburghausen.
In der Gaststätte Zum Bayernturm in Zimmerau, Landkreis Rhön-Grabfeld, dem Kreis Hildburghausen gegenüber liegend, versammelten sich Flüchtlinge und Besuchsreisende aus der DDR.
Bei Katzberg, Kreis Sonneberg, nahe dem Kreis Hildburghausen, wollen die beiden 22-jährigen Tom R., Folienbläser im VEB Holz und Plast Saargrund, und Andreas W., Maschinenarbeiter im VEB Ultra-Möbel Sachsenbrunn, die Grenze zur Bundesrepublik überwinden. Sie werden von der Deutschen Volkspolizei festgenommen.
21.10.1989, Sonnabend
Der Zootechniker Thomas H., 26, im Volkseigenen Gut Färsenproduktion Eisfeld, wird 02.14 Uhr 400 m südöstlich von Roth im Kreis Sonneberg von einem Grenztruppenposten festgenommen. Er wollte bei Rückerswind die Grenze durchbrechen.
22.10.1989, Sonntag
In Brünn, Kreis Hildburghausen, kommt bei Pfarrer Kranich der Vorbereitungskreis für die Friedensgebete im Bereich der Superintendentur Eisfeld zusammen.
22.10.1989, Sonntag
Ungewohntes ist in der sowjetischen Presse zu lesen. Erstmals wird der frühere Staats- und Parteichef Erich Honecker scharf kritisiert. Die Gewerkschaftszeitung „Trud“ zum Beispiel schreibt, dass um Honecker Personenkult betrieben worden sei. Die frühere Führung habe eine „Mauer ohne Fenster und Türen“ zur Realität in der DDR errichtet. In der Konsequenz haben Zehntausende das Land verlassen.
23.10.1989, Montag
In der DDR demonstrieren ca. 500.00 Menschen, davon allein in Leipzig 300.000 (nach ADN 100.000) vor allem gegen den Honecker-Günstling Egon Krenz. Die Volkskammer wählt ihn mit 26 Gegenstimmen und 26 Enthaltungen zum Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und mit 8 Gegenstimmen und 17 Enthaltungen zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates.
24.10.1989, Dienstag
Der Kreisvorstand der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) zieht in Freies Wort Bilanz ihrer seit dem 13. Kongress geleisteten Arbeit und bespricht die weiteren Aufgaben der Kreisorganisation:
„Dabei konnte Kreissekretär Sonja Tendel unter anderem die 6.721 organisierten Veranstaltungen, 107 durchgeführte Wissenswettbewerbe ‚Von Freund zu Freund’, 4.860 gestaltete Wandzeitungen sowie 34 Freundschaftstreffen mit sowjetischen Touristengruppen, an denen mehr als 1.200 Freunde aus den Grundeinheiten teilnahmen, für die der Freundschaftsgedanke wirklich erlebbar wurde, besonders hervorheben.
In Vorbereitung auf den XII. Parteitag der SED sieht die DSF-Kreisorganisation ihre Aufgabe darin, einen konkreten eigenständigen Beitrag zu leisten und dabei das politische, kulturelle sowie das organisationspolitische Wirken unter allen Mitgliedern zu erhöhen. Mit allen bewährten Formen ihres spezifischen Wirkens und durch die Nutzung noch vorhandener Reserven werden die DSF-Mitglieder zur weiteren Festigung und Vertiefung des Bruderbundes mit der Sowjetunion und zur allseitigen Stärkung unserer sozialistischen DDR noch engagierter beitragen.“
25.10.1989, Mittwoch
Das Neue Forum organisiert in der Suhler Hauptkirche eine erste Zusammenkunft zur Erarbeitung von Reformprogrammen in zehn Arbeitsgruppen.
In der Grenztruppen-Meldung 017192 heißt es, dass die DDR über den Grenzinformationspunkt 13 (Rottenbach – Eisfeld) informiert wird, dass die Staatsforstdienststelle Seßlach (Landkreis Coburg) demnächst in grenznahen Waldabschnitten Bäume fällt und es sich wegen der Hanglage nicht vermeiden ließe, dass Bäume auf DDR-Gebiet fielen.
