Dezember 1989
© Salier
01.12.1989, Freitag
Aus dem Artikel 1 der Verfassung der DDR wurde die „führende Rolle der SED“ gestrichen.
Mit Monatsbeginn bauen die Grenztruppen der DDR die Sperranlagen ab.
02.12.1989, Samstag
Kreisdelegiertenkonferenz der SED im Kulturhaus Pfersdorf (heute: Stadtteil von Hildburghausen). Der 1. Kreissekretär der SED, Dr. Peter Dornheim, stellt fest, dass im Kreis 1.013 Mitglieder ihren Austritt aus der SED erklärt haben, 13 Parteileitungen seien nicht mehr arbeitsfähig, 11 kleinere Grundorganisationen haben aufgehört zu existieren. Die Konferenz verabschiedet einen Brief an das Zentralkomitee der SED, in dem neue Parteistrukturen verlangt werden. – In das Sekretariat der SED-Kreisleitung Hildburghausen werden gewählt: 1. Sekretär Dr. Peter Dornheim; 2. Sekretär Hans Gramann, Mitglieder Manfred Steinerstauch, Dieter Kambach.
Freies Wort berichtet von der Kreisdelegiertenkonferenz der SED am 02.12.1989
Anmerkung
Insider haben berichtet, dass die SED-Kreisdelegiertenkonferenz vom 02.12.1989 einer Krisensitzung gleichgekommen sei, um die „gelichteten“ Reihen wieder zu formieren und die Pfründe zu ordnen.
In Hellingen findet eine 5-stündige Demonstration mit Bürgern aus Hellingen und der Umgebung statt. Die Öffnung eines Grenzübergangs zwischen Hellingen, Allertshausen und Maroldsweisach wird energisch gefordert, dem wird auch kurzfristig für wenige Stunden stattgegeben. Auf bayerischem Boden kommt es zu einem überwältigenden Empfang der Demonstranten. Im Meinungsaustausch wird auch der Bau einer Zufahrtsstraße angesprochen. Es wird mitgeteilt, dass der Vorsitzende des Rates des Kreises Hildburghausen, Johannes Müller, und der 1. Bürgermeister von Maroldsweisach, Ottmar Welz, die Verhandlungen zur Grenzöffnung aufnehmen wollen.
Anmerkung
Gerhard Schmidt aus Ermershausen war damals auf westlicher Seite Augenzeuge. Er berichtet: „Auf östlicher Seite öffnete sich plötzlich das Tor, und eine Handvoll Grenzsoldaten betrat das sogen. Niemandsland. Auf Nachfrage wurde erklärt, eine Abordnung von sieben Leuten aus Hellingen dürfe bis zur BRD-Grenze, um sich zu informieren. Mittlerweile hatten sich einige tausend Menschen aus dem Heldburger Unterland versammelt und begehrten massiv Zugang zum Grenzgebiet. Ein Betreten des Schutzstreifens wurde seitens der Soldaten abgelehnt. Heftiger Protest und starkes Drängen veranlassten die Sicherungstruppen, schließlich nachzugeben, so dass die Menschen in Richtung Bundesrepublik ziehen konnten. Es war kurz nach zwei Uhr, und die Glocken der umliegenden Ortschaften hatten den Sonntag eingeläutet, als man von thüringischer Seite Klänge von ‚So ein Tag, so wunderschön wie heute ...’ hörte. Die östlichen Demonstranten tauchten am Waldrand auf. ‚Sie kommen!’ schrien ganz Mutige, die auf bayerischer Seite Bäume erklommen hatten. Durch die Reihen in Ost und West, wo ebenfalls zahlreiche Menschen warteten, ging ein Aufschrei nach Öffnung des Zauns. Plakate mit der Aufschrift ‚Weg mit dem Zaun!’ wurden geschwungen. Die Sicherungsorgane blieben hart und verweigerten die Öffnung des Tores im Zaun. Sie hatten allerdings nicht mit dem Willen des Volkes gerechnet. Im Nu drückte die Masse mit den Händen auf beiden Seiten gegen den Metallgitterzaun, so dass dieser ins Schwanken geriet und einzustürzen drohte. Nun musste der Befehl zum Öffnen des Tores gegeben werden. Dieser Befehl war wohl der schönste Befehl, der je an dieser unmenschlichen Grenze gegeben wurde. Schluchzend, mit Freudentränen in den Augen, lagen sich die Menschen in den Armen. Keiner schämte sich in diesem Augenblick seiner Freudentränen ...”
Nach Reinhold Albert: 1049 – 1999. 950 Jahre Rieth. Chronik von Rieth und Albingshausen. – Hellingen, 1999, S. 183
Freies Wort veröffentlicht den Aufruf der Bürgerinitiative Umweltschutz – Heizhaus Hildburghausen. Die Initiatoren sind Gerd Krauß – Neues Forum, Steffen Harzer – SED, Wolfram Gleichmann – parteilos.
Folgende Forderungen werden gestellt:
„1. Sofortige Einsetzung einer Vorbereitungsgruppe zur Durchführung der notwendigen organisatorischen Maßnahmen zur Bauvorbereitung.
2. Zentrale Bereitstellung bzw. Absicherung der notwendigen materiellen und finanziellen Fonds.
3. Zügige Realisierung des Heizhauses unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden materiellen und rechtlichen Mittel.
4. Bereitstellung von hochwertigen, schadstoffarmen Brennstoffen bis zur Realisierung des zentralen Heizhauses.”
Bis 01.02. werden ca. 6.500 Unterschriften gesammelt.
Zwischen Trappstadt und Eicha forderten die Menschen: „Zaun auf, Zaun auf! Die offizielle Grenzöffnung sollte am 09.12.1989 erfolgen. Gegen 13.30 Uhr öffneten Soldaten der Grenztruppen die Grenze und ließen 500 bis 600 Personen nach Trappstadt.“
Grenzöffnung zwischen Lindenau, Kreis Hildburghausen, und Autenhausen, Landkreis Coburg.
Am Grenztor zwischen Lindenau, Kreis Hildburghausen, und Autenhausen, Landkreis Coburg. So und ähnlich sieht es in den Tagen um die Jahreswende 1989/90 nahezu überall an den Grenzübergängen aus.
Foto: Willi Beetz, 02.12.1989
Bei Rostock wird von Bürgern der DDR ein Waffenlager der IMES GmbH (KoKo) entdeckt. Von hier exportiert die „friedliebende DDR“ Kriegsgüter in Spannungs- und Kriegsgebiete. Federführend in diesen Waffengeschäften ist der für die Devisenbeschaffung verantwortliche DDR-Staatssekretär und Staatssicherheitsoberst Dr. Alexander Schalck-Golodkowski. Er flieht am 03.12. in den Westen.
02./03.12.1989, Samstag, Sonntag
Von den Landkreisen Rhön-Grabfeld, Coburg und Hof wurde kein Begrüßungsgeld ausgezahlt. Der Bayerische Städtetag hatte beschlossen, eine Pause einzulegen, weil die Bediensteten unter Dauerstress standen.
03.12.1989, Sonntag
Zum Schluss der 12. Tagung des Zentralkomitees der SED sagt der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrats, Egon Krenz: „Genossen, ich stehe jetzt auch vor einer Frage, auf die ich keine Antwort habe. Das ZK hat sich aufgelöst … Jetzt müsste der Arbeitsausschuss tätig sein … Oder wie ist das? – Ein Treppenwitz der Geschichte. Ein Staatsgebilde verabschiedet sich von dieser Welt. Ein Kabarett-Stück der Extraklasse …
Rücktritt des Politbüros und des ZK der SED. Hans Albrecht, der ehemalige Erste Sekretär der Bezirksleitung Suhl der SED und Stellvertreter des Nationalen Verteidigungsrats wird aus der SED ausgeschlossen und verhaftet. – Die Geschäfte des Arbeitsausschusses, dem u. a. der in das DDR-System verstrickte Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi, der später als Wahlfälscher verurteilte Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und der ehemalige stellvertretende Staatssicherheitsminister, Generaloberst Markus Wolf, angehören.
Die Aktion Sühnezeichen des Neuen Forums und anderer Organisationen ruft für die Zeit zwischen 12.00 und 12.15 Uhr zu einer Menschenkette durch die DDR zur demokratischen Erneuerung des Landes auf. Während sich besonders die Reuriether Bürger engagiert zeigen, bewegt die angeblich „bequemen Hildburghäuser“, wie es in Leserbriefen in Freies Wort dargestellt wird, nichts.
Anmerkung
Auch engagierte Mitglieder der Bürgerbewegung beteiligten sich nicht an der Aktion, da sie sich vor allem nicht durch die von den Kommunisten inszenierte Kampagne „Für unser Land!“ missbrauchen lassen wollten. Für viele Menschen war die DDR nicht mehr erneuerbar und der Sozialismus schon gar nicht reformierbar.
In Eisfeld kommt es ab 15 Uhr zu einer Demo ab dem Volkshaus. An der ehemaligen Grenze bilden ca. 2.000 Menschen mit der Aktion Grünes Band – Wir bleiben hier! eine Menschenkette. Teilnehmer sind der Oberbürgermeister Coburgs, Karl-Heinz Höhn, und Eisfelds Bürgermeister, Gerd Braun.
In Römhild bildet sich eine Menschenkette in Richtung Grenze.
Von 13 bis 17 Uhr wird das Tor zum 500-m-Sperrgebiet am Straufhain zwischen Streufdorf und Seidingstadt geöffnet. Ca. 500 Bürger aus Streufdorf und Umgebung können nach Jahrzehnten des Verbots erstmals wieder den 449 m hohen Straufhain mit seiner geschichtsträchtigen Ruine, dem einstigen Sitz der Henneberger, besteigen. Erste Gedanken für die Errichtung eines Naturschutz- und Naherholungszentrums und eines Straufhain-Aktivs werden entwickelt.
04.12.1989, Montag
Die Parteien CDU und LDPD treten aus dem Demokratischen Block der Parteien und Massenorganisationen aus.
Der Vorsitzende des Rates des Kreises Hildburghausen, Johannes Müller
Foto: Hermann Vonhausen
Treffen der Landräte Walter Keller, Landkreis Haßberge, und Johannes Müller, Kreis Hildburghausen. Sie beraten mit Straßenbauexperten die Straßenausbaumöglichkeiten zwischen den benachbarten Kreisen. Am 13.12.1989 wird eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnet, nachdem der Landkreis Haßberge bereits am 07.12. mit dem Bau begonnen hat.
Trotz von der DDR-Regierung vorgegebener Richtlinien wird die zeitlich befristete Grenzöffnung für Fußgänger festgelegt. Damit setzt man sich auch über den bestehenden Zwangsumtausch hinweg.
Vor der Montagsdemo in Hildburghausen fordert eine Gruppe Oppositioneller eine Zusammenkunft mit dem 1. Kreissekretär der SED, Dr. Peter Dornheim, in der SED-Kreisleitung und verlangt den Rückzug der SED aus den Schulen, Verwaltungen und Betrieben, ferner Rechenschaft über kriminelle Machenschaften, Korruption und Amtsmissbrauch, die Entwaffnung der Spitzenfunktionäre und besteht auf der Aufklärung einer Vielzahl entwicklungshemmender Erscheinungen der SED-Diktatur.
Anmerkung
Das nachfolgend Dargestellte ist beinahe typisch für viele Aktionen der Oppositionellen, die ihren großen Mut meist bei ihren Aktivitäten finden, auch wenn sie wissen, dass die SED und damit die Stasi meist dabei gewesen sind, denn es gibt genügend willfährige Spitzel, die von der „Firma“ noch ein zweites Gehalt erhalten haben. Manche helfen uns aber auch sehr bewusst, weil sie mit der SED-Stasi-Erpresserbande inzwischen gebrochen haben, weil sie sich für ihr vergangenes Handeln selbst rehabilitieren wollen.
Vor der Werrabrücke am Burghof versammeln sich am späten Nachmittag vor der Montagsdemo Mitglieder verschiedener Oppositionsbewegungen bzw. Parteien. Die bunt gemischte und großenteils planlos organisierte Gruppe bespricht ihr Vorgehen, denn sie hat bis dato kein Konzept, aber Wagemut. Kurz wird die Aktion erörtert. Einer fragt: „Wer kann Steno?“ Eine junge Frau meldet sich. „Du schreibst oder tust so, als ob du jedes Wort notierst.“ HJS hat ein 1988 aus der Bundesrepublik mitgebrachtes Mini-Diktiergerät dabei, das damals, weil die Einfuhr verboten gewesen ist, schon allerhöchsten Argwohn der Zollorgane erregt hat. Es wird nicht konfisziert, weil er glaubhaft versichert hat, dass er es für die Stärkung der sozialistischen Wirtschaft der DDR einsetzen kann. Vor Aufregung wird pausenlos geraucht. Man spricht sich Mut zu. Die erste Mutprobe wird bestanden, als man sich dem den Ausweis fordernden blau-uniformierten Pförtner, es war der allseits bekannte Walter Heilmann, in der Parteizentrale in der Leninstraße, im Volksmund „Kreml“ genannt, vorbeidrängt. Man ist höflich zueinander, denn der im Look der einstigen Kasernierten Volkspolizei Ausstaffierte ist reichlich verdattert, ein solch dreistes Vorgehen steht wohl nicht in seiner Dienstordnung, denn welcher irrwitzige Bürger hat es bislang schon gewagt, sich Einlass zum Ersten zu erheischen. Der Weg zu ihm ist nur noch eine Frage von Sekunden, und es kommt nach einer artigen Begrüßung zu einem eindeutig fordernden und leidenschaftlichen Gespräch der Oppositionellen mit einem überaus höflich-korrekten und anscheinend eingeschüchterten 1. Kreissekretär der SED ... Die „Besuchergruppe“ berichtet dann auf dem Marktplatz den reichlich Beifall klatschenden Demonstranten ...
Freies Wort meldet am 07.12. u. a., dass am Montagabend auf dem Hildburghäuser Marx-Engels-Platz erneut eine genehmigte Kundgebung stattfand, „in deren Anschluß sich ein Demonstrationszug durch die Kreisstadt bewegte. Zu den 600 Teilnehmern der Kundgebung sprachen Hans-Jürgen Salier und Gerd Krauß vom ‚Neuen Forum’ sowie weitere Bürger. Gefordert wurde ein unabhängiger Arbeitsausschuß zur Untersuchung von Vergehen, Korruption und Amtsmißbrauch in unserem Kreis, wie er auch von der Volkskammer allen Kreisen vorgeschlagen wurde. Das ‚Neue Forum’ will sich nun zur Untersuchung solcher Fälle selbst legitimieren lassen. Als bedauerlich wurde vom ‚Neuen Forum’ eingeschätzt, daß es an diesem Montagabend beim Monolog blieb, da keine Dialogpartner anwesend waren.
Auf der anschließenden Demo, an der etwa 1.500 Bürger teilnahmen, wurde der Unmut über zu langes Warten auf allen Gebieten sowie herbe Kritik an der SED laut. Das ‚Neue Forum’ teilt mit, daß das heutige Friedensgebet in der Kirche in der Schleusinger Straße das vorerst letzte dieser Art sein wird.”
Anmerkung
Die Nachricht, es handele sich um das letzte Friedensgebet, ist eine Fehlinformation, gemeint sind Info-Veranstaltungen des Neuen Forums. Die Friedensgebete sind fortgesetzt worden.
Freies Wort hält sich bei der Berichterstattung am 07.12. sehr bedeckt, vor allem wird die Zusammenkunft der Oppositionellen-Gruppe mit dem 1. Kreissekretär der SED verschwiegen, auch wenn ausführlich während der Demo darüber berichtet worden ist.
In der Bürgermeister-Dienstberatung des Kreises werden Grundsätze zur weiteren staatlichen Arbeit in einem Papier vorgeschlagen, das am 13.12. in Freies Wort veröffentlicht wird unter der Überschrift „Rasche Entscheidungen zum Wohle aller“, unterzeichnet von Jürgen Ließ, Hildburghausen; Norbert Pförtner, Heldburg; Gerd Braun, Eisfeld; Günther Köhler, Gleichamberg; Ingrid Höhn, Biberau; Herbert Hess, Heßberg; Karl-Heinz Schieler, Hellingen; Peter Müller, Roth.
Im Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Hildburghausen gründen die Forstmeister Dr. Joachim Hoffmann und Ingward Ullrich das Grüne Forum – Eine unabhängige Initiative zur demokratischen wirtschaftlichen Erneuerung der Forstwirtschaft, das sich am 09.03.1990 in Weimar zum Grünen Forum Thüringens konstituiert.
Anmerkung
Aus dem Grünen Forum Thüringens geht der am 29.05.1990 in Erfurt gegründete Forstausschuss Thüringen (FAT) hervor. Ihm gehören demokratisch gewählte Vertreter aller forstlichen Institutionen Thüringens an. Er ist ein unabhängiges, beratendes Gremium für eine demokratische Neugestaltung der Forstwirtschaft in Thüringen. Der FAT wird nach Installation der neuen forstlichen Organisationsstrukturen im Sommer 1991 aufgelöst.
