Erlebnisbericht 1945
Ruth Knabe
In der Stadtverwaltung von Hildburghausen
Mein Erlebnis von „Thüringen unterm Sternenbanner“ beginnt schon einige Tage vor der Besetzung meines Heimatstädtchens Hildburghausen. Dort war ich zu dieser Zeit als Angestellte im Rathaus beschäftigt und habe die Phase mit den außergewöhnlichen Ereignissen noch gut in Erinnerung.
Der Vormarsch der amerikanischen Armee auf unsere Stadt wurde täglich durch den näherkommenden Geschützdonner aus dem westlichen Werratal bestätigt und stellte den gewohnten alltäglichen Arbeitsablauf im Rathaus in Frage. Doch eine Notverordnung löste die nächste ab, und es gab trotz aller Sorge genug zu tun. So wurde der Volkssturm organisiert, und die bis dahin noch im Rathaus verbliebenen Männer waren kaum noch zu sehen.
Um nicht ohne deutsche Hilfe nach dem Tage „Null“ dazustehen, berief Bürgermeister Dr. Zschaeck einen kleinen Kreis von Männern zu sich, die über dem Volkssturmalter (60 Jahre) waren und zur Verfügung standen und auch stehen wollten. Mit ihnen vereinbarte er Hilfspolizistendienste nach der Besetzung, die kurz bevorstand.
Eine weitere Verordnung betraf die unter meiner Verantwortung stehende Einwohnermeldekartei, die rigoros dem Ofen des Gaswerkes in der Coburger Straße zugeführt werden sollte. Doch da diese Kartei zu wichtig für die Zeit danach war, entschied Dr. Zschaeck nach Beratung der Verordnung formal Genüge zu leisten und die Familienkartei den Flammen zu übergeben, aber die alphabetische Kartei der erwachsenen Einwohner zu behalten. Es war eine gute Entscheidung. Sie erleichterte uns die Arbeit nach der Besetzung und die Wiedererstellung einer neuen Familienkartei.
Am Tag der Besetzung erschien ich gewohnheitsgemäß an meinem Arbeitsplatz. Das angstvolle Warten wurde jäh durch einen wohlgezielten Schuss der anrückenden Amerikaner auf den Eingangsturm des Rathauses unterbrochen. Dass es ein Treffer war, bewiesen nicht nur der Einschusslärm und die Erschütterung, sondern auch jahrhundertealter Staub, der sich in den Etagen des Rathauses verteilte.
Der Bürgermeister rief mir zu, sofort in der Wäschekammer der im Erdgeschoss untergebrachten Polizeiwache nach einem Bettuch oder ähnlichem weißen Wäschestück und einem Besenstiel zu suchen und dieses so schnell wie möglich zu bringen. Mit dem anwesenden Vorarbeiter des Stadtbauamtes, Moritz Pensky, wurde die „weiße Fahne“ gebastelt und zur Übergabe gehisst. Bürgermeister Dr. Zschaeck übernahm bewusst das volle Risiko Er wollte „seine Stadt“ nicht zerschießen lassen Zur gleichen Zeit wurde ich meiner Familie anempfohlen, und ich schlich nach Hause.
Von Seiten der Amerikaner trat nach diesem Treffer eine kurze Beschießungspause für die Stadt ein. Durch diese und menschenleere Straßen kam ich ungehindert nach Hause, und wir bereiteten uns für den Aufenthalt im Keller vor. Mein Vater war mit dem Volkssturm in Richtung Schleusinger Straße unterwegs, wie ich später von ihm erfuhr.
Was sich inzwischen im Rathaus zugetragen hatte, habe ich später von Herrn Pensky erfahren: Die weiße Fahne wurde am Rathaus angebracht, und die Beschießung unterblieb vorerst. Doch der Krieg ging von deutscher Seite aus weiter. Es waren – von Eisfeld mit der Bahn kommend – am Bahnhof Hildburghausen SS-Formationen eingetroffen, die sofort in Stellung gingen. Auch die weiße Fahne wurde entfernt und mit ihr unser Bürgermeister. Herr Pensky konnte erfahren, dass man ihn zum Bahnhof brachte, um ihn dort abzuurteilen. Zu dieser Zeit wohnte ein beinbehinderter SS-Offizier schwerverwundet auf Genesungsurlaub in der Marienstraße, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Dieser Offizier hatte des öfteren im Rathaus vorgesprochen und ist dort sicher dem Herrn Pensky bekannt geworden. Er konnte diesen Offizier erreichen, und mit ihm und dem wieder einsetzenden Angriff der Amerikaner wurde der Bürgermeister gerettet.
Sicher war diese Begebenheit und seine Parteilosigkeit ein Grund zur Wiedereinsetzung als Bürgermeister für Hildburghausen.