26.10.1989, Donnerstag
In der Eisfelder Dreifaltigkeitskirche findet das erste Friedensgebet statt. Ab dem 3. Friedensgebet am 06.11. wird es montags durchgeführt, am 02.04. das 22. und letzte.
Der junge Christ Michael Pfrenger schildert 1999 seine Eindrücke von den Friedensgebeten in Eisfeld:
„’Ich möchte mich dafür einsetzen, dass dieses Land, das wir als unsere Heimat bezeichnen, aufblüht, dass sich die Menschen hier wohl fühlen, hier glücklich sind, hier lieben, leben, lesen, lachen!
Ich möchte mit dafür sorgen, dass den Menschen gezeigt wird, dass man auch hier gut leben kann und nicht nur im >goldenen Westen<!
Es ist richtig: Wir müssen Rechenschaft fordern von denen, die uns regieren, die Macht über uns haben. Wir müssen Verantwortung übernehmen und unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen – mündig werden!
Es stimmt genau so: Wir alle sind mit Schuld daran, dass es so weit mit diesem Land gekommen ist! Wir alle haben öffentlich genickt und >Ja< gesagt und nur unter Freunden vorsichtig den Kopf geschüttelt. Das muss jetzt endlich anders werden, und wenn wir wirklich etwas bewegen wollen, müssen alle mittun! ... Nicht mehr >Wollen wir das Beste hoffen< - nein: >Wollen wir das Beste tun!<‘
Als ich diese Sätze im Oktober ‘89 in mein Tagebuch geschrieben habe, war ich 18 Jahre alt und gerade aus Suhl zurückgekommen, dort hatte ich in einer völlig überfüllten Kirche ein Friedensgebet und einen der ersten Gesprächs- und Diskussionsabende des Neuen Forum in unserer Gegend miterlebt. Ich weiß noch, ich war begeistert und fasziniert von dieser Veranstaltung und vor allem davon, wie die Leute dort miteinander diskutiert hatten. Da ging es heiß her, da wurde am ‘offenen Mikrofon’ gestritten und gerechtfertigt, angeklagt und aufgedeckt, da fielen deutliche Worte, da waren Wut und Protest, immer wieder mahnende Worte zu Besonnenheit und Ruhe, wurden auch Verzweiflung und Ohnmacht deutlich, da waren Vertreter des Staates – von denen man zwar meist nur ‚Das kann ich nicht beantworten, dafür bin ich nicht kompetent’ (Sätze, die wir alle in dieser Zeit noch viel zu oft hören sollten!) vernahm, die sich den Fragen der Leute aber wenigstens aussetzten. Die Stimmung in dieser Kirche war wie elektrisiert vom gemeinsamen Willen der meisten Anwesenden, etwas zu bewegen in diesem Land. Die Atmosphäre sprühte an diesem Abend vor Tatendrang und Mut zum Aufbruch – und stand damit so herrlich im Kontrast zu dem furchtbar tristen, eintönigen und weitgehend vorbestimmten Alltag, der ansonsten in diesem unserem kleinen Land herrschte. Ich erinnere mich, in den letzten beiden Jahren der DDR oft das Gefühl gehabt zu haben, vor allem von resignierenden Menschen umgeben zu sein – erinnere mich an Lehrer, die ihren Schülern Staatswesen, Klassentheorie und DDR-Politik gleichgültig herunterleierten und selbst nicht mehr daran glauben konnten, an Appelle und Staatsakte im Fernsehen, für die sich sowieso niemand mehr interessierte, die auch nur noch Routine und ständige Wiederholung der immer gleichen Parolen waren. Ich erinnere mich an heftige Diskussionen im Freundeskreis und in der Familie über die Situation im Land – immer hinter verschlossenen Türen, immer mit der (begründeten und verständlichen) Angst vor staatlichen Repressalien und Unbequemlichkeiten und dem immer wiederkehrenden Schlusssatz, man könne ja doch nichts ändern.Jeder von uns kannte in dieser Zeit jemanden – und täglich wurden es mehr! –, die einen Ausreiseantrag gestellt oder schon über die CSSR bzw. Ungarn den Weg in den Westen gegangen waren – dieses Land blutete aus, und wir sahen nichts, was getan wurde, um diesem Prozess zu begegnen. Umso hoffnungsvoller und befreiender waren für mich die zunehmend lauter werdenden Stimmen des Protestes der Oppositionsgruppen, die sich in dieser Zeit vor allem unter dem Schutz der Kirche entwickelten.