Die Main-Post berichtet, dass in diesen Tagen drei weitere Grenzübergänge zwischen Thüringen und Franken entstehen, bei Trappstadt (Landkreis Rhön-Grabfeld) und Allertshausen (Landkreis Haßberge). Außerdem, so bestätigt Hauptmann Hölzel von den DDR-Grenzorganen, sei geplant, bei Lindenau (Kreis Hildburghausen) einen weiteren Durchgang zu schaffen.
04./05.12.1989, Montag/Dienstag
Bürger, vor allem Busfahrer, verhindern in der Bezirksdienststelle des Amtes für Nationale Sicherheit in der Suhler Maxim-Gorki-Straße den Abtransport und die Vernichtung weiteren Aktenmaterials. Gemeinsam mit der BDVP (Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei) wird das Gelände gesichert. Zu den ersten der unabhängigen Untersuchungsgruppe, die die Archivräume besichtigen, gehört Pfarrer Bernd Winkelmann aus Bischofrod.
Die Unterlagen und die Räumlichkeiten des Amtes für Nationale Sicherheit in Suhl werden auf Initiative des Neuen Forums gesichert. Das umfangreiche Protokoll des ereignisreichen Tages endet mit den Forderungen:
„1. sofortige Versiegelung des gesamten Geländes der Staatssicherheit durch den Bezirksstaatsanwalt und die Mitarbeiter der BDVP;
2. sofortige Beurlaubung des Generalmajors Lange (In einem Interview mit einer österreichischen Zeitung hat Lange geäußert, dass er die „Republik Suhl“ hätte ausrufen sollen, denn mit dem Suhler Polizeichef zusammen sei er eine Macht gewesen. Andere Quellen behaupten, er habe das im Zusammenspiel mit Hans Albrecht gesagt. Die Wende wäre nach seiner Meinung dann im Bezirk Suhl anders verlaufen.) und seines Mitarbeiterstabes;
3. Einsatz einer Kontrollkommission aus verschiedenen Gruppierungen mit dem Ziel, die verbliebenen Unterlagen zu sichten;
4. Offenlegung der Finanzen der Staatssicherheit Suhl, Bereitstellung des Fuhrparks zur Einordnung im Vergabeplan der Stadt Suhl.“
Anmerkung
Die Zerschlagung der Stasi als Unterdrückungsinstrumentarium der SED beginnt am Morgen des 04.12. in Erfurt. Die Ärztin Dr. Kerstin Schön, sie ist Gründungsmitglied der im September 1989 in Erfurt aus mehreren Fraueninitiativen gegründeten Gruppe Frauen für Veränderung, fordert im Erfurter Rathaus den Stopp der offensichtlichen Aktenvernichtung der Stasi-Bezirksverwaltung. Nach Informierung der Presse, Staatsanwaltschaft, der Bürgerbewegungen versammeln sich viele Menschen vor der Stasidienststelle und kontrollieren die Zugänge. Nach langem Taktieren des Geheimdienstes stürmen ca. 200 Personen das Gebäude.
Diese mutige Aktion, die sich wie ein Lauffeuer in der DDR herumspricht, ist Signal für Bürgerrechtler in anderen Städten.
„Mit der Entmachtung der Staatssicherheit wurde die letzte Phase des Umbruchs eingeleitet, die durch die Gründung von Bürgerkomitees und die Einrichtung Runder Tische geprägt war. Diese Phase endete mit den Wahlen des Jahres 1990, als der Übergang von den durch die friedliche Revolution des Volkes legitimierten Runden Tischen und Bürgerkomitees zu den förmlich legitimierten und demokratisch gewählten Parlamenten vollzogen wurde. Entscheidend für diesen Zeitraum war, daß die Bürgerbewegungen die Machtfrage nicht stellten, sondern nur auf eine Teilhabe der Macht abzielten. So war diese Phase letztlich von einem Nebeneinander von alten und neuen Kräften gekennzeichnet.“
Dornheim, Andreas: Der Demokratisierungsprozeß in Thüringen 1989. In: Thüringen - Blätter zur Landeskunde (Hg. Landeszentrale für politische Bildung THÜRINGEN). – Erfurt, 1997.
05.12.1989, Dienstag
Beschäftigte der Druckerei VEB Offizin Andersen Nexö Leipzig, Betriebsteil Hildburghausen, in der Geschwister-Scholl-Straße 26 beobachten mindestens zweimal, dass Mitarbeiter der Kreisdienststelle des Amtes für Nationale Sicherheit mehrere Fahrzeuge mit Mülltonnen aus der Toreinfahrt zur Geschwister-Scholl-Straße transportieren. Des Weiteren nehmen sie wahr, dass es in der Umgebung des Gebäudes zu starker Rauchbelästigung kommt, als sei die Heizungsanlage mit größeren Papiermengen beschickt worden. Mitarbeiter informieren den FW-Redakteur Hans-Hermann Langguth. Die Redaktion hat zum Zeitpunkt ihren Sitz im Gebäude der Druckerei. Es wird der Verdacht geäußert, dass Angehörige der Staatssicherheit Akten vernichten. Langguth benachrichtigt die Staatsanwaltschaft, und kurzfristig werden Vertreter des Neuen Forums in die Staatsanwaltschaft bestellt. Zeitgleich wird in der Staatsanwaltschaft eine große Aktenmenge aus dem Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Hildburghausen deponiert, weil der Betrieb in den Verdacht gekommen ist, Devisengeschäfte mit dem Staatssekretär und Stasi-Oberst Dr. Alexander Schalck-Golodkowski für KoKo getätigt zu haben. Es wird festgelegt, die Situation vor Ort zu prüfen, um eine weitere Aktenvernichtung zu verhindern.
In diesem Moment denkt noch keiner der Beteiligten daran, dass nach dem Gespräch mit dem Chef der Geheimpolizei auch sein letzter Arbeitstag in der Kreisdienststelle angebrochen ist.
Die Dienststelle des Kreisamtes für Nationale Sicherheit wird kontrolliert von Hartmut Lorenz (Kreisstaatsanwalt), Ralf Bumann, Hans-Jürgen Salier, Christian Leuthold (Bürgerkomitee), Hans-Hermann Langguth (Freies Wort).
Anmerkungen
Im Gegensatz zu anderen Kreisen und Bezirken, in denen Militärstaatsanwälte zu den Aktionen herangezogen werden, weil die Staatsanwälte erklären, sie seien nicht für militärische Einheiten zuständig, besitzt der Amtierende Kreisstaatsanwalt in Hildburghausen, Hartmut Lorenz, den notwendigen Mut.
„Als konspirativ arbeitendes Kontrollorgan hatte das MfS im DDR-System allerdings eine Sonderrolle, die seiner Informationsgewinnung und -verarbeitung einen größeren Spielraum verschaffte, als andere Institutionen und Organisationen ihn hatten. In der SED, den Blockparteien und Massenorganisationen sowie in Teilen des Staatsapparates prägten die allgegenwärtigen propagandistischen Bedürfnisse des Regimes den Arbeitsalltag naturgemäß sehr viel stärker als in der verdeckt arbeitenden Staatssicherheit. Dort, wo Institutionen und Organisationen über ihre eigene Tätigkeit oder ihren eigenen Verantwortungsbereich berichteten, diente die Berichterstattung zwangsläufig in erheblichem Maße der Legitimierung der eigenen Rolle. Der extreme Hang zum Schön- und Wegreden von Mißständen und Problemen, der die DDR-Propaganda bestimmte, charakterisiert daher häufig auch die interne Berichterstattung ihrer Apparate nach oben.
Soweit man dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt beurteilen kann, bildete die Berichterstattung des MfS ein Gegengewicht zur allgemeinen schönfärberischen Tendenz der nicht-konspirativen Berichtssysteme der DDR. Schließlich hatte die Staatssicherheit die Aufgabe, politisch gefährliche Stimmungen in der Bevölkerung und sicherheitsrelevante Disfunktionen aller Art ‘aufzuklären’. Der Einsatz geheimdienstlicher Mittel ermöglichte ihr ein Eindringen in Bereiche, die anderen berichterstattenden Institutionen und Organisationen nicht zugänglich waren und in denen sich Meinungen und Sachverhalte in einer authentischeren Form präsentierten als auf den offiziellen Ebenen und in der öffentlichen oder halböffentlichen Sphäre – soweit von Öffentlichkeit unter den Bedingungen der SED-Diktatur überhaupt die Rede sein kann. Es spricht daher einiges dafür, daß Wahrheitsgehalt und Quellenwert der Staatssicherheits-Unterlagen gerade in Relation zu anderen Überlieferungen der ehemaligen DDR als relativ hoch einzuschätzen sind.“
Engelmann, Roger: Zu Struktur, Charakter und Bedeutung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Schriftenreihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. – Berlin, 1994, Heft 3, S. 17.
Die Mitarbeiter müssen – teils auch unter Zurücklassen ihrer persönlichen Habe – die Dienststelle verlassen. Diensträume, Nachrichtenanlagen und Waffenkammer werden versiegelt. Das Gebäude wird auch nachts vom Neuen Forum und der Deutschen Volkspolizei bewacht.
Eine der aufregendsten und befreiendsten Meldungen von Freies Wort (09.12.1989) für die Bevölkerung des Kreises Hildburghausen
In einem Gespräch mit Vertretern des Bürgerkomitees, das ein Mitglied der Gruppe mit einem Diktiergerät aufgezeichnet hat, versichert Oberstleutnant Cudok auf die beharrlich gestellte Frage, welche Akten zur Vernichtung in den letzten Tagen freigegeben worden seien, es handele sich zu ca. 80 bis 90 % um Unterlagen, die das Grenzregime betreffen. (Im Nachhinein stellt sich jedoch heraus, dass die entsprechenden Fälle auch an anderer Stelle dokumentiert worden sind und demzufolge großenteils wieder zugänglich sind.)
Anmerkung
Das Ministerium für Staatssicherheit mit seinem Dienstsitz in Berlin hat 1989 insgesamt 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter. Die Organisationsstruktur ist den Mitarbeitern selbst unbekannt, auch in den Kreisdienststellen nicht. Zusammenfassende Strukturen in Form von Organogrammen sind nicht vorhanden. Nur wenige Offiziere der ZAIG (= Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe der Staatssicherheit, d. Verf.) und der Hauptabteilung Kader und Schulung verfügen über einen gewissen Überblick. Erst die Quelle „MfS-Handbuch. Anatomie der Staatssicherheit. Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989“ in der Schriftenreihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. – Berlin, 1995” macht es möglich, die Struktur des Geheimdienstes zu erfassen, dessen Angaben sich jedoch nur auf die MfS-Führung in Berlin beziehen. Von Bezirksverwaltungen, Kreis- und Objektdienststellen liegen 1999 noch keine endgültigen Dokumentationen vor.
Die Hauptabteilung I unter Generalleutnant Neiber (Bereich der „bewaffneten Organe“) hatte 1989 einen Personalbestand von 2.319 Mitarbeitern).
Zum Verantwortungsbereich des Stellvertreters Kommando Grenztruppen, Oberst Nieter, mit Dienstsitz in Pätz (b. Potsdam) gehören 102 Planstellen für die abwehrmäßige Sicherung der Grenztruppen der DDR, des Handlungsraumes der Grenztruppen sowie Aufklärung der Grenzüberwachungsorgane im grenznahen Raum zur Bundesrepublik Deutschland und Berlin. Allein im Bereich der Offiziershochschule (OHS) „Rosa Luxemburg“ Suhl gibt es 15 Planstellen. Die Abteilung Grenzsicherheit des MfS (Erhöhung der Wirksamkeit des MfS bei der Sicherung der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland durch die Einflussnahme auf das einheitlich geführte, tief gestaffelte System der Grenzsicherung auf der Grundlage des Befehls 2/86 – u. a. durch Einsatz von Grenzbeauftragten, Koordinierung der an der Sicherung der Grenze beteiligten Kräfte) hat 102 Planstellen. Die Abteilung war strukturell in 6 territoriale Untereinheiten gegliedert. Die Unterabteilung Grenzsicherheit Suhl hat 20 Planstellen besessen.
Die dem Ministerium des Innern unterstehenden Kampfgruppen der Arbeiterklasse werden entwaffnet, am 14.12. beschließt der Ministerrat der DDR die Auflösung.
05.12.1989, Dienstag
Zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik wird ein gemeinsamer Fonds für Reisedevisen in Berlin vereinbart.
Am 07.12. schließen Neues Form und Deutsche Volkspolizei eine Sicherheitspartnerschaft.
Nach der Besichtigung des MfS/AfNS-Gebäudes an der Geschwister-Scholl-Straße/Seminarstraße.
Von links nach rechts: Amtierender Kreisstaatsanwalt Hartmut Lorenz, FW-Redakteur Hans-Hermann Langguth, Hans-Jürgen Salier, Ralf Bumann, Christian Leuthold. Freies Wort vom 08.12.1989
Freies Wort vom 08.12.1989
Anmerkung
Die Brisanz der Aktion wird durch nachfolgend dargestellte obskure Episoden deutlich:
Nachdem bereits nahezu alle Räume, Anlagen und Tresore der Kreisdienststelle des Amtes für Nationale Sicherheit kontrolliert und vom Staatsanwalt versiegelt worden sind, weist H.-J. Salier auf einen Tresor und fragt, was es mit dem auf sich habe. Die hauptamtliche Stasimitarbeiterin kommt sichtlich ins Schwitzen und bemerkt zögerlich, es seien Liebesakten darin. Nach einem barschen „Schließen Sie auf!“ öffnet sie den Tresor mit den Meisterleistungen der Stasi-Aufklärungsarbeit.
In der Tat hat die Krake Stasi, wie es in ihrem Jargon schon in den 50er Jahren hieß, „Personen mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“ oder solche, die sie bei einem Liebesabenteuer observierte, vermutlich bei Bedarf für ihre tschekistischen Ziele erpresst. Der Autor kann bestätigen, dass der Tresor reichlich mit Aktenmaterial gefüllt war.
Freies Wort veröffentlicht am 08.12. die
„Mitteilung des Staatsanwaltes des Kreises. Am Dienstag, 5. Dezember 1989, besichtigte eine Gruppe von Bürgern auf Einladung von Herrn Cudok, Leiter des Kreisamtes für Nationale Sicherheit, diese Dienststelle. Herr Cudok gab zur Kenntnis, daß alles, was sich an Akten und Vorgängen noch in dieser Dienststelle befindet, im Archiv der Dienststelle aufbewahrt wird. Als amtierender Kreisstaatsanwalt lege ich fest:
1. Die beiden Archivräume wurden mit meiner Petschaft, deren Nummer allen Anwesenden bekannt ist, versiegelt.
2. Diese Versiegelung bleibt bestehen, bis eine nachprüfbare, von einem zentralen staatlichen Organ getroffene Festlegung zur Auflösung solcher Dienststellen existiert, die auch den Verbleib der betreffenden Akten regelt.
3. Die Kontrolle der Versiegelung erfolgt zum einen durch die Staatsanwaltschaft auf der Grundlage des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft, zum anderen auf Grundlage einer mündlichen Vereinbarung mit Herrn Cudok durch die anwesenden Bürger Ralf Bumann, Hans-Hermann Langguth, Christian Leuthold und Hans-Jürgen Salier im Beisein von Herrn Cudok oder seines Stellvertreters. (Stellvertreter ist zu diesem Zeitpunkt Major Winfried Litsche.)
4. Die Aufhebung der Versiegelung erfolgt im Beisein der obengenannten Bürger und des Staatsanwaltes.
5. Diese Festlegungen werden in einem Protokoll festgehalten.
Lorenz,
amtierender Kreisstaatsanwalt.”
Anmerkung
Die am 08.12.1989 in Freies Wort veröffentlichten Formulierungen des Staatsanwalts und des Redakteurs, wir seien auf Einladung des Kreisdienststellenchefs des AfNS gekommen, kann so nicht hingenommen werden. Die Formulierungen werden vermutlich vorsichtig gewählt, weil die Gefahr des Zurückschlagens der Stasi aus damaliger Sicht noch längst nicht gebannt ist. Wie an anderer Stelle erwähnt, sind in diesen Tagen und Wochen eine Reihe von Bürgerrechtlern physisch und psychisch bedroht worden. Und die an der Aktion beteiligten Bürgerrechtler sind sich darüber klar, dass sie bei einem Erfolg der diktatorischen Staatsmacht „unschädlich“ gemacht werden.
Dem Einlass in die Stasi-Kreisdienststelle geht wenige Minuten zuvor ein Telefonat aus den Räumen der Kreisstaatsanwaltschaft in der Johann-Sebastian-Bach-Straße 2 in Hildburghausen des Staatsanwalts mit Oberstleutnant Cudok voraus, in dem mitgeteilt wird, dass die Gruppe in wenigen Minuten eintrifft. Um eine Eskalation zu verhindern, kann C. nur zustimmen. Das Heft des Handelns lässt sich die Gruppe seit Betreten der Stasidienststelle nicht mehr aus der Hand nehmen.
