Eintöpfe
… und zwei gedankliche „Ausflüge“ in die Geschichte In der Küche ist, wie in allen Künsten,
die Einfachheit der Ausweis der Perfektion.
(Jean Anthelme Brillat-Savarin)
So lange HJS zurückdenken kann, gab es selbst in schlechten Zeiten in der Familie am Sonntag nie Eintopf oder Ähnliches. Ein Stilbruch wäre unverzeihlich gewesen, eher wäre die Werra zur Quelle hin geflossen. Es gab Rohe Klöße, Serviettenkloß, Gemengte Klöße, Karpfen blau, vielleicht auch Schwarzwurzeln oder Blumenkohl mit Schnitzel, Kotelett u. ä., wobei die Rohen Klöße die Hitliste uneingeschränkt anführten. Nein, Eintopf gab es an Sonn- und Feiertagen nie.
Die Nationalsozialisten legten 1933 fest, dass ab Oktober bis März eines jeden Jahres an einem Sonntag im Montag nur Eintopf gegessen werden darf. Die veranschlagte Kostendifferenz von 0,50 Reichs-Mark zwischen Eintopf und einem anderen Gericht sammelte der Blockwart der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ein, und der Betrag wurde dem Winterhilfswerk des Deutschen Volkes gutgeschrieben, eine Stiftung des öffentlichen Rechts. Vor ihrer Machtübernahme gab es in Deutschland zahlreiche Hilfsorganisationen mit Sammlungen für notleidende Menschen. Die Nazis nutzten die Gunst der Stunde und vereinnahmten die Menschen für sich. Zum gleichen Zeitpunkt verboten sie andere Volkshilfeorganisationen oder schalteten sie gleich. Der Weltkrieg und die anderthalb folgenden Jahrzehnte mit Inflation, Massenarbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise hatten unendliches Elend gesehen. Es kam zur Polarisierung der extremistischen Kräfte von rechts und links, die zum Versagen der demokratischen Gesellschaft und damit zum Kollaps führte. Der Eintopf wurde zum Propagandainstrument der Nazis. Die Nazigrößen um Hitler, Goebbels, Göring ließen sich regelmäßig für Presse und Film ablichten, um zu demonstrieren, dass sie Teil der deutschen Volksgemeinschaft wären. Man überbot sich an Rezepten, selbst ein Eintopf-Kochbuch wurde geschrieben, das in fast keinem Haushalt fehlte.
In einem Meyer-Lexikon des Nazijahrtausends fand HJS die Definition: „Der Eintopfsonntag soll nicht nur materiell (durch die Spende), sondern auch ideell dem Gedanken der Volksgemeinschaft dienen. Es genügt nicht, daß jemand zwar eine Eintopfspende gibt, aber seine gewohnte Sonntagsmahlzeit verzehrt. Das ganze deutsche Volk soll bei diesem Eintopfsonntag bewußt opfern [ ... ] um bedürftigen Volksgenossen zu helfen.“
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde an Stelle des „Eintopf-Sonntags“ für das Winterhilfswerk der „Opfer-Sonntag“ eingeführt. Vom „deutschen Sozialismus der Tat“ tönte die Propagandamaschinerie der Nazis.
Im Oktober 1934 heißt es in einer Kasseler Zeitung: „Im Namen des Winterhilfswerks des deutschen Volkes 1934/35 sind folgende Sonntage als Eintopfgerichtsonntage bestimmt worden: 14. Oktober, 18. November, 16. Dezember, 13. Januar ’35, 17. Februar, 17. März.
Für den 14. Oktober sind lediglich folgende drei Eintopfgerichte zugelassen: 1. Löffelerbsen mit Einlage; 2. Nudelsuppe mit Rindfleisch; 3. Gemüsetopf mit Fleischeinlage (zusammengekocht). Zu Löffelerbsen ’Einlage’ entweder Wurst, Schweineohr oder Pökelfleisch.
Für die folgenden Eintopfsonntage werden entsprechende Gerichte jeweils festgelegt. Sämtliche Gaststättenbetriebe sind eingeteilt in drei Klassen, welche die Gerichte zu 0,70 RM, 1 RM bzw. 2 RM verabreichen. Die Gäste erhalten für den an das Winterhilfswerk abgeführten Betrag eine Quittung aus einem numerierten Quittungsblock."
Jetzt hört HJS schon wieder das Grummeln von Kritikern. Er schreibt ein paar Rezepte auf, und gleich muss er sich in die Geschichte verbreiten. HJS entgegnet scherzhaft, dass es ihm wie dem niederländischen Geiger André Rieu geht, der mit einer Violine in der Hand aus jedem Lied, vielleicht auch aus dem vom Rennsteig, einen Walzer macht. Essen ist notwendig, macht Spaß, kann aber auch zum Nachdenken anregen.