Im Mai ‘88 nahm ich mit Freunden aus der Eisfelder Jungen Gemeinde an einer Jugendversammlung der evangelischen Kirche in Gotha teil und hörte dort zum ersten Mal von Friedens- und Umweltgruppen in der DDR und von Bausoldaten (Wehrpflichtige, die den Dienst an der Waffe verweigerten und in Armee-Bautrupps ihre 1 ½ Jahre Grundwehrdienst ableisteten – in einem Staat, der die Friedenssicherung per NVA proklamierte, eine Garantie für Überprüfung und Beobachtung durch die Staatssicherheit sowie weitgehende Konsequenzen im Hinblick auf Studienpläne und berufliche Karriere!).
Kurz darauf organisierte die Junge Gemeinde in der Eisfelder Kirche eine Ausstellung mit Fotowänden aus dem Friedensmuseum Berlin – wir hatten die Bildtafeln in Berlin im Kellergeschoss einer Kirche abgeholt und zusammengerollt im Zug nach Eisfeld gebracht. Obwohl das Ganze für uns natürlich auch ein Abenteuer war, hatten wir während der Fahrt doch ständig Angst, kontrolliert, ertappt und verhört zu werden. Diese Ausstellung im Innenraum der Kirche (mit Fotos von Opfern der Weltkriege und aus jüdischen Ghettos – eine Mahnung zu Frieden und Versöhnung, mit deutlich pazifistischem Hintergrund), von großer Schrift an der Außenfassade der Kirche angekündigt, war – zumindest habe ich es so erlebt – für uns Eisfelder eines der ersten klaren Signale: Auch hier tut sich etwas – wir können miteinander etwas bewegen, Zeichen setzen.
Im Sommer ‘89 war ich mit Freunden auf dem Evangelischen Kirchentag in Leipzig – hörte dort in einer Diskussionsgruppe zum ersten Mal von Ausschreitungen gegen Ausländer in der DDR – und erlebte die geballte Macht von 10.000 Menschen, die Friedenslieder singend, aus einer Konzerthalle strömten, sich in den Straßen der Stadt verteilten; und niemand konnte es verhindern – friedlicher Protest gegen die Regierung zu Vorwendezeiten, würde man heute sagen. Tags darauf musste ich vom Balkon unserer Leipziger Unterkunft beobachten, wie ein kleines Häuflein Demonstranten mit zwei hochgehaltenen Plakaten von einer Zivilstreife brutal angegriffen und weggezerrt wurde. ( ...)
Ich erinnere mich an einen Abend im Pfarrhaus von Brünn ..., dort trafen sich Pfarrer und Vikare der Gegend mit engagierten Mitgliedern der Eisfelder Kirchgemeinde, um über die Zustände und Entwicklungen im Lande zu diskutieren, Informationen auszutauschen und gemeinsam zu überlegen, wie öffentliche Kundgebungen und Diskussionen in unserer Stadt zu organisieren seien, in welcher Form brisante Nachrichten öffentlich gemacht werden könnten. Aus dem Kreis der Anwesenden wurde der Vorbereitungskreis der Friedensgebete in Eisfeld, der es sich zur Aufgabe machte – wie viele solcher Kreise im ganzen Land – im Schutz und unter dem Dach der Kirche den DDR-Bürgern ein Diskussionsforum und die Möglichkeit zur Information über die wahre Entwicklung im Land, abseits der offiziellen ‚Hoch lebe unsere DDR’-Nachrichten der Regierung, zu schaffen.