Das Neue Forum lädt zu einem Treffen mit Vertretern aus dem Kreisgebiet nach Reurieth ein. Ein klares Konzept für die weitere Arbeit der Bürgerbewegung wird gefordert. Kritisiert wird, dass die Bürger des Kreises, besonders der Waldgemeinden, kaum reagieren. Ein 20-Punkte-Programm wird vorgestellt.
Nachdem die NDPD, LDPD und CDU fordern, dass nur noch Parteien in den sogenannten Volksvertretungen sitzen dürfen, also keine Vertreter von Massenorganisationen, ergreift die FDJ-Fraktion im Kreistag Hildburghausen die Initiative für eine Unterschriftensammlung für eine parteiunabhängige parlamentarische Jugendvertretung auf allen Ebenen. Dieser Aufruf findet allerdings in der Bevölkerung keine Resonanz.
Das Rathausgespräch „Demokratie – mit und durch alle Parteien und Organisationen“ findet im Hildburghäuser Feierabend- und Pflegeheim in der Schleusinger Straße statt.
06.12.1989, Mittwoch
Egon Krenz tritt von seinen Staatsämtern zurück. Vorsitzender des Staatsrates der DDR wird der LDPD-Vorsitzende, Prof. Dr. Manfred Gerlach.
Freies Wort erscheint erstmals ohne den Untertitel „Organ der Bezirksleitung Suhl der SED“.
In einem FW-Interview äußert Luise Platz, Kreissekretärin der NDPD, zu den Forderungen der Partei zur wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR:
„Wir unterstützen eine Wirtschaftsreform voll und ganz und sprechen uns vordringlich für alle Maßnahmen zur Stabilisierung der Produktion, des Binnenmarktes und der Staatsfinanzen aus. Wir National-Demokraten sehen die Marktorientierung nicht als Ersatz sozialistischen Wirtschaftens, sondern als Prinzip. In diesem Zusammenhang erachten wir die Einstellung auf den EG-Markt, die Einbindung unserer Wirtschafts- und wissenschaftlichen Entwicklung in Ost und West und deren Nutzung sowie die ausländische Kapitalbeteiligung und die Schaffung von Gemeinschaftsunternehmen als sehr wichtig. Hierzu gehören ebenso die Herstellung der Eigenverantwortlichkeit der Betriebe und ein völliger Neuaufbau der Konsumgüterpoduktion, die Raum läßt für Privatinitiativen sowie Einkommens- und Steuergerechtigkeit für Handwerk und Gewerbe. Ziel muß eine Leistungsgesellschaft in Arbeit und Verteilung sein, die es ermöglicht, Fragen der Landeskultur und des Umweltschutzes konsequent in die Wirtschaftspolitik einzuordnen.”
In den Abendstunden umstellen etwa 50 Bürger die ehemalige Karolinenburg in der Eisfelder Straße Richtung Heßberg in Hildburghausen, weil vermutet wird, dass der Rat des Kreises dort eingelagerte Akten vernichtet. Laut Staatsanwaltschaft handele es sich jedoch bei der Aktenbewegung in die Karolinenburg um die planmäßige Umlagerung älteren Archivmaterials.
In Freies Wort vom 09.12. rechtfertigt Horst Zetzmann, Stellvertreter des Rates des Kreises, diese Aktion und verleumdet die Bürgerbewegung.
Freies Wort vom 09.12.1989. Auch wenn die Parteien wieder besser Fuß gefasst haben, bemüht sich die kleine Gruppe des Neuen Forums, Motor der Revolution zu bleiben. Vor allem die Reuriether Gruppe ist außerordentlich aktiv.
Anmerkung
- s. auch 14.12. Gegendarstellung von Andreas Schierbaum, Neues Forum
“Gemeinsame Verantwortung, ja - Vertrauen, nein danke?”
Die Schäden, die durch die dilettantische Behandlung des Kreisarchivs durch die Verantwortlichen des Rates des Kreises verursacht wurden, sind weder ideell noch finanziell schätzbar, gehen aber sicherlich in den Bereich siebenstelliger Zahlen. Die Funktionäre verstießen mit ihrer Handlungsweise in eklatanter Weise gegen Gesetze und Verordnungen der DDR (z. B. „Die Verordnung über das staatliche Archivwesen vom 11. März 1976 und ihre Verwirklichung im sozialistischen Archivwesen“).
Diplom-Archivarin Heidi Moczarski, seit Sept. 1990 Leiterin des Kreisarchivs Hildburghausen, beschreibt 1997 rückblickend den Zustand:
„Das Kreisarchiv war Verwaltungs- und Endarchiv für den Rat des Kreises ... Die räumliche Unterbringung des Kreisarchivs war ein großes Problem. Nach seiner Bildung wurde es zunächst in verschiedenen Bodenräumen des Rates des Kreises untergebracht. Mit der Einrichtung des Archivs in einem Gebäude in der Eisfelder Straße (ein ehemaliges Gebäude des VEB Bau Hildburghausen, (d. Verf.) bedeutete dies zunächst eine ausreichende Unterbringung. Das Gebäude wurde jedoch im Laufe der Jahre immer baufälliger, so dass Ende der 80er Jahre eine sofortige Auslagerung des Archivs erfolgen musste, da akute Einsturzgefahr bestand. Damit begann die Odyssee des Kreisarchivs. Es wurde zunächst im nahegelegenen Ort Leimrieth in einem ehemaligen Kuhstall eingelagert. Eine Benutzung der Bestände war nicht mehr möglich. Ein plötzlicher Wassereinbruch, dessen Ursache damals nicht aufgeklärt wurde, richtete großen Schaden an. Das erheblich nass gewordene Archivgut wurde nicht getrocknet und belüftet, wodurch an zahlreichen Akten ein starker Schimmelbefall verursacht wurde. Diese systembedingten Zustände mussten jedoch geändert werden, als sich die Ortschronisten mit ihrer öffentlichen Kritik durchsetzten. Die damaligen Verantwortlichen beim Rat des Kreises waren gezwungen, das Archiv umzulagern. Dies erfolgte 1989 in die Karolinenburg, in der Eisfelder Straße, in ein wiederum sehr heruntergekommenes Gebäude. Hier waren die Archivalien einem weiteren Verfall preisgegeben. Anfang 1990 erfolgte dann die Umlagerung in das Gebäude der Friedrich-Rückert-Straße 22.”
Das Kreisarchiv hat seit Mai 1998 im Landratsamt in der Wiesenstraße seinen Sitz.
Moczarski, Heidi u. a.: Kreisarchiv Hildburghausen. Kurze Übersicht über die Bestände. – Hildburghausen, 1997.
Im Auftrag der Modrow-Regierung trifft im Bezirk Suhl eine 3-köpfige Regierungsdelegation unter Dr. Dieter Schröter ein, die mit dem Aktiv Staatssicherheit das Amt für Nationale Sicherheit auflöst.
07./08.12.1989, Donnerstag und Freitag
Die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) wird alarmiert und in Gefechtsbereitschaft versetzt. Die sowjetischen Garnisonen in der DDR sollen angeblich vor feindlichen Demonstranten geschützt werden.
Anmerkung
Viele SED-Bonzen und kommunismusgläubige Parteigenossen sehen nach den Besetzungen der Stasidienststellen ihre Stunde gekommen, um die revolutionäre Situation umzukehren und die Macht an sich zu reißen. Man hofft auch, dass die Landstreitkräfte der NVA die Grenze abriegeln und Sondereinsatzkommandos der Stasi im Hinterland aufräumen und DDR-unbequeme Bürger in geplante Internierungslager bringen.
Michail Gorbatschow schützt jedoch mit seiner besonnenen Haltung die Veränderungen in der DDR und lässt seine Truppen nicht eingreifen. Der für die Geschichte Deutschlands so verhängnisvolle Schießbefehl vom 17. Juni 1953 wird nicht wiederholt.
Der Runde Tisch tagt auf Einladung der Bischofskonferenz erstmals in Ost-Berlin. Er besteht aus 12 Vertretern der DDR-Parteien sowie aus oppositionellen Gruppen und Kräften. Hauptziel ist die Vorbereitung demokratischer Wahlen. Runde Tische werden auch in Kreisen und in Kommunen gebildet.
Beginn der Auflösung der Untersuchungshaftanstalt des MfS/AfNS in Suhl. Hier befinden sich noch acht weibliche und drei männliche Häftlinge. Sie werden nach Untermaßfeld verlegt, die letzten fünf am 13.12.1989.
Freies Wort veröffentlicht auf der Seite „Innenpolitik“ eine Leserzuschrift von Rolf Assmann, Gießübel, dessen Inhalt symptomatisch ist für viele Landgemeinden vor allem im Oberen Waldgebiet:
„Zum Einwohnerforum am 13.11.89 in Gießübel waren die eingeladenen Vertreter des Rates des Kreises Hildburghausen nicht erschienen. Dort wurde mehrfach Besorgnis über die rückläufige Einwohnerzahl unserer Gemeinde geäußert, die seit dem Bestehen unserer Republik um mehr als ein Drittel abgenommen hat. Vorwiegend die Jugend ist abgewandert, so daß jetzt eine ungünstige Altersstruktur besteht. Als eine Hauptursache werden die einseitigen Subventionen bei Mieten angesehen. Nach Aussage der neuen Finanzministerin (Prof. Dr. Christa Luft – stasibelastet, Ministerin in der Modrow-Übergangsregierung und später PDS-Bundestagsabgeordnete) soll diese Politik beibehalten werden. Sollte dies zutreffen, würde sich dieser ungünstige Prozeß in unserer Gemeinde und wohl auch in anderen fortsetzen. Dies ist unverantwortlich.”
Am Eichberg bei Eisfeld kommt es im Beisein von Staatsanwalt und VP zu einer Vorortbesichtigung der “Wetterstation Eichberg des Amtes für Meteorologie”, nachdem von Mitarbeitern der Landambulanz Eisfeld eine auf Aufklärung drängende Bürgerinitiative gegründet worden ist. Eine Nachfrage beim Amt für Meteorologie in Weimar hatte ergeben, dass es keine Wetterstation Eichberg gibt. Am 08.12. wird die getarnte Geheimdienststation geöffnet. Die Spuren sind in dem Stasiobjekt von den Tschekisten vorher verwischt worden. Nachgewiesen worden sind u. a. ein Fotolabor, Autokennzeichen und Alarmanlagen. Die Schränke sind mit einem Petschaft der NVA versiegelt gewesen. (Ende Dezember 1989 wird das Bauwerk an den Eisfelder Bauhof übergeben).
Die ehemalige Kreisdienststelle der Staatssicherheit in der Geschwister-Scholl-Straße wird vom Volkspolizei-Kreisamt übernommen. Die Stasi-Mitarbeiter dürfen das Haus nicht mehr betreten. Räume, in denen sich Material und Unterlagen des Geheimdienstes befinden, sind staatsanwaltlich versiegelt worden. Lediglich eine technische Kraft darf im Beisein der VP und Mitgliedern des Neuen Forums die Heizung in Betrieb halten, zudem werden die Flure mit Videokameras überwacht. Das Gebäude wird in Sicherheitspartnerschaft der Deutschen Volkspolizei und des Neuen Forums geschützt.
Das Friedensgebet mit ca. 1.000 Teilnehmern in der Hildburghäuser Apostelkirche, zu dem das Neue Forum aufgerufen hat, wird geprägt von den Berichten von Hans-Hermann Langguth und Hans-Jürgen Salier zur Aktion in der Kreisdienststelle des Amtes für Nationale Sicherheit 05.12.1989.
Hans-Hermann Langguth verliest u. a. aus seinem am 08.12.1989 erscheinenden Zeitungsbericht:
„Außergewöhnliche Zeiten – bis vor kurzem scheuten die Geheimdienst-Mitarbeiter das Licht der Öffentlichkeit, und kein halbwegs vernünftiger Bürger wäre darauf gekommen, freiwillig um Einlaß zu begehren.
Gründe, die nun am Dienstag zu dieser außergewöhnlichen Besichtigung führten, gab es genug, und geschuldet war das Zustandekommen sicher auch den Vorfällen, die sich tags zuvor in Suhl ereignet hatten. Herrn Cudok ging es bei diesem Schritt, der immerhin eine erst am späten Nachmittag eintreffende ministerielle Entscheidung vorwegnahm, um die eigene und die Sicherheit seiner Mitarbeiter. Eine Eskalation wie in Suhl wollen auch die Leute vom Neuen Forum vermeiden, gleichzeitig aber ebenso verhindern, daß Akten und Beweismaterial verschwinden. Einvernehmen darüber auch mit dem Staatsanwalt und dem Redakteur.
Vor der eigentlichen Besichtigung antwortete Herr Cudok auf Fragen. Zu 70 Prozent habe sich seine Dienststelle mit Verstößen gegen Paragraph 213 und folgende befaßt, also mit den Versuchen von DDR-Bürgern, ihr Menschenrecht auf Freizügigkeit und Reisefreiheit durchzusetzen, ein Recht, das die DDR übrigens spätestens mit dem UNO-Eintritt und allerspätestens seit Helsinki formal anerkannt hatte. Den betroffenen Zuhörern teilte Herr Cudok dann mit, daß mit Inkrafttreten der Reiseregelung am 9. November sämtliche damit in Zusammenhang stehende Akten und Unterlagen vernichtet worden seien. Ein Tatbestand, der übrigens von Mitarbeitern der Offizin Andersen Nexö bestätigt wird, die mindestens zweimal beobachteten, daß die Dienststelle nicht die städtische Müllabfuhr in Anspruch nahm, sondern entgegen früheren Gepflogenheiten ihre Müllkübel selbst abtransportierte, ein Zugriff zu etwa 70 Prozent der Akten ist also schon jetzt nicht mehr nachvollziehbar, ausgenommen jene, die zu Verurteilungen führten, weil die betreffenden Unterlagen in der Staatsanwaltschaft eingesehen werden können.
Im Gebäude selbst wurden dann vom Staatsanwalt die Archivräume versiegelt, in denen sich angeblich alle verbliebenen Akten und Unterlagen befinden. Abhörsysteme gebe es nicht, Computer mit Speicherkapazitäten auch nicht. Inzwischen allerdings hat sich der Verdacht erhärtet, daß wir nicht alles gesehen haben. Die am Mittwoch gebildete Regierungskommission ist sicher zu einer genaueren Kontrolle in der Lage, als wir es waren. Bezeichnend aber Herrn Cudoks Antwort auf meine letzte Frage: Gibt es auch von mir im Archiv eine Akte? Antwort: Das kann ich mir gut vorstellen, denn das ‚Schild und Schwert der Partei’ diente mehr einem übertriebenen Sicherheitsbedürfnis nach innen als dem Schutz nach außen. Da vernimmt es sich zumindest wohltuend, daß solcherart Dienststellen in den Kreisen bis Ende des Jahres aufgelöst werden sollen. Das verbliebene Beweismaterial aber darf nicht auch noch vernichtet werden. Die von der Öffentlichkeit bestimmten Gremien haben in unser aller Interesse ein Recht auf Einsichtnahme und Untersuchung.
In diesem Sinne wird das ehemalige Stasi-Gebäude seit Donnerstagvormittag von bewaffneten Kräften der Volkspolizei bewacht, um weitere dunkle Machenschaften bis zum Eintreffen der Regierungskommission zu verhindern.”
Im 2. Teil seiner Rede versucht Hans-Jürgen Salier die komplizierte Situation emotional zu werten:
„Stefan Heym muss widersprochen werden, wenn er sagt: ‚Das ganze verkrustete Gefüge dieses Staates ist aufgebrochen, der Putz zerbröckelt – und es stellte sich heraus, wie wenig Solides darunter lag.’ Den letzten Nebensatz kann ich nur bestätigen. Es ist in der Tat wenig Solides im tönernen Koloss SED-Staat gefunden worden. Am Montag und Dienstag dieser Woche hatte ich die Gelegenheit, in den Macht- und Schaltzentralen unseres Kreises einige Stunden zuzubringen, am Montag zwei Stunden mit weiteren Freunden des Neuen Forums beim 1. Kreissekretär der SED, bei Herrn Dr. Peter Dornheim, einst Mitarbeiter des verdienstlosen Kriminellen Hans Albrecht, am Dienstag im meistgemiedensten und existentiell angstheischenden Gebäude des Kreises, der Stasi, in der Geschwister-Scholl-Straße. Freundlich und korrekt war die Atmosphäre nach außen, aber sie war auch mit Unsicherheiten und Schlitzohrigkeiten behaftet, die Atmosphäre in den zwei nichtgeliebten Häusern, in denen Karrieren entschieden wurden, mit denen aber auch mehrhundertfaches und oft grenzenloses Leid verbunden ist. Ich will nicht noch einen Bericht dazu geben, das geschah durch meine Freunde, aber ich möchte es auf den Punkt bringen: Alles ‚Saubermänner’, alles ‚Weiße Riesen’ – wie ihre Herren. Sollte es wie nach 1945 wieder Persilscheine geben? Wenn, dann ist das unser psychischer und physischer Untergang.