Da wären wir schon bei der Redlichkeit von Rezepten. In seiner Kochbuchsammlung findet sich ein Exemplar der Broschüre Eintöpfe, Aufläufe, Überbackenes (1982) aus dem Verlag für die Frau. Im Vorwort heißt es: „Das Kochen in einem Topf ist über Ländergrenzen hinweg beliebt. Wären wohl Pichelsteiner, Irish Stew, Szegediner Gulasch, Borschtsch und Soljanka sonst so berühmt geworden, daß sie auf den Speisekarten vieler Restaurants zu finden sind? Wenn wir unseren Nachbarn in die Töpfe gucken, so stellen wir fest, daß jedes Land seine typischen und weithin bekannten Eintöpfe und Suppen aufzuweisen hat, die alle auf einer langen Tradition beruhen. Denn – abgesehen vom Braten am Spieß über offenem Feuer – stand am Anfang der Kochkünste der Eintopf. …“
In die Originaltöpfe Pichelsteiner oder des Irish Stew haben wir bis 1990 nicht schauen können. Pichelsteiner ist eher Kult als Lokalität und die einstige „Arme-Leute-Küche“ Dublins ist zudem nicht der ersehnte Reisewunsch von HJS. Dazu hatte uns der einstige Teilstaat viel zu lieb, uns alleine in die gefährliche weite Welt reisen zu lassen. Wenn zum Textbeginn etwas von Ländergrenzen und von Nachbars Töpfen stand, können das nur östliche Töpfe gewesen sein und davon auch nur wenige. – Da fällt HJS noch Nachdenkliches ein: Das war eine Zeit, wo man allen möglichen verwurzelten Speisen bis zur Lächerlichkeit neue und vor allem regionale Namen gab, um auch dem letzten Eingezäunten zu verdeutlichen, wie einzigartig und großartig das Vaterland DDR war. Auch anderen Völkern dichtete man in den Redaktionsstuben der nicht weit gereisten Journalisten sonderbare Rezepte an oder ließ den Fernsehkoch Kurt Drummer, er war wirklich ein Könner und Küchenjongleur, die kleinen Unzulänglichkeiten der Versorgung vergessen.
Grusinien kennt jeder. Oder? Grusinien war der Name von Georgien, das transkaukasische Land östlich des Schwarzen Meeres, einst Teilrepublik des Sowjetimperiums, das auch als der Balkon Europas bezeichnet wird. Stalin stammte von dort, zum Glück aber auch der für die deutsche Einheit so wichtige Eduard Schewardnadse.
Die Küche des traditionsreichen Kulturvolkes Georgien ist die Haute Cuisine (die Hohe Küche) schon zu Sowjetzeiten gewesen.
Für uns war der Grusinische Tee ein Highlight, den auch die Popgruppe „Kreis“ (Komposition von Arnold Fritzsch, Text von Fred Gartz) 1978 besang, zwei Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung, mit ehrlichem Fernweh und Sehnsucht nach Freiheit:
Einen Sommer war’n wir bei Freunden auf Tournee.
Von Leningrad zum Kaukasus bis an den Baikalsee.
Am Lagerfeuer saßen wir in einem großen Kreis,
da tranken wir zum ersten Mal ein Glas, so stark und heiß.
Das war grusinischer Tee, grusinischer Tee,
darin ist der Duft des Himmels und der Erde.
Grusinischer Tee, grusinischer Tee,
der gibt dir die Kraft des Windes und der Pferde.
In der Verlag-für-die-Frau-Broschüre ist von einer Soljanka, grusinische Art, zu lesen. Ein Lacher, vor allem, wenn es da heißt: „Anstelle von Rindfleisch lässt sich für grusinische Soljanka Hammelfleisch verwenden.“ Das versteht niemand so richtig, und Grusinische Soljanka bleibt unbekannt. Und überhaupt: Soljanka wird immer auf щи-Basis gekocht. Schtschi mit dem Hauptbestandteil Sauerkraut oder Weißkraut ist Pflicht, sonst ist es keine Soljanka, auch wenn man es richtig schreiben kann.
Im Jahr 2013 treten in einem demokratischen Land Mitteleuropas grüne Gutmenschen mit der Idee in die Politik ein, den mündigen Bürgern vorzuschreiben, was sie gefälligst zu essen haben. Unglaublich! Wie bei allem im Leben kommt es im Leben auf das Maß an. Eine Missionierung braucht niemand …
Aber lassen wir die Botschaften dieser Art und lassen wir uns nicht entmutigen. Hundert, vielleicht tausend oder mehr Eintöpfe kennt die Welt. Hier stehen einige. Guten Appetit!