Ich denke, um die Anliegen der Friedensgebets-Organisatoren/-innen deutlich zu machen, ist mein Tagebuchzitat vom Beginn dieses Textes ein dienliches Beispiel. In einem gesellschaftlichen Klima, das in diesen Tagen und Wochen immer explosiver, in einem Land, in dem täglich das Versagen seiner Politik- und Wirtschaftsführung offensichtlicher und der Druck auf die Bevölkerung durch immer neue Ausreisewellen und steigende Gewaltbereitschaft der Sicherheitsorgane immer größer wurde, war es von entscheidender Bedeutung, den Menschen Raum und Ausdrucksmöglichkeit zu geben, ihnen Mut zum Verbleiben im Land und Hoffnung auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Umgestaltung und Erneuerung unserer Heimat zu machen. Vor allem ging es darum, die Situation nicht eskalieren zu lassen und den friedlichen Charakter der Protestbewegung, trotz aller berechtigten Verzweiflung und Wut, zu bewahren. Ich glaube, dass dies in unserem Land weitgehend gelingen konnte, war ein großes Verdienst der überall stattfindenden regelmäßigen Friedensgebete, die letztlich den Charakter der Demonstrationen entscheidend prägten.
Diese Friedensgebete (wie ich in den ‚alten Bundesländern’ inzwischen oft gehört habe, übrigens eine verwirrende Bezeichnung: waren es doch eigentlich Bürgerversammlungen in kirchlichen Räumen) hatten immer eine etwa 20-minütige Besinnung zum Anfang (mit Begrüßung, Fürbittgebet, Lesung und Liedern – das klassische Friedensgebet), dann wurden von Mitgliedern des Vorbereitungskreises die neuesten Informationen zur aktuellen Entwicklung im Land, Nachrichten über Demonstrationen in anderen Städten, die aktuellen (wahren) Auswanderungszahlen etc. vorgetragen (schriftliche Veröffentlichungen des Neuen Forums und anderer Oppositionsgruppen wurden, soweit zugänglich, verteilt), und dann war Zeit für Diskussionen und Meinungsäußerungen am ‚offenen Mikrofon’. Dass der Bedarf dafür auch in Eisfeld immens groß war, erlebten wir ab dem ersten Friedensgebet in der Stadtkirche – meiner Erinnerung nach fand es am 26. Okt. ‘89, einem Donnerstag, statt (bald wurden, analog den bekannten Friedensgebeten der Leipziger Nikolaikirche, auch unsere Veranstaltungen auf montags verlegt und begannen jeweils um 18.00 Uhr). Die Kirche war übervoll und die Stimmung ebenso faszinierend aufgeladen, wie ich es in Suhl erlebt hatte.
Zu meinen eindrücklichsten Erlebnissen aus dieser Zeit gehören die Schweigemärsche, die sich nach unseren ersten Friedensgebeten bildeten. Jeder nahm seine Kerze aus der Kirche mit, trug sie (ein kleines Lichtermeer!) schweigend durch die Straßen der Stadt und stellte sie am Rathaus, wo der Zug schließlich endete, ab. Dies ist mir heute noch eines der lebendigsten Bilder: der von Hunderten Kerzen vollgestellte Sims des Eisfelder Rathauses – auch an den Tagen zwischen den Montagsgebeten (dann allerdings rußgeschwärzt und wachsbekleckert – in Punkto Denkmalschutz für uns kein Ruhmesblatt!), unübersehbares Zeichen für auch in unserer Stadt demonstrierte Bürgerinitiative und Umgestaltungswille.
Ich kenne keine Zahlen, kann die Anzahl der Teilnehmer an den Friedensgebeten auch nicht schätzen – ich fand sie jedoch in diesen Wochen ungeheuer groß und war von der breiten Basis, auf der sich hier wie überall rasant entwickelnde Bürgerbewegung in diesen Tagen stand, absolut begeistert. Noch während der Friedensgebete bildeten die Anwesenden Arbeitskreise, die zu verschiedenen Themen (z. B. Wehrersatzdienst, Umweltschutz, Wahlrecht, Medien, Bildung und Erziehungswesen, Handel und Wirtschaft, Gesundheitswesen und Soziales, Stadtsanierung ...) Informationen und Ideen zusammentrugen, Umgestaltungsvorschläge formulierten, Aktionen vorbereiteten etc. Das alles war – trotz enorm vieler Beteiligter mit jeweils grundverschiedenen Weltanschauungen und gesellschaftlichen Stellungen – getragen von einem starken Gemeinschaftsgeist, der sich in dieser Zeit entwickelte und war geeint durch das gemeinsame Bestreben, in diesem Land etwas Grundsätzliches zu bewegen. So beeindruckend und kraftvoll diese Entwicklung im Herbst ‘89 war – sie dauerte in dieser Form nur kurze Zeit ...“
(Nach: Pfrenger, Michael: Herbststimmung in Eisfeld. – In: eisfelder zeit. 10 Jahre Grenzöffnung. Herausgeber: Verein zur Pflege und Erhaltung von Kirche und Schloss zu Eisfeld e. V., Heft 6, 1999. S. 21 ff.