Ein wenig Freude bleibt für mich in der friedensstiftenden Adventszeit. Unser Wirken will ich nicht glorifizieren, denn zu Märtyrern taugen wir allesamt nicht, aber ich bin mit einem Fünkchen Glück verbunden, einen bescheidenen Beitrag geleistet zu haben, dass die Bürger wieder ruhiger schlafen können. Bei allem guten Willen kann ich die Aussage von Stefan Heym nicht teilen, dass das ‚ganze verkrustete Gefüge dieses Staates aufgebrochen ist’. Ist das der leichtgläubige Versuch einer falsch verstandenen Sicherheitspartnerschaft, einen Ist-Zustand zu beschreiben? Mein biologisches Wissen sagt mir, dass bei einem wurzelkranken Nadelbaum nicht nur oben Nadeln fallen.
Wie lange müssen wir uns noch zusammenfinden, bis die unteren kranken Nadeln fallen, bis der schier undurchdringliche Filz kleiner und großer Abhängigkeiten aufgedeckt ist, die kaum zu zählenden kleinen und größeren Stalins in der Kreis- und Stadtverwaltung, besonders in den schwer lernenden Volksbildungsorganen, in der Gewerkschaft, in der SED mit den vielen ordens- und titelreichen einflussreichen Pöstchen ihren Schreibtisch räumen? Ich fordere alle die auf, die den Ernst unserer Lage nicht begreifen wollen und Schuld auf sich geladen haben, schnellstens zur Seite zu treten und die Rettungsarbeiten nicht noch zusätzlich zu behindern.
Die verbrecherische Staatsparteiführung hat sich zwar ihren Kopf selbst abgeschlagen, am Herrschaftsmonopol hat sich nichts, gar nichts geändert. Wir wissen nicht, welchen Weg diese Partei SED mit dem morgen einberufenen Sonderparteitag einschlägt, auf alle Fälle mit viel selbstvernebelnder Selbstkritik und Versprechungen. Fest steht aber auch, dass der gegenwärtig beklagte Rechtsruck mit allen Folgen nicht vom Volk herbeigeführt wurde, Schuld ist die Handlungsunfähigkeit dieses heute noch existierenden Apparats. Daran ist auch nicht mit den demagogischen Worten des Übergangssekretärs (gemeint ist Egon Krenz, d. Verf.) zu rütteln, dass er vor antisozialistischen Kräften warnt, die das Land in Gefahr bringen. Die Gefahr geht nach wie vor von der SED aus. Und im Übrigen muss man der SED nun doch endlich mal beibringen, dass das Volk der Souverän und keine Opposition sein kann.
Mein juristisches Wissen ist gering, aber nach meinem Kenntnisstand handelt es sich bei der SED-Führung um eine kriminelle und terroristische Vereinigung, gegen die mit allen Mitteln des Rechtsstaats vorgegangen werden sollte, so mit einer Verfassungsklage. Dabei geht es nicht um die Abstrafung der kleinen SED-Mitglieder, die aus welchen Gründen auch immer Mitglied wurden. Zirka 2 Millionen Menschen kann und soll man nicht ausgrenzen.
Wir haben die Strukturen erfasst, Mitarbeiter des ehemaligen MfS, die wir aus Sicherheitsgründen nicht nennen wollen, helfen bei der Enttarnung der Ungeheuerlichkeiten. Auch die hier in der Kirche befindlichen Spitzel sollten es endlich begreifen, ‚Schild und Schwert der Partei’ sind zerbrochen. Schließt euch uns zur Enttarnung an. Im Übrigen kann ich beruhigenderweise sagen, dass wir inzwischen auch ein wenig von dem Vokabular der konspirativen Tätigkeit verstehen.
Mein historisches Wissen sagt mir, dass noch nie eine deutsche Revolution siegreich war: Revolutionäre Bündnisse zerstritten sich, Halbheiten siegten über Wahrheiten, die Konsequenz bei der Aufdeckung der Unterdrückungsmechanismen fehlte. Diese Fehler sollten wir nicht wieder begehen.
Ich denke, es ist keine Fehleinschätzung, wenn ich sage, dieser Punkt ist gerade erreicht. Der unsichere Bürger gibt sich mit den Ergebnissen unserer in der Welt bewunderten und bejubelten Revolution zufrieden. Niemand unter uns sinnt auf Rache, zu fürchten ist eine blutige Rache derer, gegen die wir antreten. Deshalb müssen auch hier in Hildburghausen bis in den letzten Winkel die Strukturen aufgebrochen werden, denn es gibt kein Beispiel in der Weltgeschichte dafür, dass Gewaltherrscher ihre Waffen freiwillig strecken. – Seit nahezu sechs Jahrzehnten wurde unser Volk von Diktaturen gebeugt und missbraucht. Schicken wir uns an, mit einem geraden Rückgrat nicht in eine dritte Katastrophe zu schlittern.
Den älteren Bürgern in diesem geweihten Haus möchte ich in dieser friedensstiftenden Adventszeit zurufen: Denkt an eure Kinder und Enkel – unser kostbarstes Gut. Ich wünsche uns allen viel Mut, Standhaftigkeit und Disziplin.”
(Nach Tonbandaufzeichnungen und vorliegendem Manuskript)
07.12.1989, Donnerstag
Im Anschluss an das Friedensgebet formieren sich die Bürger zu einem Schweigemarsch durch die Innenstadt. Die Teilnehmer solidarisieren sich dabei auch mit den geknechteten Völkern der ČSSR und Rumäniens. Vor dem Wohnhaus des ehemaligen Kreissekretärs der SED, der ehemaligen Kreisdienststelle der Staatssicherheit und an den Häusern der SED-Kreisleitung stellen die Demonstranten brennende Kerzen ab.
Verkehrssündern aus der DDR in der Bundesrepublik ging es nun an den Geldbeutel. Die Polizeidirektionen im grenznahen Raum beschlossen, dass ab sofort gebührenpflichtige Verwarnungen im Verhältnis 1 : 1 zahlbar sind. Ohne Handhabe war die Polizei allerdings noch bei Falschparkern aus der DDR, da kein Rechtshilfeabkommen mit der DDR existierte.
08.12.1989, Freitag
Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Johannes Müller, dem Leiter des Volkspolizei-Kreisamtes, Burkhard Stahl; Kreistagsabgeordneten und Basisgruppen der Bürgerbewegung. Es wird eine Zeitweilige Kommission des Kreistages Hildburghausen zur Untersuchung von Amts- und Machtmissbrauch sowie Korruption gebildet, in die neben den im Kreistag vertretenen Parteien und Organisationen auch Mitglieder des Neuen Forums mit einbezogen werden. Ziel ist die schonungslose Aufdeckung von Amts- und Machtmissbrauch, Korruption - möglichst rasch und ohne Ansehen der Person, Wahrung von Recht und Gesetz und darin eingeschlossen der Verzicht auf Gewalt, völlige Handlungsfreiheit und gleiche Rechte für alle Mitglieder des Gremiums. Die Mitglieder erhalten entsprechende Ausweise.
Im Vorfeld kommt es zu kontroversen Diskussionen, ob das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen (GÖV) zur Bildung einer solchen Kommission überhaupt geeignet sei. Freies Wort schreibt dazu am 12.12.1989:
„Sowohl Staatsanwalt Hartmut Lorenz als auch Herr Salier als Vertreter des Neuen Forums machten deutlich, daß momentan das Gesetz noch gelte und man sich daran halten müsse, eben im Sinne der Erneuerung. Anarchie können wir uns jetzt auf keinen Fall leisten.“
Zur Kommission gehören:
Gotthelf Pommer, Westhausen (DBD); Werner Michaelis, Eisfeld (LDPD); Luise Platz, Reurieth (NDPD); Helga Sauerbier, Heldburg (FDGB); Antje Niedzwetzki, Veilsdorf (DFD); Günter Rottenbach, Heßberg (VdgB); Paul Thierse, Eisfeld (CDU – Er ist der Vater von Wolfgang Thierse, SPD, dem nachmaligen Bundestagspräsidenten; Henry Wannags, Waldau (Konsum); Günter Käb, Brattendorf (SED); Andreas Schierbaum, Hildburghausen (Neues Forum); Hans-Jürgen Salier, Hildburghausen (Neues Forum); Matthias Schmäußer, Reurieth (Neues Forum); Klaus Leipold, Streufdorf (Neues Forum); Gerd Krauß, Hildburghausen (Neues Forum), Reinhard Giese, Hildburghausen (Arbeiter- und Bauern-Inspektion – ABI); Gerhard Bieling, Hildburghausen (VPKA); Irina Schubert (Sekretär der Kommission, Rat des Kreises Hildburghausen).
Anmerkung
Dass es ein Trugschluss war, das alte System mit seinen teils äußerlich scheinenden demokratischen Gesetzen von innen aufzuweichen, steht in der Nachbetrachtung außer Frage. So lange aber das Gewaltmonopol der SED-Staatspartei nicht gebrochen war und vor allem die Mitglieder des Neuen Forums und anderer oppositioneller Gruppen und Parteien ständig – vor allem anonym – bedroht wurden, bestand die Gefahr der Eskalation. In dieser revolutionären Phase (vor allem nach der Grenzöffnung) verlieren die oppositionellen Gruppen mehr und mehr Einfluss, und die Phase der Restauration der alten Kräfte, der reaktionären SED (später: SED-PDS, PDS) nimmt zu. Diese Kräfte gewinnen auch in den folgenden 10 Jahren im Windschatten der Demokratie mehr und mehr an Einfluss, besetzen in demagogischer Weise politische und gesellschaftliche Positionen der Volks- und bürgerlichen Parteien, um ein geordnetes Rückzugsgefecht zu führen und die persönliche Unzufriedenheit der Menschen für ihre nicht tragfähigen Sozialismusmodelle zu missbrauchen.
08./09.12.1989, Freitag und Samstag
Sonderparteitag der SED. Gregor Gysi wird Parteivorsitzender. Die Partei erklärt ihre Abkehr vom Stalinismus.
09.12.1989, Samstag
Die Arbeitsgruppe Staatssicherheit der Zeitweiligen Kommission des Bezirkstages übergibt ADN eine Meldung, dass das Suhler Bezirksamt für Nationale Sicherheit (vormals Bezirksamt der Staatssicherheit) aufgelöst wird. Das seien Forderungen der „Rundtischgespräche“ und der Bevölkerung:
„Ebenso werde ab Montag mit der Auflösung der Kreisämter begonnen, wobei dort befindliche Unterlagen unter Aufsicht der BDVP und der Bürgerinitiativen in das Bezirksamt Suhl überführt und dort bis zur Vernichtung sicher eingelagert werden sollen.
Auf Anfragen der Bürger teilte die Kommission weiter mit, dass im Bezirksamt für Nationale Sicherheit gegenwärtig nur die unbedingt notwendigen Bereiche tätig seien, so z.B. der Bereich Aufklärung und Spionageabwehr. Von der Kaderabteilung erfuhr ADN, daß bereits 350 Mitarbeiter der ehemaligen Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit zur Paßkontrolle umgesetzt seien und 57 ein Arbeitsrechtsverhältnis in zivilen Bereichen aufgenommen hätten.
Der Chef der BDVP Suhl wurde beauftragt, die persönlichen Waffen aller zivilen Waffenträger einzuziehen. Die direkte Telefonverbindung zwischen Bezirksamt für Nationale Sicherheit und SED-Bezirksleitung werde sofort beseitigt. Bei allen Kreistagen sollen Untersuchungsgremien für Fragen des Machtmißbrauchs und der Korruption gebildet werden.”
HJS wird ein vom Inhalt her ungeheuerliches Fernschreiben der Bezirksverwaltung Gera des AfNS vom 09.12.1989 zum Fortbestand des Geheimdienstes zugespielt, das der LDPD-Stadtvorstand Hildburghausen umgehend veröffentlicht. Es wird vermutet, dass sich die „Tschekisten“ auch in Hildburghausen im Untergrund neu formieren, um bei einer für sie günstigen Gelegenheit zurückzuschlagen.
Heute wir – morgen Ihr, Genossen, Kampfgefährten,
Patrioten im In- und Ausland,
Bürger der DDR!
Von tiefer Besorgnis getragen über die gegenwärtige und sich weiter abzeichnende innenpolitische Situation in unserer gemeinsamen sozialistischen Heimat, DDR, wenden wir uns an euch und an die, für die auch ihr Verantwortung tragt, mit einem Aufruf zum noch möglichen gemeinsamen Handeln für die Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und damit der Existenzgrundlage für den weiteren Bestand der DDR.
Unser Land befindet sich gegenwärtig in einer Phase der revolutionären Veränderungen, das Ziel soll und muß ein neuer, wahrer Sozialismus sein, mit dem wir uns eindeutig identifizieren. Diesen können wir jedoch nicht erreichen, wenn wir zulassen, daß unserem Staat Stück für Stück alle Machtinstrumente aus der Hand genommen (gegeben ?) werden.
Beherzigen wir die Erkenntnis von Lenin über die Fragen der Macht. Genossen, Bürger und Patrioten der unsichtbaren Front im In- und Ausland, wer mit der Macht spielt, sie sich aus der Hand nehmen läßt – besonders während einer Revolution – in der wir uns zur Zeit befinden, der wird scheitern.
Der nutzt nicht uns, der dient der Reaktion.
Genossen, Bürger, heute richtet sich der Haß eines Teiles unseres Volkes, geführt von einer Minderheit unserer Bevölkerung, gegen das ehemalige MfS und jetzige Amt für Nationale Sicherheit. In unserem Bezirksamt gibt es Erkenntnisse, daß Bestrebungen existieren, diesen Volkszorn, nachdem das Amt für Nationale Sicherheit zerschlagen ist, schnell auf die Strukturen und Kräfte der anderen bewaffneten Organe zu lenken, um diese ebenfalls zu zerschlagen. Sollte es uns allen nicht gemeinsam kurzfristig gelingen, die Anstifter, Anschürer und Organisatoren dieser haßerfüllter Machenschaften gegen die Machtorgane des Staates zu entlarven und zu paralysieren, werden diese Kräfte durch ihre Aktivitäten einen weiteren Teil der Bevölkerung gegen den Staat, die Regierung und alle gesellschaftlichen Kräfte aufbringen. Was kommt dann? Sorgen wir also gemeinsam für die unverzügliche Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit – und dies ist unsere Forderung gegenüber jedermann.
Genossen, Bürger, damit keine Zweifel aufkommen, auch wir sind für die Aufklärung und notwendige Bestrafung bei Fällen von Amtsmißbrauch, Korruption und ähnlichen Delikten.
Täglich erhalten wir zahlreiche Anrufe aus dem In- und Ausland, die zum Ausdruck bringen, daß wir alles in unseren Kräften stehende tun müssen, um unseren sozialistischen Staat im Interesse aller zu schützen und zu erhalten.
Diese berechtigte Forderung kann jedoch nur erfüllt werden, wenn die bewaffneten Organe unserer gemeinsamen Heimat, DDR, weiter bestehen und aktiv handeln können.
Dies schließt nach unserem Verständnis und den Praktiken und Notwendigkeiten aller entwickelten Staaten dieser Welt die Existenz eines Organes, welches mit spezifischen Mitteln und Methoden arbeitet, ein.
Das Kollektiv des Bezirksamtes
für Nationale Sicherheit Gera
und die Kreisämter
Grenzöffnung zwischen Gompertshausen, Kreis Hildburghausen, und Alsleben, Landkreis Rhön-Grabfeld.