27.10.1989
Der DDR-Staatsrat beschließt eine Amnestie für DDR-Flüchtlinge bzw. Personen, die vor dem 27.10.1989 „Straftaten“ begangen haben, um die Ausreise in die Bundesrepublik durchzusetzen.
Ende Oktober 1989
Ein beherzter Bürger bringt auf dem Parkplatz gegenüber der SED-Kreisleitung in Hildburghausen (damals Leninstraße, heute: Friedrich-Rückert-Straße) ein Schild mit der Aufschrift „Harald-Jäger-Platz“ an. Weder die SED-Kreisleitung noch Sicherheitskräfte lassen das Schild entfernen, weil sie Angst haben, die Stimmung der Bevölkerung gegen sie weiter aufzuheizen.
Anmerkung: Der Arbeiter Harald Jäger erhält trotz mehrere Anträge keine Erlaubnis für eine Besuchsreise zu seiner in der Bundesrepublik lebenden Schwester. Wegen dieser Schikane kappt er am 1. Mai 1988, dem „Internationalen Kampftag der Werktätigen“, während einer Ansprache des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung, Herbert Lindenlaub, die Stromzuführung für das Mikrofon nahe dem Bahnhofsvorplatz. Jäger wird in einem Eilverfahren zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt, die er auch verbüßen muss.
Zwischen Breitensee (Ortsteil der Gemeinde Herbstadt im Landkreis Rhön-Grabfeld) und Hindfeld (heute: Stadtteil von Römhild) liegt friedliche Heimat. Beim genaueren Hinsehen, die Aufnahme stammt aus dem Monat Oktober 1989, zerschneidet die mörderische Grenze das beschauliche Landschaftsbild. Noch im Sommer 1989 ereignete sich dort eine spektakuläre Flucht. Wenige Wochen später fällt das Schandmal der kommunistischen Diktatur.
Foto: Reinhold Albert, Sternberg
30.10.1989, Montag
In Hildburghausen beginnen die Montagsdemos, von den SED-Funktionären „Rathausgespräch“ genannt. Eingeladen hat der SED-BürgermeisterJürgen Ließ (SED). Ausgangspunkt ist ein sogenanntes öffentliches Forum im Stadttheater mit SED- und Kreisfunktionären, an dem der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, Herbert Lindenlaub, der Vorsitzende des Rates des Kreises, Johannes Müller, der Bürgermeister und andere SED-Funktionäre, Vertreter der Blockparteien und Kommunalpolitiker teilnehmen.
Nicht alle Interessenten finden Einlass. Vor dem Theater protestieren etwa 500 Menschen. Der Chef des Arbeitertheaters „Wladimir Majakowski“, Rolf Weißleder, setzt gegenüber dem 1. Kreissekretär Herbert Lindenlaub durch, aus Sicherheitsgründen nicht mehr Leute ins bereits überfüllte Theater einzulassen (Nach einer anderen Quelle [Gerd Krauß] ist es der Häselriether Vikar Michael Wendel (Neues Forum) gewesen. – Eilig werden Lautsprecheranlage und Mikrofon nach draußen verlegt, weil die Bürger an der Diskussion teilnehmen wollen. Sie vermuten im Theater ein handverlesenes Publikum, genau wie dreieinhalb Wochen zuvor bei den Jubelfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag. Das Angebot wird nicht angenommen. In Sprechchören wird gefordert, herauszukommen und auf den Marktplatz zu ziehen. Dem Druck wird nachgegeben. Auf dem Marktplatz versammeln sich ca. 1.500 Menschen.