Sammlung Reinhold Albert, Sternberg
Zwischen Gompertshausen und dem bayerischen Alsleben wird von 13 – 17 Uhr die Grenze für Fußgänger von Ost nach West geöffnet:
„Ihre Forderungen für die Zukunft brachten die Gompertshäuser auch gleich mit einer Plakataufschrift zum Ausdruck: ‚Wir hoffen, dass sie offen bleibt!’ Ein weiteres mitgeführtes Plakat drückte ebenfalls die jahrzehntelange Sehnsucht der Menschen aus. Es lautete: ’Vier Stunden Grenze auf – Wir warten schon lange darauf!’ Nicht von ungefähr stimmte die den Zug begleitende örtliche Musikkapelle: ‚So ein Tag, so wunderschön wie heute’ an. Kurz vor dem Grenzübertritt kam der Zug zum Stehen. Offenbar konnte man noch immer nicht ganz begreifen, was sich da in den letzten vier Wochen ereignete, und ein junger Gompertshäuser meinte mit ungläubigem Kopfschütteln: ‚Daß ich das einmal erlebe, hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet!’“
Nach: Albert, Reinhold, Sternberg
Das Neue Forum ruft in Freies Wort auf:
„Am Montag große DEMO. Wir, die Mitglieder der Initiativgruppe ‚Neues Forum’ rufen alle Bürger des Kreises Hildburghausen auf, am Montag, dem 11.12.89, an der Kundgebung um 19.00 Uhr auf dem Hildburghäuser Marx-Engels-Platz teilzunehmen. Außerdem fordern wir die Aufdeckung von Korruption, Amtsmißbrauch und Wirtschaftsverbrechen sowie den Einsatz einer unabhängigen Untersuchungskommission. Im Anschluß daran findet eine genehmigte Demonstration durch Hildburghausen statt.“
11.12.1989, Montag
Die Kundgebung auf dem Marktplatz und die anschließende Demonstration durch die Stadt gegen Amtsmissbrauch und Korruption vereint ca. 1.800 Bürger. Es sprechen:
. Klaus Leipold, Neues Forum. Er vertritt die Meinung, dass man mit allen – nur nicht mit der SED – den Dialog führen dürfe, diese Partei sei auch nicht wählbar.
. Andreas Schierbaum, Neues Forum. Der Redner verliest die Erwiderung zu den Anschuldigungen Horst Zetzmanns. Des Weiteren informiert er über die Bildung des Untersuchungsausschusses zu Amts- und Machtmissbrauch sowie Korruption.
. Frank Schellhorn, Neues Forum. Er sagt, dass der Vorsitzende des Rates des Kreises die Bildung des Untersuchungsausschusses sehr hemdsärmelig und kumpelhaft vorgenommen habe. Dieser Ausschuss habe mehr Respekt verdient. Solange in den meisten leitenden Positionen noch die alte Garde sitze, könne es keine Zukunft für die DDR geben.
. Andreas Schmäußer, Neues Forum. Der Reuriether Bürger spricht über das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der SED-Herrschaft.
. Johannes Müller, Vorsitzender des Rates des Kreises, widerspricht Frank Schellhorn und sagt, dass die Bürgerinitiativen gleichberechtigt in den Ausschüssen vertreten seien. Er wolle mit ihnen im Gespräch bleiben, um gemeinsam die Aufgaben zu lösen.
. Steffen Harzer, Parteitagsdelegierter der SED. Der Redner erklärt, dass das SED-Positionspapier nicht von Gysi, sondern von Parteitagsdelegierten stamme. Ein Großteil derer, die heute noch in der Partei sind, seien ehrliche Menschen. Die nur wegen eines Postens oder eigener Vorteile in der SED waren, seien als erste ausgetreten.
. Gerlinde Lapp, SED. Die Lehrerin distanziert sich von Harzers Rede und sagt, dass in der SED noch nicht aufgeräumt worden sei, die Partei habe nur eine Chance, wenn sie die Stalinisten rauswerfe.
. Dr. Hanspeter Wulff-Woesten, Superintendent. Er spricht eindringlich zu den Demonstranten, dass es keine Rache geben dürfe, es dürfe andererseits auch nichts unter den Tisch gekehrt werden. Er tritt für den Dialog mit allen politischen Kräften ein, richtet sich gegen den Führungsanspruch der SED und verlangt, dass die Partei aus den Schulen und den Betrieben entfernt werden müsse.
. Hans-Jürgen Salier, Neues Forum. Er äußert sich zur Kommission des Kreistags zur Untersuchung von Amts- und Machtmissbrauch, der mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden sollte und sich nicht in Verfahrensfragen erschöpfen dürfe. Weiter fordert er u. a. eine Demokratisierung der Presse, die Aufhebung der Bezirke sowie die Gründung eines Landes Thüringen.
. Anneliese Stengler spricht über das Schicksal ihrer Familie nach der Flucht ihres Sohnes in die Bundesrepublik und die Repressalien der SED bzw. ihrer Vollzugsorgane.
. Michael Wendel, Neues Forum. Der Vikar ruft zur Lösung aller angestauten Probleme in einer großen Koalition der Vernunft auf und beklagt den schärfer werdenden Parteienhader. Er bekennt sich zu einer reformierten DDR.
. Dr. Karl-Heinz Stengler fordert die Demonstranten zu mehr Selbstbewusstsein gegenüber dem alten Regime auf. Er gibt die baldige Gründung der Sozialdemokratischen Partei (SDP) bekannt.
. Jürgen Ließ, SED, Bürgermeister. Er ruft die Vertreter der Parteien und Gruppierungen auf, für den 20.12. je einen Vertreter für den Runden Tisch ins Rathaus Hildburghausen zu entsenden. Die Bürgerinitiativen haben gegenwärtig eine solche Kraft, dass man als Kommunalpolitiker nicht an ihnen vorbeigehen könne.
. Dr. med. Eberhard Taube. Der Arzt fordert auf, nicht den Boden von Recht und Ordnung zu verlassen. Man sollte den alten Stalinisten auf der Spur bleiben, aber all jenen, die sich vom bisherigen System distanzieren und ehrlichen Herzens seien, soll man eine Chance für den Neubeginn geben.
. Helmut Mitzenheim, LDPD. Der Leiter des Ensembles der Kreisstadt berichtet, dass sein Gehalt als Ensemble-Leiter von der „Schraube“ gekündigt worden sei. Er ruft zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Kultur auf und verlangt konkrete Stellungnahmen der Verantwortlichen.
. Dietmar Halka fordert auf, die vielen Behinderten nicht zu vergessen, die Hilfe brauchen und sich nicht artikulieren können.
. Uwe Herrling, VEB Schrauben- und Normteilewerk. Der Redner berichtet, dass Betriebsdirektor Heinz Görlach das Gespräch zu den demokratischen Kräften gesucht habe und weiter suche. Den Werktätigen räumt er Mitspracherecht ein.
Die „Bezirkstagskommission zur Untersuchung von Machtmissbrauch und Korruption“ ist mit dem Mitglied des Rates des Kreises, Peter Menz, im Kreisgebiet unterwegs, um das Gästehaus des FDGB-Bundesvorstandes in Schönbrunn, die Ferieneinrichtung des FDGB-Bezirksvorstandes in Waldau und das Gästehaus der SED-Bezirksleitung im Ortsteil Neuendambach der Gemeinde Gerhardtsgereuth zu besichtigen. Im Ergebnis wird das Haus in Schönbrunn als außerordentlich exklusiv eingeschätzt.
Anmerkung
In Freies Wort vom 15.12.1989 heißt es dazu u. a.:
„Exklusive Einrichtung, 7 Zimmer, 1 Appartement, insgesamt 13 Betten, Fitneßraum (2,40 x 4,30 m), Sauna mit Tauchbecken (2,30 x 7,50 m), Speiseraum mit Kaminecke, Küche, Garagenkomplex mit Wohnung und Arbeitszimmer. Hier verkehrten nur Gäste des FDGB-Bundesvorstandes bzw. Leute mit Genehmigung des ehemaligen FDGB-Bezirkschefs Brandt. 1989 sind ca. 100 Gäste nachweisbar. Voriges Wochenende war Tag der offenen Tür. Etwa 300 bis 400 Bürger nutzten diese Gelegenheit, und nicht nur sie fragen sich: Wer kann sich so ein Objekt mit enorm hohen Unterhaltungskosten künftig überhaupt noch leisten? Deshalb der Vorschlag der Untersuchungskommission: das Objekt für den Tourismus nutzen, eventuell als Außenstelle eines Interhotels auf Valuta-Basis, zum Teil mit Inlandbelegung. Die Kosten wären allerdings hoch. Die Gemeindevertretung sollte bei der Entscheidung natürlich mitreden. Noch ein Appell der Kommission: Es mehren sich die Anzeichen, daß dort zerstörerische Handlungen vorgenommen werden sollten. Das darf nicht zugelassen werden. Wurde hier schon jahrelang Volksvermögen verschleudert, darf es jetzt nicht noch zerstört werden.“
Die SED-Kreisleitung unter Dr. Peter Dornheim teilt mit, dass Verhandlungen geführt werden, die SED-Häuser in der Leninstraße (heute: Friedrich-Rückert-Straße, Hauptstelle Kreissparkasse) für Parteien und Massenorganisationen zu nutzen.
12.12.1989, 8 – 16 Uhr, Dienstag
Beräumung des Schriftguts, der Bewaffnung u. a. des Gebäudes des Amtes für Nationale Sicherheit unter Aufsicht des Neuen Forums Hildburghausen, der Deutschen Volkspolizei, des Amtierenden Kreisstaatsanwalts, der Arbeitsgruppe des Bezirkstags und des Amts für Nationale Sicherheit, Berlin. Der Transport des Schriftguts nach Suhl vollzieht sich unter Sicherung der VP und Vertretern des Neuen Forums. Die Waffen und die Nachrichtentechnik werden im Volkspolizei-Kreisamt zwischengelagert.
Protokoll zur Beräumung des Kreisamtes der Nationalen Sicherheit vom 12.12.1989 (Auszug)
Hans-Jürgen Salier unterzeichnet für die „Vorläufige zeitweilige Kommission des Kreistages zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption“.
Protokoll zur Beräumung von Schriftgut aus dem Amt für Nationale Sicherheit
Protokoll zur Beräumung von Schriftgut aus dem Amt für Nationale Sicherheit
Protokoll zur Beräumung von Schriftgut aus dem Amt für Nationale Sicherheit
Protokoll zur Beräumung von Schriftgut aus dem Amt für Nationale Sicherheit
Nach abschließender Begehung des Hauses übernimmt die Volkspolizei bis zur Übernahme durch den neuen Rechtsträger Rat der Stadt Hildburghausen die Bewachung des Objekts. Ein Abschlussprotokoll wird am 12.12. ausgefertigt und von den Beteiligten unterzeichnet.
U. a. sind 70.000 Karteikarten und 28.000 kleine Handakten verpackt und versiegelt worden.
Anmerkung
Als Vertreter der Zeitweiligen Kommission des Kreistags Hildburghausen ist Hans-Jürgen Salier bei der Räumung der ehemaligen Kreisdienststelle der Staatssicherheit zugegen. Er war nicht Mitglied des Kreistags, sondern er wurde in diese Kommission als Mitglied des Bürgerkomitees berufen. Alle bei der Stasi-Auflösung ausgefertigten Übergabe- bzw. Übernahmeprotokolle, die teilweise und auszugsweise in dieser Dokumentation als Faksimile abgebildet sind, tragen seine Unterschrift (Beräumung des Amtes für Nationale Sicherheit, Beräumung der Waffenkammer und der Nachrichtentechnik). Er kann versichern, dass die Beräumung korrekt vor sich ging. Die Tätigkeit eines jeden im Gebäude anwesenden Bürgers wurde überwacht, zwischen den Personen kam es kaum zu Kontakten. Die Zusammenarbeit mit der Volkspolizei war in diesem unberechenbaren Zeitraum sachlich konstruktiv. Die Stimmung insgesamt war eher eisig, weil Angehörige des Geheimdienstes anwesend waren (Kreisamt für Nationale Sicherheit Hildburghausen und Amt für Nationale Sicherheit). Zu ihnen wurde auch kein überflüssiger Kontakt gesucht, zumal die mit der Auflösung der Stasi befassten Vertreter des Bürgerkomitees in diesen Dezembertagen anonyme Drohungen erhielten.
Unter Aufsicht des Bürgerkomitees und eines Offiziers der VP, Major Manfred Sauerbrey, vorhandenen Akten und sämtliche schriftliche Unterlagen der Dienststelle in Säcke und Kisten verpackt. Um spätere Manipulationen zu verhindern bzw. sie nachweisen zu können, nahm S. vor dem Versiegeln und Registrieren wahllos Akten heraus und notierte sich einzelne Daten (unter Wahrung der Intimsphäre der betreffenden Personen). Der von ihm verfasste Schriftsatz wurde versiegelt und einem Notar übergeben. Der Schriftsatz wurde in einem Tresor deponiert, hiervon wussten nur die beiden beteiligten Personen.
Das Fernmeldedienstgebäude der Deutschen Post in der Waldstraße in Hildburghausen (heute: TELEKOM) wird von einer zufällig gebildeten Personengruppe kontrolliert, vom amtierenden Staatsanwalt Hartmut Lorenz, von der FW-Redakteurin Petra Rügheimer, Hans-Jürgen Salier (Neues Forum), Bernd Löhnert, Manfred Münch (Rat der Stadt). Da in den vergangenen Tagen das Gerücht aufgekommen ist, dass in diesem Gebäude Telefonate von der Stasi abgehört würden und dass sich dort eine Außenstelle des Geheimdienstes befände. Mitarbeiter des Fernmeldeamts und deren Familienmitglieder seien massiv beschuldigt und bedroht worden. Es wird festgestellt, dass die technischen Voraussetzungen nicht installiert sind.
Anmerkung
Wie sich später bei der Stasiauflösung herausgestellt hat, sind andere Möglichkeiten genutzt bzw. Leitungen geschaltet worden, um die Bevölkerung zu bespitzeln bzw. abzuhören. Dass es insgesamt ein Zusammenspiel zwischen dem Post- und Fernmeldewesen der DDR und dem Geheimdienst gab – wie mit jeder anderen Behörde oder Dienststelle auch – und dass es dort in überreicher Zahl Mitarbeiter gab, die sich an die Stasi verkauft haben oder durch sie erpresst worden sind, steht außer Frage und kann in diesem Zusammenhang nicht erläutert bzw. geklärt werden. – Im Jahr 2014 würde HJS diese Aussage nicht mehr unterschreiben, weil solche gemeinsame Begehungen dem Schaulaufen ähnlich waren.
In einem Interview von Freies Wort mit dem Leiter des VPKA, Oberstleutnant Burkhard Stahl, wird u. a. Bezug genommen zum Kampfgruppeneinsatz und den polizeilichen Zuführungen um den 7. Oktober 1989 in Reurieth. Stahl führt dazu aus:
„Im ganzen Kreis wurden keine Kampfgruppenhundertschaften eingesetzt. Es gab Vorstellungen von zentralen Organen bis hin zur SED-Kreisleitung, das zu tun, wenn es die Lage erfordert. Ich habe mich bei meinen Entscheidungen in dieser Zeit davon leiten lassen, daß es solch eine Lage in unserem Kreis nicht gab. Es gab lediglich je 4 Doppelstreifen von Kampfgruppenangehörigen in Zivil in Hildburghausen und Themar. Zwei Streifen aus Themar wurden dann nach Reurieth gezogen, um dort die volkspolizeilichen Maßnahmen zu unterstützen, die eingeleitet wurden, nachdem in Reurieth Schriftzüge auf der Fahrbahn und Plakate aufgetaucht waren. Damals wurde das als Schmiererei ausgelegt. Wir sehen das heute anders. Außerdem wurde die VP um Hilfe gebeten, als nicht geladene und angetrunkene Bürger versuchten, die damalige Festveranstaltung zum 40. Jahrestag zu stören. Diese Bürger beleidigten die dort eingesetzten Polizisten und wurden deshalb am 10. Oktober dem VPKA zur Befragung zugeführt. Wenn man so will, gab es also 3 Zuführungen. Befragungen wurden auch im Dienstzimmer in Reurieth durchgeführt. Das sind aber keine Zuführungen gewesen. In allen diesen Fällen hat es keine strafrechtlichen Maßnahmen gegeben, weder auf Grundlage des Strafgesetzbuches noch des Ordnungswidrigkeitsrechts. Alle anderen Aussagen zu diesem Sachverhalt entbehren jeder Grundlage. Weder waren Kampfgruppenhundertschaften in Alarmbereitschaft, noch hatten sie bereits aufmunitioniert, noch gab es im VPKA mehr als die 3 Zuführungen.”
Freies Wort druckt einen Aufruf des Neuen Forums ab, in dem eine unabhängige und freie Bezirkszeitung ohne Zensur gefordert wird.
Anmerkung
Das Blatt ist bis 04.12.1989 „Organ der Bezirksleitung der SED“, ab 05.12. bis 17.12. „Tageszeitung der SED für den Bezirk Suhl“, ab 18.12.1989 bis 15.01.1990 „Sozialistische Tageszeitung für Südthüringen“ und ab 16.01.1990 „Unabhängige Tageszeitung für Südthüringen“. In der Bezirks- und in den Kreisredaktionen werden kaum Redakteure ausgewechselt.
Die Zeitung wird Anfang 1990 in sog. Volkseigentum überführt und im April 1991 an die Neue Presse, Coburg verkauft. Seitdem gehört die Zeitung zur Verlagsgruppe des Süddeutschen Verlages München (70 %, die SPD 30 %).