Die empörten Bürger fordern Rechenschaft. Einige ergreifen spontan die Möglichkeit, ans Mikrofon zu treten und kritische Fragen zu stellen. Doch die Veranstaltung wird mit der Inkompetenz der SED-Bonzen um den 1. Kreissekretär Lindenlaub zu einer Farce.
Wie die zensierte SED-Zeitung Freies Wort die Veranstaltung sieht, ist auf als Faksimile dargestellt („Den begonnenen Dialog nun sachlich fortsetzen“).
Im Rückblick auf die erste Demo in Hildburghausen schildert der damals in der Bürgerrechtsbewegung aktiv tätige Gerd Krauß seine Eindrücke:
„[ ... ] In gewohnter Manier saßen die Damen und Herren auf der Bühne hinter dem Vorhang, und das Fußvolk durfte in begrenzter Zahl auf den Rängen Platz nehmen. Das konnte natürlich nicht gut gehen, wie sich schnell herausstellte; denn das Theater quoll aus allen Nähten. Weiterer Einlass wurde dann auch verweigert, schon wegen der ‚Sicherheit’.
Die Situation drohte zu entgleisen, doch Herr Wendel, damals Vikar in Häselrieth, reagierte schnell und beherzt.
Er forderte die Massen über Mikrofon auf, friedlich zum Marktplatz zu gehen, um dort eine Demonstration abzuhalten, die nicht von der Kreisleitung der SED gesteuert werden konnte. So versammelte man sich auf dem Marktplatz, und vor dem Rathaus wurden, erstaunlich unbürokratisch, Lautsprecher und ein Mikrofon installiert. Bürgermeister Ließ rief zur Besonnenheit und Ruhe auf.
Es war schon interessant und spannend zu beobachten, wie zaghaft, unbeholfen und teilweise auch aggressiv Fragen an die Damen und Herren der SED-Kreisleitung und des Rates des Kreises gestellt wurden, die in nur sehr geringer Zahl auf dem Marktplatz erschienen waren. Die sogenannten ‚Blockparteien’ waren überhaupt nicht vertreten.
Es war alles andere als Routine, woher auch. Wir alle mussten erst lernen, die Emotionen im Zaum zu halten und am Mikrofon vor vielen Zuhörern passende Worte zu Sätzen zu formulieren. Im Staatsbürgerkunde-Unterricht war uns ja nicht beigebracht worden, wie man eine ‘Revolution’ gegen den ‚real-existierenden Sozialismus’ zu organisieren hatte. In der Masse der Demonstranten war dann auch eine ständig mitschwingende Angst zu verspüren, denn niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, wie sich die politische Lage entwickeln würde.
Auf dem Marktplatz wimmelte es nämlich von hauptamtlichen und nebenberuflichen Stasileuten und – nicht zu vergessen – von zahlreichen Grenzhelfern. Man konnte IM Bernd, IMK Erna, IM Atze, Mitarbeiter der K 1 und viele andere ‚Staatsschützer’ ausmachen.
Heute wüsste ich gern, was damals in so manchem Kopf vor sich gegangen ist. Was mag sich da im Unterbewusstsein abgespielt haben? Sicher ging fast allen durch den Kopf: Wann kommen die Schlagstöcke? Wann werden Waffen eingesetzt? Eskaliert die Demo? Gibt es Gewalt von der einen oder anderen Seite?
Der Vormann der SED-Kreisleitung, Herr Lindenlaub, wurde mit Fragen konfrontiert, die sich in erster Linie auf sein Einkommen und seine Privilegien bezogen. Fragen, warum es eine derartige Misswirtschaft im Kreis und in der gesamten DDR gab, wurden kaum gestellt. Es wurde auch nicht gefragt, wie sich im sogenannten ‚Sozialismus’ eine so scharf abgegrenzte Zweiklassengesellschaft entwickeln konnte: auf der einen Seite die SED-Genossen, die Mitglieder der Blockparteien und die sonstwie Privilegierten, auf der anderen Seite die, die sich ducken mussten oder sich in gesellschaftliche Nischen verkrochen hatten.