13.12.1989, Mittwoch
Gründung der Sozialdemokratischen Partei (SDP, ab 13.01.1990 SPD), nach einem Aufruf von Dr. Karl-Heinz Stengler zum „Rathausgespräch“ am 11.12. in Hildburghausen. 32 Interessenten gründen in der Aula der Joseph-Meyer-Oberschule Hildburghausen den Orts- und provisorischen Kreisverband. Die Partei setzt sich das Ziel, eine ökologisch orientierte soziale Demokratie aufzubauen, die Errichtung eines demokratischen Rechtsstaats mit strikter Gewaltenteilung und parlamentarischer Demokratie und Parteienpluralität. Angestrebt wird eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft mit gemischter Wirtschaftsstruktur und unterschiedlichen Eigentumsformen.
Im Bezirksteil von Freies Wort wird eine „Wortmeldung der Angehörigen der Paßkontrolleinheiten unseres Bezirkes“ unter der Überschrift „Statt Blumen nun Hanfseile“ veröffentlicht. Es fällt kein Wort des Eingeständnisses der Mitschuld an diesem inhumanen Grenzregime. Viele Bürger diskutieren ungehalten darüber, weil offensichtlich die Grenzwächter im Zusammenspiel mit dem Zoll die teils schikanösen Grenzkontrollen unter der Befehlsgewalt der Staatssicherheit vergessen haben:
„Die Angehörigen der Paßkontrolleinheiten im Bezirk Suhl verfolgen die Entwicklung der letzten Tage in unserem Land mit großer Sorge.
Wir haben bisher mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften die Politik der Wende von Beginn an mitgetragen und täglich unter Aufbietung unserer physischen und psychischen Kräfte den grenzüberschreitenden Personenverkehr auf der Grundlage völkerrechtlicher und innerstaatlicher Rechtsnormen gewährleistet. Wir sind froh darüber, daß nun unsere Tätigkeit in der Paßkontrolle auch unserem eigenen Volk in voller Breite dient. Auf Grund der hohen Anforderungen an alle Angehörigen der Paßkontrolle in den letzten Wochen, was die Mehrheit der Bürger unseres Bezirkes aus eigenem Erleben bestätigen kann, melden wir uns erst jetzt zu Wort. Nicht, weil wir jetzt Zeit hätten, sondern weil wir besorgt sind, daß aus Blumen, die man uns aus Freude über die neue Reiseregelung überreichte, Hanfseile werden. Auch unsere Angehörigen und ihre Familienangehörigen sind Verleumdungen, Beschimpfungen und Drohungen ausgesetzt. Trotzdem erfüllen wir täglich unsere Aufgaben in Zusammenarbeit mit dem Zollorgan. Wir rufen deshalb zur Besonnenheit, zur gegenseitigen Achtung und zum gemeinsamen Handeln gegen all jene auf, die die erreichten Errungenschaften bei der gesellschaftlichen Wende gefährden. Entschieden verurteilen wir Korruption und Amtsmißbrauch und fordern Garantien dafür, daß so etwas nie wieder möglich wird. ... Wir fordern: die sofortige Beendigung der derzeitigen chaotischen Zustände in unserem Land; die Einhaltung und Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit und eine objektive Berichterstattung in allen Medien unseres Landes. Wir verurteilen alle Handlungen der Selbstjustiz, die sich gegen die aufrechten Bürger der DDR und die Angehörigen der bewaffneten Organe richten.
Wir rufen auf zu Vernunft und Besonnenheit!”
Für die Angehörigen der Passkontrolle des Bezirkes Suhl unterzeichnen diesen Brief der Passkontrolleur an der Passkontrolleinheit Eisfeld (Passkontrolleinheit – PKE), Unterleutnant Sommerfeld, der Leiter der PKE Eisfeld, Major Krannich, und der Leiter des Arbeitsbereiches Passkontrolle des Bezirkes Suhl, Oberstleutnant Knespel.
Anmerkung
Die Passkontrolleinheiten (PKE) unterstehen dem Ministerium für Staatssicherheit und nicht den Grenztruppen der DDR, die Bestandteil der Nationalen Volksarmee sind und dem Verteidigungsministerium untergeordnet sind.
14.12.1989, Donnerstag
Unter der Überschrift „Zielstellung und Arbeitsweise waren politisch pervertiert“ erscheint in Freies Wort ein 5-seitiger Zwischenbericht der seit 06.12.1989 tätigen Arbeitsgruppe „Staatssicherheit“, der in den Kerngedanken gedruckt wird. Die Redaktion haben der Regierungsbeauftragte, Dr. Dieter Schröter, und der Sprecher, Bernd Röhner (SDP):
„- Das ehemalige MfS wurde von einem Organ des Ministerrates immer mehr zu einem Machtinstrument und Vollzugsorgan des Willens des SED-Politbüros zur Sicherung der stalinistischen Machtstrukturen, der Unterdrückung und Bespitzelung der Bürger dieses Landes und in letzter Konsequenz zum Garant der in verbrecherischer Weise angeeigneten Privilegien.
- Durch ‚operative Personenkontrolle’ sind im Bezirk pro Jahr ca. 400 Personendossiers angefertigt worden.
- Die politisch pervertierte Zielstellung und Arbeitsweise des Apparates kommt u. a. auch darin zum Ausdruck, dass nach Aussage des Herrn Generalmajor Lange unter Beachtung strenger Weisung des Herrn Mielke Fälle von Amtsmissbrauch und Korruption ehemaliger Funktionäre (z. B. Albrecht) vom MfS nicht bearbeitet werden durften.
- Zum inneren Mechanismus und der Erhaltung der Funktionsfähigkeit dieser Einrichtung gehörte die Schaffung eines Systems ‚inoffizieller Mitarbeiter’ – bis vor kurzem waren im Bezirk ca. 4.000 aktiv.
- Die Arbeitsgruppe bekennt sich zu ihrer Verantwortung für den Schutz von Leben und Gesundheit dieser inoffiziellen Mitarbeiter im In- und Ausland und lehnt deshalb die Veröffentlichung von Namen strikt ab.
- Hinsichtlich des Abhörens und der Aufzeichnung von Telefongesprächen wurde die Bildung eines Aktivs beschlossen. Aufgabe ist die Ermittlung in allen Objekten, in denen das Abhören oder das Aufzeichnen möglich war.
- Die endgültige Räumung des Bezirksamtes wurde festgelegt. (Weiterhin notwendige Abteilungen zur Gewährleistung des Staatsschutzes werden in anderen Objekten untergebracht.) Die im Objekt vorhandenen Akten wurden durch Versiegelung gesichert.
- Die medizinische Einrichtung des Bezirksamtes wurde in das Gesundheitswesen der Stadt Suhl übergeben.
- Die persönlichen Waffen aller Angehörigen des Bezirksamtes und der Kreisdienststellen und der zivilen Waffenträger wurden von der Volkspolizei eingezogen.
- Bisher wurde Strafanzeige gestellt wegen des Einsatzes von Reizgas am 4.12.1989, ferner wegen Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses.
- Der Apparat des bisherigen MfS soll drastisch abgebaut werden. Wir wollen alle, dass die vielen Menschen, die dort tätig waren, in der Volkswirtschaft eingesetzt werden. Das setzt voraus, diese Menschen als zukünftige Arbeitskollegen zu akzeptieren.
- Mitarbeiter des ehemaligen MfS, die sich strafbar gemacht haben, sind zur Verantwortung zu ziehen. Niemand darf aber pauschal für alles verantwortlich gemacht werden. Auch hier müssen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gelten. Selbstjustiz ist Unrecht!”
Zwischen Hellingen und der Marktgemeinde Maroldsweisach fällt der Grenzzaun.
Der Stadtverband der LDPD Hildburghausen lädt zu einer öffentlichen Versammlung mit dem Bezirksvorsitzenden Peter Geier in das Kreiskulturhaus „Freundschaft“ ein. Thema: „Was will die LDPD? Welche Aufgaben wird sie in nächster Zeit in Angriff nehmen?“
Andreas Schierbaum, Neues Forum, antwortet in Freies Wort auf die Anschuldigungen Horst Zetzmanns, Stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises, die Besetzung der Karolinenburg durch die Bürgerbewegung am 06.12. betreffend:
„Gemeinsame Verantwortung – wofür? Vertrauen, nein danke!
Am Sonnabend, dem 9. Dezember, äußerte Horst Zetzmann sich in altgewohnter Weise. In aller Öffentlichkeit werden die Leiter der Aktivgruppen des Neuen Forums bezichtigt, nicht aufrichtig und ehrlich zu sein und sich nicht an gegebene Versprechen zu halten.
GEGENDARSTELLUNG
Wir, die Sprecher der Initiativgruppe des Neuen Forums, die in dem Artikel angesprochen wurden, haben niemanden verleumdet. Diese Behauptung ist falsch. Wie wertvolles Kulturgut vor dem Verfall geschützt wird, kann täglich von der Hildburghäuser Bevölkerung besichtigt werden. Wie das Kreisarchiv zur Zeit untergebracht ist, ist weder trocken noch zumutbar und in keiner Weise sicher. Die Behauptung von Horst Zetzmann ist also falsch.
Daß die Untersuchungen des Neuen Forums in einer Nacht- und Nebelaktion endeten, war nicht unser Verdienst. Ein besorgter Bürger der Kreisstadt äußerte am 6. Dezember den Verdacht, daß Akten vom Rat des Kreises umgelagert werden. Das Objekt ‘Karolinenburg’ ist daraufhin von 50 Mitwirkenden bis zum Eintreffen des Kreisstaatsanwaltes abgeschirmt worden. Die erzwungene Besichtigung zeigte tatsächlich, daß die Unterlagen vom Kreisarchiv stammten. Ein rechtzeitiges, offenes Gespräch über diese Umlagerung hat es nie gegeben, somit war eine aktive Unterstützung des Neuen Forums auch nicht möglich. Ihr Artikel, Herr Zetzmann, hat nur dazu beigetragen, Vorurteile über das Neue Forum bei den Lesern und der Hildburghäuser Bevölkerung zu schaffen. Unsere Aktivitäten und die Konsequenzen, die damit für Sie entstehen, werden unsere Redlichkeit beweisen!
gezeichnet:
Andreas Schierbaum
Neues Forum“
Die Staatliche Plankommission des Kreises Hildburghausen und ihr Vorsitzender, Alfred Geldner, stehen seit Beginn der Demos, der Bürgerforen und anderen Veranstaltungen immer wieder in der Kritik, die Auflösung der in ihren Augen unfähigen Plankommission und die Ablösung der Mitarbeiter werden gefordert. Freies Wort gibt G. unter der Überschrift „Gelegenheit für Bilanz und Ausblick“ Möglichkeit zur Bestandsaufnahme. Sie fällt – die weitere Entwicklung betreffend – nichtssagend aus. Schuldzuweisungen werden nach oben weiter gegeben. Es wird der Eindruck erweckt, das Schiff fahre mit den gleichen Steuerleuten weiter, nur auf einer geänderten Route. G. spricht sogar von einem neuen Fünfjahrplan.
Mitte Dezember 1989
Im Kreis Hildburghausen kursiert ein Flugblatt der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands, in dem es heißt:
„Getreu dem Vermächtnis Thomas Müntzers, standhaft in dem angefangenen Werk zu sein, betrachtet es die DBD als ihren Auftrag, die Ideale und Werte einer zutiefst menschlichen sozialistischen Gesellschaft in gemeinsamer Arbeit voll zur Geltung zu bringen. Den Weg der Erneuerung beschreiten, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen, dazu sind wir bereit und entschlossen.”
Kreissekretär Manfred Simon stellt sich in einem Interview Freies Wort.
Ausweis für Mitglieder der „Vorläufigen zeitweiligen Kommission des Kreistages zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption“
15.12.1989, Freitag
Erste Beratung der Kommission des Kreistags zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption. Es werden zwei Aktivs gebildet. Andreas Schierbaum (Neues Forum) leitet das Aktiv Amtsmissbrauch und Korruption, Gerd Krauß (Neues Forum) das Aktiv Nationale Sicherheit.
Das Neue Forum lädt die Bürger des Kreises Hildburghausen zu einem Forum in den Speisesaal der Ernst-Thälmann-Oberschule in Hildburghausen, Waldstraße, ein. Auf der Tagesordnung steht die Vorbereitung der Wahl eines Sprecherrates. Die Kandidaten stellen sich den Fragen der Bürger.
Gerd Krauß betont, dass sich der provisorische Sprecherrat als Gesprächsplattform stellt, die Bürgern aller Parteien, Klassen und Schichten zum Meinungsaustausch Gelegenheit bieten will. Auf Stadt- und Kreisebene sollten vor allem kommunale Probleme zur Sprache kommen, die in den unterschiedlichen Arbeitsgruppen aufgegriffen und bearbeitet werden. Krauß äußerte sein Unverständnis zu den Meldungen über die Bildung einer Grünen Partei in Untermaßfeld und einer Forum-Partei in Ilmenau. Von solchen Parteiengründungen distanziere sich das Neue Forum Hildburghausen. Er äußerte auch die Meinung des Großteils der Mitglieder des Neuen Forums, dass es bei der gegenwärtigen politischen Lage nicht darum gehe, die Einheit Deutschlands als Nahziel voranzutreiben. Die Rolle der Sowjetunion und der anderen Siegermächte sei noch sehr unklar. Über die konföderative Ebene könnten die beiden deutschen Staaten allmählich zusammenwachsen. Die Wirtschaft sollte hierzulande ökonomisch-ökologisch bei Dominanz der Ökologie orientiert sein.
Das Neue Forum Hildburghausen arbeitet derzeit in acht Arbeitsgruppen: Demokratie/Wahlen – Klaus Leipold, Wirtschaft – Uwe Herrling, Handel/Versorgung – Kerstin Lenninger, Presse/Medien – Hans-Jürgen Salier, Gesundheits- und Sozialwesen – Gerd Krauß, Bildung/Erziehung – Elke Witzel, Umwelt/Ökologie – Edelbert Eichhorn, Wehr- und ziviler Ersatzdienst – Hans-Dieter Koretz.
Forderungen der Arbeitsgruppe „Bildung und Erziehung“ des Neuen Forums „Kinderkrippen in unserem Land“, das durchaus auch heute noch diskutierenswert ist.
Freies Wort veröffentlicht die Erklärung des Vorsitzenden des Kreisausschusses der Nationalen Front, Dr. Klaus Schwenk, CDU:
„In dieser für unser Land und unser Volk so bedeutungsvollen Zeit wende ich mich mit folgender Erklärung an Sie: Die Ereignisse der letzten Stunden, Tage und Wochen haben meines Erachtens gezeigt, daß es keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr gibt, die Arbeit der Nationalen Front auf Kreisebene aufrechtzuerhalten. Die Bedeutungslosigkeit resultiert nicht zuletzt aus ihrer bisherigen Sprachlosigkeit, aber auch aus Erfahrungen während meiner Tätigkeit. In die Zukunft weisende Überlegungen wurden nicht akzeptiert und fanden kein Ende im damals existierenden Demokratischen Block. Die Zeit hat diese Leute überholt, und unser Kreis ist auf dem Wege, eine gewichtige Stellung in der deutsch-deutschen Verständigung einzunehmen.
Mit der Aufkündigung der Mitarbeit meiner Partei, der CDU, im Demokratischen Block sehe auch ich meine Tätigkeit als Kreisausschußvorsitzender als beendet an. Auch für unseren Kreis ist der ‚Runde Tisch’ als weiteres Zusammenwirken aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte sinnvoller.
Ich rufe Sie alle zur Besonnenheit und zu weiterem engagierten Wirken auf. Arbeiten Sie in Ihren Kommunen weiter mit, und lassen Sie die Volksvertretungen auch zu diesen werden! Bei den kommenden Wahlen dürfen nur noch Parteien als Mandatsträger auftreten. ‘Keiner hat ein Monopol auf die Wahrheit und somit auf Führungsanspruch!’ – so steht es in einem Rundschreiben des Kreissekretariats der Nationalen Front vom 30.11.1989. Diese zutreffende Erkenntnis kommt leider fast zu spät.
Dr. Klaus Schwenk“
16.12.1989, Sonnabend
Dem Parteinamen der SED wird das Kürzel PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) angefügt. Ein Großteil der Bevölkerung empfindet das als Demagogie. Seit Beginn der Demos (vorwiegend montags) und der Friedensgebete in der Hildburghäuser Apostelkirche (donnerstags) wird immer wieder das Verbot der SED bzw. der SED-PDS gefordert.
Anmerkung
Im Zeitraum der Stasiauflösung und der Umbenennung der SED in SED-PDS erreichen HJS als „Mitglied der vorläufigen zeitweiligen Kommission des Kreistages zur Untersuchung von Amtsmißbrauch und Korruption“ einige Zuschriften, in denen immer wieder gefordert wird, die alten hierarchischen Strukturen zu zerschlagen bzw. sich gegen die sich restaurierenden Kräfte zu wenden.
(Aus Datenschutzgründen werden die teilweise sehr detaillierten Schreiben nicht veröffentlicht.)