Die Antworten der Herren Lindenlaub und Müller, letzterer Vorsitzender des Rates des Kreises, fielen dann auch recht spärlich und alles andere als befriedigend aus. Da hat Erich Mielke mit seiner berühmt-berüchtigten Phrase ‚Ich liebe euch doch alle’ eindeutig Pate gestanden. Doch wie sollte es auch anders sein? Wir ‚kleinen Leute’ und ‚Untertanen’ hatten unsere erheblichen Probleme mit der völlig neuen und ungewohnten Situation auf dem Marktplatz. Und genau so ging es auch diesen Leuten, die vier Jahrzehnte lang nicht einmal im Traum daran gedacht hatten, jemals kritische Fragen beantworten zu müssen, schon gar nicht vor Bürgern, die sich, mit Kerzen in der Hand, in Demonstration übten.
Damals hatte ich den Eindruck, dass die Kerzen für die ‚Obrigkeit’ eine sehr ketzerische Symbolik besaßen. Mithin waren sie auch völlig richtig am Platz, denn die ‚allmächtigen’ Staatsdiener hatten Angst vor den Kerzenträgern, so mächtige Angst, dass die Kerze im Fenster meiner Wohnung dem MfS sogar einige Sätze in meiner Akte wert war.
So wurde auch kaum öffentlich, geschweige denn laut über die Rolle der Stasi gesprochen, am wenigsten von denen, die so bittere Erfahrung mit der ‚Firma’ hatten machen müssen.
Die Angst war immer noch allgegenwärtig.
Ich selbst stand wie ein Wachhund neben Lindenlaub, der andauernd nervös in seiner Sakkotasche herumfummelte. Er stand unter mächtigem psychischem Druck, und ich war ständig auf dem Sprung, zuzufassen. Würde er seine Dienstwaffe ziehen? Damit war natürlich zu rechnen, denn verletzte oder in die Enge getriebene Raubtiere greifen an oder beißen zu!
Kurz vor Ende der ersten Hildburghäuser Demo fasste sich eine Frau – ich glaube, sie wohnte sogar in Hildburghausen – ein Herz und trat ans Mikrofon. Ihre ersten Worte kamen noch zögernd und zaghaft. Doch dann brachen die unterdrückten Emotionen und die ungeheure über lange Zeit angestaute Wut auf das DDR-System aus ihr hervor. Sie berichtete, wie ihre gesamte Familie immer wieder durch die Mühlen der SED-Diktatur und der Stasi gedreht worden waren. Ihr Zeugnis war für die Zuhörer sehr bedrückend.
Ihre tränenerstickte, teilweise schreiende Stimme ließ den Menschen auf dem Marktplatz kalte Schauer über den Rücken laufen.