Nachfolgend wird ein allgemein gehaltener Brief, in denen sich der Schreiber mit Erscheinungen des Zusammenbruchs der DDR auseinander setzt, auszugsweise zitiert. Der Schreiber betitelt seinen Brief „90 Wünsche für 90“ in Anlehnung an die gleichnamige von Freies Wort angeregte Leserbriefaktion für den bevorstehenden Jahreswechsel:
Ein Unbekannter sendet Hans-Jürgen Salier als Kommissionsmitglied gegen Amtsmissbrauch und Korruption in einem Brief seine Version „90 Wünsche für 90“.
Von 9 – 17 Uhr öffnen sich die Tore der Grenzsicherungsanlagen in Hetschbach und Rieth.
Anmerkung
Die Grenzöffnung am Schlagbaum gestaltet sich zu einem eindrucksvollen Ereignis, die geprägt ist von dem gegenseitigen Versprechen: „Auf allzeit gute Nachbarschaft“. Prominentester Teilnehmer auf bayerischer Seite ist der in Unfinden (Landkreis. Rhön-Grabfeld) beheimatete CSU-Landtagsabgeordnete Johann Böhm (ab 1994 ist er Präsident des bayerischen Landtags). Bürgermeister Detlef Pappe, Rieth, und Lorenz Albert, Sulzdorf a. d. Lederhecke, durchtrennen mit einer Zimmermannssäge den Schlagbaum. Wiedersehen wird im Gasthaus am Bayernturm und in der Zimmerauer Schule gefeiert.
17.12.1989, Sonntag
Die AG Philatelie Hildburghausen des Philatelistenverbandes im Kulturbund der DDR und der Briefmarken- und Münzverein Rodach e. V. beschließen anlässlich der Fränkischen Weihnacht in Rodach den Beginn einer Partnerschaft. Der Vertrag wird am 03.03.1990 durch die beiden Vorsitzenden Walter Fischer, Rodach, und Juri Höpping, Hildburghausen, unterzeichnet.
Anmerkung
Zu ähnlichen partnerschaftlichen Verbindungen kommt es zwischen vielen Vereinen des Kreises und Städten und Gemeinden der benachbarten bayerischen Regierungsbezirke Ober- und Unterfranken. Zwischen den Kommunen bahnen sich Partnerschaften an, oft von Privatpersonen, den Kirchen, Sportvereinen initiiert.
„PASSIEREN DER STAATSGRENZE HEUTE VON 9.00 – 17 UHR“ ist am Grenzzaun zwischen Bad Colberg und Sülzfeld zu lesen. Hunderte Fußgänger und Fahrradfahrer nehmen die Möglichkeit eines Besuchs von beiden Seiten aus wahr.
Zwischen Käßlitz und Dürrenried wird ein Fußweg eröffnet. Tausende Bundesbürger, vor allem aus dem Landkreis Coburg, weilten in Ummerstadt (neben Bürgel die kleinste Stadt der DDR).
Eine große Menschenmenge kommt aus Seßlach, Landkreis Coburg, und hat sich am 17.12.1989 an der Grenze bei Lindenau, Kreis Hildburghausen, und Autenhausen, OT von Seßlach, versammelt. – Ein Jahrzehntelang gehegter Traum wird wahr. Erwartungsvoll überschreiten die Menschen den provisorischen Grenzübergang. Der Todesstreifen hat seinen Schrecken verloren.
18.12.1989, Montag
Der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Chefredakteur Dr. Jörg Bernhard Bilke schildert seine Gedanken zur Grenzöffnung in der Vorweihnachtszeit und seine Wiederbegegnung mit Südthüringen:
„Als ich am Montag morgen von Rodach wegfuhr, meinte ich, den Besuch in Thüringen, der für mich so unerwartet gekommen war, nur geträumt zu haben. War ich wirklich durch den offenen Grenzzaun über den Todesstreifen geschritten? War ich wirklich im verbotenen Land gewesen, das mir so lange verschlossen geblieben war? Hatte ich wirklich auf der Veste Heldburg gestanden und nach Rodach hinüber gesehen? Ich begriff das alles nicht, so unwirklich kam es mir vor. Auf dem Weg nach Coburg fuhr ich noch einmal an der Grenze vorbei. Der Zaun war geschlossen wie ehedem, als wäre nichts geschehen am gestrigen Sonntag. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, und die Dörfer auf beiden Seiten lagen da wie ausgestorben. Aber der Erdboden vor dem Zaun war zerwühlt und zertrampelt, und die roten Seile im Gras, die den Weg hinüber hatten markieren sollen, zeugten von dem, was am Tag zuvor passiert war. Da kehrte große Freude in mein Herz ein.”
Aus: Bilke, Jörg Bernhard: Erste Schritte ins verbotene Land/Besuch in Thüringen nach 35 Jahren. In: Grenzenlos - Erfahrungen aus der geteilten Heimat Thüringen und Franken. Hg. Claudia Schugg-Reheis und Michael Bahr. – Coburg, 1990, S. 45.
In einem Interview mit Freies Wort analysiert Peter Menz, Verantwortlicher für Umweltschutz, Wasserwirtschaft und Erholungswesen im Rat des Kreises Hildburghausen, die Situation nach der Smogverordnung vom 02.11.1989. Er begrüßt das Engagement der „Initiativgruppe zentrales Heizhaus“ und fordert die Einrichtung eines Arbeitsstabes zur Abarbeitung der Smogverordnung.
Montagskundgebung am 21.12.1989 vor dem Rathaus in Hildburghausen.
In der oberen Reihe: Hans-Jürgen Salier, Gerd Krauß und Klaus Leipold
Foto: Frank Elsner (Frank war zu diesem Zeitpunkt ein vierzehnjähriger Schüler)
Fotos von Kundgebungen und Demos sind aus der Zeit der Friedlichen Revolution relativ selten. Kam doch beinahe jeder, der einen Fotoapparat nutzte, in Verdacht, der Geheimpolizei anzugehören.
Freies Wort berichtet am 21.12.1989 unter der Überschrift „Montagskundgebung in Hildburghausen bewies: Wahlkampf hat schon begonnen“ und lässt in der Berichterstattung auch die entsprechenden politischen Vertreter der vom Neuen Forum organisierten Demonstration zu Wort kommen:
. Hildburghausens Bürgermeister Jürgen Ließ, SED-PDS, fordert die Bürger auf, sich auch im neuen Jahr an der Umgestaltung der Gesellschaft zu beteiligen.
. Matthias Schmäußer, Neues Forum, verliest eine Gegendarstellung („Gegendarstellung. Zum Gespräch mit Herrn Burkhard Stahl im ‚FW’“ vom 12.12.1989)
. Klaus Leipold, Neues Forum: „Ich stehe nach wie vor voll zu meiner Meinung, daß man mit einer Partei, die 40 Jahre das Volk belogen und betrogen hat und jetzt versucht, sich einen demokratischen Anstrich zu geben, keinen Dialog mehr führen kann.” Der Redner spricht sich aber auch anerkennend über die Dialogbereitschaft von Bürgermeister Jürgen Ließ, Schraubendirektor Heinz Görlach und dem Ratsvorsitzenden Johannes Müller aus. FW zitiert weiter:
„Wir brauchen keine Diktatur der Nazis, die in Leipzig schon ‚Heil!’ schreien, wir brauchen aber auch keine Diktatur der Stalinisten, die überall noch auf ihren Posten sitzen. Wir brauchen Demokratie so schnell wie möglich, freie, demokratische Wahlen. Ich glaube, unsere Bürger sind politisch so mündig, daß sie nicht für Nazismus und Stalinismus stimmen. Ich glaube fest daran, daß die SED durch den Willen des Volkes zu einer Minderheit in der Parteienlandschaft wird, denn sollte sie sich wieder festigen, ist unser Staat verloren.”
. Gerd Krauß, Neues Forum, wendet sich gegen den Versuch, das Neue Forum zu einer Partei zu etablieren.
. Günter Heinrich, CDU-Kreisvorsitzender, berichtet vom Sonderparteitag seiner Partei und präsentiert sie als eine Volkspartei aller christlich, demokratisch, sozial und ökologisch gesinnter Menschen.
. Franz Lichte, LDPD-Kreisvorsitzender, fordert freie demokratische Wahlen am 06.05.1990. Er weist darauf hin, dass seine Partei als erste einen Entwurf für ein Wahlgesetz eingebracht habe.
Anmerkung
Das Tonbandprotokoll beweist, dass die Bandbreite der Themen und politischen Meinungen weitaus umfangreicher gewesen und im Detail mit dem alten Parteiapparat der SED scharf abgerechnet worden ist, auch mit den sogenannten Blockparteien sowie dem SED-hörigen Staatsapparat.
Des Weiteren werden das Ausländerwahlrecht sowie die Gründung eines Kreis-Reha-Zentrums angesprochen.
19.12.1989, Dienstag
Ein umfangreicher Artikel in Freies Wort ist vor allem gegen das Neue Forum und sein Bemühen um das Aufdecken von Amtsmissbrauch und Korruption gerichtet. Der ominöse Beitrag ist unterzeichnet mit „Im Namen einer sich bildenden INITIATIVGRUPPE GEGEN WILLKÜR UND CHAOS”. (s. auch 05.01.1990 und 12.01.1990)
Der Beitrag beginnt mit den Worten:
„Dem Neuen Forum und seinen Initiativgruppen gehören wir nicht an und möchten auch in Zukunft nie mit diesen im Zusammenhang genannt werden – unsere Stimme erhalten sie niemals“ und endet „Im Falle der Veröffentlichung dieses Schreibens geben wir unsere Namen nicht an aus Angst, auch in die demokratische Mühle des Neuen Forum und seiner Initiativgruppen zu kommen. Es scheint langsam Mode zu werden, Verdächtigungen auszusprechen, ohne sie erst zu überprüfen, wenn anschließend eine Entschuldigung genügt. Wir akzeptieren die besonnenen und niveauvollen Demos, die für Menschenwürde, Recht und Gesetz sind. Jede Ausrufung der Demos, denen im Augenblick niemand wehrt, sondern nur gut zuredet, ruft bei uns Älteren Sorgen und Ängste hervor. Wir denken, daß wir endlich wieder zu Ruhe und Ordnung kommen müssen, damit wir alle wieder in Ruhe arbeiten und leben können.“
Gespräch zwischen dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Helmut Kohl, und dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, Hans Modrow, in Dresden zu einer Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten und zum Wegfall der Visumspflicht für Bundesbürger in die DDR zum 24.12.1989.
20.12.1989, Mittwoch
Eine Mitgliederversammlung der SED-PDS nach dem außerordentlichen Parteitag der SED-PDS will beweisen, dass sich die Partei neu formiert. Die Parteitagsdelegierten Andreas Geier und Dr. Peter Dornheim berichten. Es wird gefordert, dass ab sofort die Position der Partei im Rahmen der demokratischen Initiativen zu vertreten sei.
Bis zum Zeitpunkt haben 240 Bürger den Kreis Hildburghausen verlassen. Die meisten übersiedeln in die Bundesrepublik.
Der Hildburghäuser Bürgermeister Jürgen Ließ (SED-PDS) lädt die Parteien und Bürgerinitiativen zu einem Runden Tisch ein. Man kommt jedoch über Formalien nicht hinaus und verschleppt die Themen. Die Forderungen der Bürgerinitiativen, massiver auf Veränderungen im kommunalpolitischen Bereich einwirken zu können, wird mit einer kaum durchschaubaren Hinhaltetaktik der noch im Amt befindlichen SED-Oberen hinausgezögert. In einer Presseveröffentlichung in Freies Wort heißt es u. a.:
„So werden es künftig je 2 Vertreter von Parteien und vom Neuen Forum sein, die hier zusammentreffen und beraten. Speziell Frauenprobleme sollen sich die Vertreter des DFD annehmen. Jugendliche machten – obwohl das Angebot bestand – keinen Gebrauch von dieser Möglichkeit, sich zu artikulieren. Einmütig wurde daher auch beschlossen, am Runden Tisch Plätze zu ‚reservieren’, sollten sich noch neue Bürgerinitiativen bilden bzw. jugendliche Vertreter von ihrem Recht Gebrauch machen wollen.
Einmal im Monat wollen nun Vertreter der Parteien, der katholischen und evangelischen Kirchgemeinden sowie des Neuen Forums politisch relevante Themen behandeln, diese spezifisch für die Kreisstadt bewerten und Schlußfolgerungen für ein gemeinsames gedeihliches Wirken im Interesse aller Bürger, auf der Grundlage von geltendem Recht und Gesetz und unter Berücksichtigung verschiedenster Interessenschwerpunkte ziehen. Dabei haben insbesondere das Neue Forum und die SDP im Moment noch sehr existentielle Sorgen bei der Arbeit: Es fehlt an Räumlichkeiten. Zur Lösung des Problems wird sich auch Bürgermeister Ließ stark machen, wie versichert wurde. ... Der Bürgermeister schlug vor, reihum sollte jede Bürgervertretung die Leitung übernehmen. Noch steht aber auch der Vorschlag der CDU und der Kirchgemeinden, daß nur die Vertreter der Kirchen wahrhaft unabhängig ein solches Gremium führen können.”
21.12.1989, Donnerstag
Beschluss; dass die Grenztruppen der DDR aus dem Bestand des Ministeriums für Nationale Verteidigung herauszulösen und als Grenzschutz dem Ministerium des Innern zu überführen sind. Die Umsetzung erfolgt zeitbedingt nicht, auch wenn im Februar 1990 im Ministerium des Innern der DDR eine Arbeitsgruppe Grenzschutz gebildet wird.
Erweiterte Kreisleitungssitzung SED-PDS berät über die weitere Profilierung der Partei und billigt die neuen Strukturen. Es sollen Voraussetzungen geschaffen werden, politische Verantwortung für einen demokratischen Sozialismus in der DDR mit tragen zu können. Dagmar Erhardt wird bis zu den Neuwahlen mit der Leitung der Schiedskommission beauftragt. In einer Protestnote an die rumänische Botschaft „bekunden die Beratungsteilnehmer ihre Solidarität mit dem gerechten Kampf des rumänischen Volkes für die Durchsetzung seiner legitimen Menschenrechte“.
Der Marktgemeinderat Maroldsweisach ist verärgert, weil der Bundesgrenzschutz die Grenzpolizei ablösen soll. Bürgermeister Welz sagt: „Die Grenze braucht nicht geschützt zu werden.” Nach einer Intervention kommt vom bayerischen Staatssekretär Albert Meyer die Order, dass die Grenzpolizei den künftigen Grenzverkehr regelt. (Nach: Fränkischer Tag, 25.01.1990).
Im Bezirk Suhl gibt es 11 Grenzübergangsstellen (GÜST) und 33 Grenzpassierpunkte für einen begrenzten Zeitraum. Täglich passieren im Bezirk ca. 70.000 Fahrzeuge die Grenzübergangsstellen mit 145.000 Personen, mit Omnibussen reisen etwa 6.000 Personen pro Tag in die Bundesrepublik.
Freies Wort veröffentlicht ein Interview mit dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, Johannes Müller, der sich zu den nachbarschaftlichen Beziehungen zum Freistaat Bayern bzw. zum gegenwärtigen Grenzregime äußert. Auf die Frage „Herr Müller, nun haben ja schon viele Gemeinden etwas andere Beziehungen mit der Nachbargemeinde ‚hinterm Zaun’ angeknüpft. Sollte man davon wieder abkommen? Wie verhalten wir uns dazu?“ antwortet der Ratsvorsitzende: „Dagegen ist doch gar nichts einzuwenden, wenn Sportgruppen oder Volkskunstkollektive solche Verbindungen geknüpft haben, teilweise ja auch schon die örtlichen Räte untereinander. So weilten beispielsweise Vertreter des Rates der Gemeinde Gleichamberg mit Bürgermeister Günther Köhler an der Spitze in Knetzgau. Andere Gemeinden möchten Grenzübergänge zu bestimmten Anlässen (für den Fußgängerverkehr) offen wissen, wenn z.B. im Nachbarort der BRD Volksfeste angesagt sind. Das ist sicher machbar, aber kann kein Dauerzustand werden. Offene Grenzen also nicht überall und an jedem Tag oder jedes Wochenende. Das geht einfach nicht. Daß die Übergänge bei Hellingen und Eicha ordnungsgemäß – auch für den motorisierten Verkehr – ausgebaut werden, dafür will ich mich gern auch in der Zukunft mit ganzer Kraft einsetzen. Dort stoßen wir auch seitens der BRD, speziell im Freistaat Bayern, auf Zustimmung mit unseren Bemühungen. Wir sollten uns auch jetzt schon auf den Reiseverkehr in Gegenrichtung einstellen, der ja ab Weihnachten auf uns zukommen wird. Ich meine, auch da haben wir noch ein gut Stück Ideenarbeit und ganz praktische Probleme zu bewältigen. Denen müssen wir uns stellen, gerade hier im grenznahen Raum.”
Sitzung des Bezirkstages in Suhl. Das Aktiv „Staatssicherheit“ des Gremiums erstattet Bericht:
„ ... 1. Entwaffnung aller Mitarbeiter des ehemaligen Bezirksamtes für Staatssicherheit, soweit nicht weiterhin notwendige dienstliche Maßnahmen die Bewaffnung erforderlich machen, sowie aller zivilen Waffenträger im Bezirk
2. Einstellung der Tätigkeit der Briefleseanlage und der Abhöranlage.
3. Verhinderung weiterer Dokumentenvernichtung, Beräumung der Kreisdienststellen und Einlagerung sowie Sicherung aller vorhandenen Akten und Unterlagen unter Aufsicht des Militärstaatsanwaltes.
4. Schließung der Untersuchungshaftanstalt des ehemaligen Bezirksamtes Suhl.
5. Übergabe der medizinischen Einrichtung an das Gesundheitswesen der Stadt Suhl.
Strafanzeigen wurden wegen des Einsatzes von Reizgas am 4.12.1989 sowie gegen den ehemaligen Leiter des Bezirksamtes, Generalmajor Lange, wegen Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses und Veruntreuung von sozialistischem Eigentum zum Bau von drei Neckermann-Häusern für ihn und zwei weitere Leitungskader gestellt.
Inzwischen sind 55 Objekte des ehemaligen Ministeriums im Bezirk Suhl erfaßt. Alle bisherigen Hinweise bezüglich vermuteter Gänge und Schächte als Verbindung zum ehemaligen Bezirksamt Suhl erwiesen sich nach umfangreichen Untersuchungen und Einsicht in die Bauunterlagen als falsch.
In Übereinstimmung zwischen dem Aktiv und dem Leiter des Amtes war und wird eine kontinuierliche Arbeit mit minimaler Personalstärke in den Bereichen der Spionageabwehr, Aufklärung, Grenzübergangsstellen, Kader und militärtechnische Sicherstellung gewährleistet. Gleichzeitig wird gesichert, daß der Personenschutz aller offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter des bisherigen Amtes gewährt wird. Das bedeutet, daß keine Namen oder andere Informationen veröffentlicht werden und nur die Justizorgane den erforderlichen Einblick in die Unterlagen nehmen können.”
Nach der Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit im Bereich des ehemaligen Bezirks Suhl wurden auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Hildburghausen folgende Objekte einem neuen Rechtsträger übergeben:
Erholungsheim der ehemaligen Kreisdienststelle Hildburghausen
in Fehrenbach - Rat der Gemeinde Fehrenbach
Ferienheim „Am Rennsteig“ und
„Haus Oberland“ in Fehrenbach - Rat der Gemeinde Masserberg
Kreisdienststelle Hildburghausen - Rat der Stadt Hildburghausen
Unterkunftsobjekte Passkontrolle
Hildburghausen - Rat der Stadt Hildburghausen
Erholungsobjekt Masserberg - Rat der Gemeinde Masserberg
Objekt „Eichberg“ in Eisfeld - Rat der Stadt Eisfeld
Dienstobjekt „Waldrand“ in Römhild - Rat der Stadt Römhild
Erholungsobjekt ehem. Kreisdienststelle
Meiningen in Römhild - Rat der Stadt Römhild
Erholungsobjekt ehem. Kreisdienststelle
Suhl in Erlau - Rat der Gemeinde Erlau
Freies Wort veröffentlicht eine „Gegendarstellung. Zum Gespräch mit Herrn Burkhard Stahl in ‚FW’ vom 12.12.89
Die Aussagen von Herrn Burkhard Stahl (Leiter des VPKA/d. Red.) über die Ereignisse um und nach dem 7. Oktober ‘89 Bezug nehmend auf die Zuführungen und Befragungen und die Gründe, die dazu führten, sind falsch!
1. Es gab mindestens 4 Zuführungen.
2. Befragungen wurden außer im Dienstzimmer Reurieth u.a. noch im Möbelwerk Themar, in der PGH Elektro Suhl, im Rat des Kreises Hildburghausen und in Wohnungen durchgeführt.
3. Einige der ‚Zugeführten’ wurden bedroht durch Angehörige der Kriminalpolizei Hildburghausen.
4. Die Gründe der Zuführungen und Befragungen waren verschieden, nur 2 der ‚Zugeführten' waren tatsächlich am Kulturhaus Reurieth und wurden auch dazu vernommen. Alle anderen Zuführungen und Befragungen richteten sich auf die Schriftzüge und Plakate sowie auf die Existenz des Neuen Forum.
5. Es handelte sich bei der Veranstaltung im Kulturhaus Reurieth um eine öffentliche Veranstaltung, und einer der später Zugeführten hatte sogar eine Einladung für diese, da er ausgezeichnet werden sollte. Man verwehrte ihm trotzdem den Zutritt, da er ein Plakat mit sich führte.
6. Strafrechtliche Maßnahmen konnte es gar nicht geben, da der damalige Kreisstaatsanwalt gar keine Kenntnis von den Ermittlungen hatte und im nachhinein bestätigte, daß es gar keine gesetzliche Grundlage für solch ein Ermittlungsverfahren gegeben hätte!
Bleiben also viele offene Fragen, wie z.B.: Wer wies überhaupt die Ermittlungen an? Wieso ‚befragte’ außer der Kripo auch noch ein Mitglied der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises Hildburghausen im Gebäude des Rates im Beisein eines Offiziers der damaligen Staatssicherheit ohne Wissen seines Vorgesetzten einen Bürger? Wurde Herr Stahl über die Ermittlungen nicht richtig informiert, oder wurde ihm bewußt etwas verschwiegen? Wer führte überhaupt Ermittlungen? – Die Kripo, die Stasi oder die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises? Oder alle gemeinsam?
Zum Thema Sicherheitspartnerschaft sagen wir ja! Wenn Vertrauen wieder hergestellt werden soll, müssen die Wahrheiten auf den Tisch kommen! Das sollte doch unser Ziel sein - Ehrlichkeit - und nicht das Verschweigen von Tatsachen!
Matthias Schmäußer
Neues Forum Reurieth”
(s. auch 07.10. und 12.12.1989)
Nach dem Friedensgebet in der Hildburghäuser Apostelkirche kommt es zu einer Protestkundgebung auf dem Marktplatz.
Anwesend ist der in Schweden lebende Dokumentarfilmer Rainer Hartleb, der für „Sveriges Televison“ in Ostdeutschland den Film „Nach der Mauer“ über die Friedliche Revolution bis zu den ersten freien Wahlen am 18.03.1990 dreht. Hartleb weilt mehrere Male im Januar, Februar und am 18.03. zu Aufnahmen in Hildburghausen.
Anmerkung
Der 1944 geborene Hartleb lebt nach der Vertreibung 1945 in Schleusingen und Hildburghausen und kommt als 8-jähriger mit seiner Familie nach Schweden. Bereits seit 1987 ist er mehrere Male bei seinen Verwandten (Familien Neumann, Kupfer, Luhn) in Hildburghausen und zeichnet Stationen des Alltagsleben der Familien auf. Anfang der 90er Jahre kommt es zur Zusammenarbeit mit dem aus Hildburghausen stammenden bekannten Fernsehpublizisten Wilhelm Bittorf, und es entsteht der eindrucksvolle und mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilm „Wiedersehen in Hildburghausen“, der wiederholt in den ARD-Programmen und Infokanälen gesendet worden ist.
22.12.1989, Freitag
Das Brandenburger Tor in Berlin wird geöffnet.
Freies Wort veröffentlicht unter der Überschrift „Ventile auf, Dampf ab – und nun?“ von einer Betriebsversammlung im VEB Kraftverkehr Hildburghausen, Bereich Personenverkehr. Die Beschäftigten wollen wissen, wer in der Leitungsebene für die Staatssicherheit gearbeitet habe. Karl-Heinz Städtler, Hellingen, bringt zum Ausdruck, dass 80 Prozent der KOM-Fahrer nicht mehr unter dieser staatlichen Leitung mit ihrem teilweise stalinistischen Führungsstil arbeiten wollen. Es wird gefordert, in geheimer Abstimmung die Vertrauensfrage zu stellen. In Kritik steht auch das Prinzip, nach denen die Busfahrer ausgewählt werden, die im sog. grenzüberschreitenden Verkehr eingesetzt werden. (Sie dürfen beispielsweise keine Verwandtschaft in der Bundesrepublik haben.)
Der Leiter des VPKA Hildburghausen, Oberstleutnant Burkhard Stahl, trifft in Eisfeld mit Vertretern der Bayerischen Polizei zusammen. Schwerpunkte sind die Gewährung eines reibungslosen Reiseverkehrs, eine effektive Verkehrsorganisation, Maßnahmen bei Verletzung von Rechtsnormen im Straßenverkehr, Aufklärung bei Straftaten, die Nutzung des Verkehrsservices, Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit.
Die Objekte der ehemaligen Kreisdienststellen des MfS/AfNS werden an die örtlichen Räte übergeben.
23.12.1989, Sonnabend
Eröffnung des Grenzübergangs Eicha – Trappstadt im Beisein von ca. 1.000 Menschen beiderseits der Demarkationslinie, des Landrats Dr. Fritz Steigerwald, Landkreis Rhön-Grabfeld, und des Vorsitzenden des Rates des Kreises Hildburghausen, Johannes Müller. Spontan wird das Lied angestimmt: „So ein Tag, so wunderschön wie heute.“ Zuvor wird die Straßenanbindung unter Regie des Schweinfurter Straßenbauamts von der Bad Kissinger Straßenbaufirma Ullrich instand gesetzt. Ferner sind tätig gewesen: Beschäftigte der Gemeindeverbände Gleichamberg und Römhild (damals Kreis Meiningen), die Brigade Eicha der LPG Streufdorf, die PGH Elektro Hildburghausen, die Wasser- und Energiewirtschaft, das Post- und Fernmeldeamt Hildburghausen.
Montagskundgebung am 21.12.1989 vor dem Rathaus in Hildburghausen.
In der oberen Reihe: Hans-Jürgen Salier, Gerd Krauß und Klaus Leipold
Foto: Frank Elsner (Frank war zu diesem Zeitpunkt ein vierzehnjähriger Schüler)
Fotos von Kundgebungen und Demos sind aus der Zeit der Friedlichen Revolution relativ selten. Kam doch beinahe jeder, der einen Fotoapparat nutzte, in Verdacht, der Geheimpolizei anzugehören.
Zu Mitternacht zum 24.12.1989 gibt es diese wunderbare Stunde, als die mörderische Grenze ihre Schrecken verlor und man sie visafrei überschreiten konnte. Irene Fischer aus dem benachbarten Rodach strahlt vor Freude.
Foto: Bastian Salier
24.12.1989, Sonntag
Tag der absoluten Reisefreiheit
Wegfall von Visumpflicht und Zwangsumtausch für die Bürger der Bundesrepublik bei der Einreise in die DDR.
An der GÜST Eisfeld feiern ca. 5.000 Menschen. Am Grenzübergang Adelhausen-Eishausen und Rodach wird den Nachbarn von den Bewohnern der umliegenden Orte ein liebevoller Empfang bereitet, nahezu in jeder Stadt und Gemeinde des Kreises werden die Gäste aus der Bundesrepublik willkommen geheißen.
Die Ortsgruppe der LDPD (Liberal-Demokratische Partei) begrüßt Heiligabend 1989 vor dem VEB Kraftverkehr Hildburghausen (heute: Gelände des Mercedes-Autohauses) in der Wilhelm-Pieck-Straße (heute wieder: Coburger Straße) bei „Sauwetter“ die Gäste aus der Bundesrepublik. Die Herzen wurden warm, und so manche Freudenträne wurde weggewischt. Zur ersten „Stärkung“ in der Noch-DDR gab es Kaffee, Tee, Bock- und Bratwürste, Weihnachtsstollen, ein gutes „Tannen-Bräu“, kleine Willkommensgeschenke und für die Damen eine Nelke. Für die blumenarme DDR war das beinahe eine Sensation, aber ein pfiffiger Parteifreund hatte auch zu Weihnachten noch gute Beziehungen und der beziehungsreichen DDR.
28.12.1989, Donnerstag
Das DRK-Kreiskomitee Hildburghausen ruft die Bevölkerung des Kreises zu einer Solidaritätsaktion für die notleidenden Menschen der rumänischen Ceauşescu-Diktatur auf (Geld-, Blut- und Sachspenden). Das Engagement ist überwältigend. Am 03.01.1990 dankt das Kreiskomitee des DRK den Bürgern und teilt ihnen mit, dass die Möglichkeiten (vor allem Lagermöglichkeiten) sowie die Kapazitäten der zentralen Transporteinrichtungen restlos erschöpft seien und bittet, von weiteren Spenden Abstand zu nehmen. Am 24.01. werden die Zahlen von Kreissekretär Thomas Stäblein: 54 m³ Kleidung, Spielzeug und Lebensmittel und 14.655 M an Geldspenden.
Der Kreisnaturschutzbeauftragte Erich Bosecker, Roth, kann auf eine erfolgreiche Arbeit der Gesellschaft für Natur und Umwelt verweisen.
. Er fordert bei der Erstellung von Flurkonzeptionen für die LPG wertvolle Biotope zu erhalten, die 1990 exakt kartiert werden.
. Bildung von Interessengemeinschaften der Landschaftspflege: Freundeskreise Straufhain, Burgberg Heldburg, Stadtökologie Eisfeld und Themar. Ein Fehlen einer solchen Gruppe in der Kreisstadt wird kritisiert.
. Durch die Aufhebung der Sperrzone sollen Flächen an der ehemaligen Demarkationslinie unter Schutz gestellt werden.
. Im Gleichberggebiet finden u. a. 11 Foren statt, in denen auch die Rückführung des Waldhauses zur ursprünglichen Funktion als Gaststätte für die Bevölkerung gefordert wurde.
. Mit einer verbesserten Öffentlichkeitsarbeit soll die Bevölkerung für Probleme des Umwelt- und Naturschutzes besser motiviert werden.
. Greifvogelschutz, Beseitigung wilder Mülldeponien, Erhaltung von Wildpflanzen, Einsatz von Herbiziden und Düngemitteln, Schaffung eines Umweltbeirats, ein eigenständiges Ministerium für Landeskultur und Naturschutz und entsprechende Verwaltungen werden nachdrücklich gefordert.
Florian Meusel, Mitarbeiter Landeskultur/Naturschutz im Forstbetrieb Hildburghausen, legt ein Konzept zur Umwandlung der Kampfgruppenräume des Forstwirtschaftsbetriebes Hildburghausen in eine Ökologische Bildungsstätte und Naturschutzzentrum des Kreises vor. Ferner fordert er einen wirkungsvollen Arten- und Biotopschutz.
Um den 28.12.1989, Donnerstag
Mit der Auflösung der sog. Kampfgruppen der Arbeiterklasse (Beschluss des Ministerrats der DDR), paramilitärische Einheiten der Betriebe und Verwaltungen, wird begonnen. Waffen und Ausrüstung werden erfasst und an die Volkspolizeikreisämter zurückgeführt.
Grenzöffnung zwischen Rieth, Kreis Hildburghausen, und Zimmerau (OT von Sulzdorf an der Lederhecke), Landkreis Rhön-Grabfeld, am 16. Dezember 1989.
Foto von Reinhold Albert, Kreisheimatpfleger, Mitautor der Buchdokumentationen „Grenzerfahrungen Bezirk Suhl – Bayern/Hessen“.
30.12.1989, Samstag
Für ca. 1.000 Bundesbürger öffnen sich die Grenzzäune zwischen Zimmerau und Rieth. Die Gäste aus Bayern erleben ein wahres Volksfest, auch ein gemeinsamer Gottesdienst in der Allerheiligenkirche wird gefeiert. Zugegen sind Landrat Dr. Fritz Steigerwald (Landkreis Rhön-Grabfeld), der Hildburghäuser Ratsvorsitzende Johannes Müller sowie die SPD-Bundestagsabgeordnete Susanne Kastner, die gemeinsam am Ortseingang eine Eiche pflanzen.
31.12.1989, Sonntag
Nach Angaben des Bundesministeriums des Innern sind 1989 343.854 DDR-Bürger in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Zusätzlich werden 377.055 deutschstämmige Aussiedler vor allem aus Polen, der Sowjetunion und Rumänien aufgenommen. Die Zahl der Asylbewerber beträgt 121.318.
Die Stammautoren der Reihe „Grenzerfahrungen Bezirk Suhl – Bayern/Hessen“ Gerhard Schätzlein, Reinhold Albert und Hans-Jürgen Salier schrieben 2003/2005 den 3. Band. Das Gesamtwerk umfasst ca. 1750 Seiten, der Band 3 allein 724. Die Reihe erschien im Verlag Frankenschwelle Hildburghausen, heute „Salier Verlag Leipzig und Hildburghausen“.
Januar 1990
Februar 1990
März - Oktober 1990
Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen SalierEigentlich nicht erwähnenswert ...