Die erste Montags-Demo war ein voller Erfolg. Die Hildburghäuser haben damals bewiesen, dass auch in ihrer Stadt die Kraft der Massen in Bewegung gebracht werden konnte. Was nach der Demo noch zu tun blieb, erledigten die Genossen der Volkspolizei. Während der Demo hielten sie sich diskret im Hintergrund. Und als alles vorbei war, löschten sie auf dem Marktplatz die noch brennenden Kerzen ...“
(Nach: Gerd Krauß: Über die Vergangenheit – die Gegenwart und die Zukunft – Zum 10. Jahrestag der ersten Montags-Demo am 30.10.1989 in Hildburghausen. – In: Südthüringer Rundschau, 28.10.1999. – Hildburghausen/Haßfurt (Auszug)
Im Eisfelder „Volkshaus“ finden sich ca. 800 Bürger zum 1. Eisfelder Rathausgespräch ein, um den Dialog mit Funktionären und dem Stadtrat in Gang zu bringen. Den kritischen Fragen und Reden stellen sich Bürgermeister Gerd Braun, der stellvertretende Bürgermeister Hans Hartwig, der Ortsparteisekretär Joachim Soltysek, der Zeiss-Betriebsdirektor Adolf Stirzel u. a. Wie bei anderen ersten Gesprächen werden vielfältige Forderungen gestellt, zu unterschiedlichsten Themen, und es wird teilweise überaus temperamentvoll diskutiert und gestritten. In drei Stunden kommen mehr als 30 Redner zu Wort: Manfred Oginski: fordert mehr Mitsprache- und Demonstrationsrecht, Zulassung des Neuen Forums und anderer politischer Gruppierungen, Presse- und Reisefreiheit, Verbesserung der Versorgung. Vikar Bodo Dungs verlangt die Kontrolle der Partei- und Staatsfunktionäre und stellt ihre Arroganz bloß. Für künftige Wahlen werden mehrere Kandidaten zur Auswahl gefordert (Dr. Hans-Henning Axthelm, Günter Recknagel), Wahlen sollen zur Pflicht erhoben werden (Hans Sprockhoff), eine Eingabe an den Bürgermeister zu eventuellen Unregelmäßigkeiten bei den Kommunalwahlen am 07.05.1989 (Vikar Bodo Dungs). Der stellvertretende Bürgermeister distanziert sich von den Funktionären, die „öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken“ und spricht von den negativen Auswirkungen auf die SED. Wichtiges Thema ist der sträflich vernachlässigte Umweltschutz: Verbrennen von Spanplatten im Möbelwerk und der qualmende Schornstein der Porzellanfabrik (Thomas Achtelstetter), Verschmutzung der Werra und die Umweltbelastung durch nicht fachgerecht ausgebrachte Gülle (Udo Oleska), Industrieabwässer (Herbert Nickel). Ratsmitglied Anette Philipp spricht von spürbaren Veränderungen 1990, Manfred Schröder und Dr. Hans-Henning Axthelm appellieren an die Bürger, dass Umweltschutz Sache aller sei. Ute Schuchardt fordert Spielplätze. Großen Raum nehmen in der Diskussion die ungelösten Wohnungsprobleme und der schlechte Bauzustand vieler Häuser ein. Kritisiert werden die für die Werktätigen unzureichenden Ladenöffnungszeiten. Der Bau eines Schwimmbades wird angesprochen. Adolf Stirzel verspricht bis 1995 Abhilfe.
Es wird gefordert, das Rathausgespräch fortzusetzen und auch in fachspezifischen Gruppen zu beraten.
Im Themarer Jugendklubhaus „Nikolai Ostrowski“ (heute: Schützenhaus) kommt es mit ca. 300 Bürgern zu einem öffentlichen Dialog.
In Schleusingen (zum Zeitpunkt Kreis Suhl-Land, heute: Landkreis Hildburghausen) demonstrieren ca. 2.500 Bürger gegen das SED-Regime und stellen brennende Kerzen vor dem Rathaus ab.
In der Folgezeit gibt es in vielen Orten nach dem Leipziger Vorbild Montagsdemos.
30.10.1989, Montag
Die Leipziger Montags-Demo mit ca. 200.000 Teilnehmern wird in einer Live-Schaltung der DDR-TV-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera teilweise übertragen.
Die 1519. und letzte Hetzsendung des Schwarzen Kanals von DDR I mit Karl-Eduard von Schnitzler endet nach wenigen Minuten. Sie ist abgesetzt worden.
Die Deutsche Post der DDR verausgabte am 28. Februar 1990 ein Sonderpostwertzeichen mit Zuschlag (35 + 15 Pf) mit der Inschrift „WIR SIND DAS VOLK“, der Nikolaikirche, LEIPZIG 1989, Demonstranten und dem Stadtwappen.
Oktober 1989 Flüchtlinge/Übersiedler
3.780 Übersiedler mit dem Zug
23.446 Übersiedler mit Bussen und als Einzelreisende
13.109 Übersiedler, die mit dem Zug aus Prag einreisten
81 Übersiedler, darunter 7 Kinder kehren zurück
10 Flüchtlinge über die Grenzsperranlagen
November 1989
Dezember 1989
Januar 1990
Februar 1990
März - Oktober 1990
Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen SalierEigentlich nicht erwähnenswert ...