Durch die Entfernung der weißen Fahne setzte der Beschuss auf die Stadt wieder ein, und wir verlebten einige Stunden im Keller. Die Zeit war relativ schnell vergangen, als neben unserem Hause ein amerikanischer Panzer Aufstellung genommen hatte und regelmäßig schoss. Wir wussten nichts vom Stand der Dinge in der Stadt, als mein Vater, der Revierforster Karl Schellenberg, auf Schleichpfaden vom Volkssturm zurückkam und die Besetzung der Stadt durch amerikanische Panzereinheiten bestätigte. Er hatte von der Schleusinger Straße aus den Einmarsch verfolgen können.
Die Volkssturmgruppe hatte den aussichtslosen Kampf aufgegeben oder gar nicht erst aufgenommen und sich vernünftigerweise aufgelöst. Wir konnten von den Wohnungsfenstern aus die zu beiden Seiten der Bismarckstraße (heute: Schleusinger Straße) aufgefahrenen Panzer mit Mannschaften sehen, u. a. die ersten schwarzen Soldaten.
Nur wenig Zeit verging, als ein amerikanischer Jeep vor unserer Haustür anhielt. Mit einem amerikanischen Fahrer war einer der schon erwähnten Hilfspolizisten – Herr Philipp Dreßel – vorgefahren und forderte mich zur sofortigen Fahrt ins Rathaus auf. Eine unvergessene Fahrt für mich.
Ich wurde ins Rathaus geführt, wo sich in Zimmer Nr. 5 und 6 der I. Etage der amerikanische Stadtkommandant – Captain E. E. Wilson – von der MGO.CCA 11. TM.ARMD.DIV. eingerichtet hatte und von dort die ersten Anordnungen erließ. Dazu wurde er von einem Stab von Dolmetschern und Ordonnanzen unterstützt, die relativ menschlich mit uns umgingen und außer einem Dolmetscher keine Siegerposen zeigten.
Die erste Maßnahme war die Anordnung der Sperrzeiten. Nach meiner Erinnerung war für die nächsten 24 Stunden Ausgehverbot angeordnet, danach sollten je zwei Stunden vor- und nachmittags Ausgeherlaubnis für die Bevölkerung möglich sein. Zur Absicherung dieser Anordnung war ich ins Rathaus geholt worden, denn ich musste sofort mit der Herstellung von Passierscheinen beginnen, die an Personen ausgegeben werden sollten, die zur Aufrechterhaltung der städtischen Angelegenheiten nicht dem Verbot unterliegen konnten, z. B. Ärzte, Krankenpersonal, die Gruppe der Hilfspolizisten etc. ...
Den Kampftruppen folgten relativ schnell dafür vorgesehene Verwaltungsstäbe, die sich in den Räumen des ehemaligen Finanzamtes (in der DDR Gebäude der Poliklinik) in der Bismarckstraße einrichteten. Von dort wurden schon in den ersten Tagen die Verhaftungen der mehr oder weniger belasteten Parteiführer vorgenommen. Ich erlebte die undramatische Festnahme des Kollegen A. T., der den NS-Marinesturm als alter Matrose geleitet hatte. Seine Inhaftierung dauerte nicht lange.
Auch zur Ablieferung von Handfeuer- sowie Hieb- und Stichwaffen wurde von dort aufgerufen. Da ich täglich an der neuen Kommandantur vorbeigehen musste, konnte ich die abgelieferten Gegenstände zu Bergen aufgehäuft liegen sehen. Jagdgewehre, Jagd- und andere Messer, diverse Hieb- und Stichwaffen, u. a. wunderbare Antiquitäten. Man erhielt dafür keine Bestätigung oder Entschädigung. Mein Vater hat selbst sein Gewehr und einen herrlichen Jagddolch abgegeben. Der Respekt und die Angst waren sehr groß.
In ähnlicher Weise wurden auch die Fotoapparate gefordert. Überalterte Apparate wurden von den Amerikanern nicht eingesammelt, und die Nachbarschaft sackte sie ein.
Wenn es die Zeit im Büro ermöglichte, beseitigte ich den Schmutz und Schutt auf den Etagen, denn ich war vorerst die einzige Kraft dafür. Auch kümmerte ich mich um noch vorhandene Reservekarten für die zerstörte Meldekartei und begann mit dem Wiederaufbau. Außerdem musste ich das Einwohnermeldeamt als Anlaufstelle für die Bevölkerung während der je zwei Stunden Ausgehzeit geöffnet haben. Flüchtlinge, Durchreisende, heimwärts strebende Soldaten aus Lazaretten und aufgelösten Einheiten standen oft ohne Papiere da und erhofften Hilfe durch uns. Wir erhielten in den kommenden Wochen Überbrückungsdokumente, die wir nach Absprachen und den möglichen Prüfungen ausgestellt haben. Auch solch einen Ausweis füge ich bei. Mitte Mai wurden für die gesamte Stadtbevölkerung neue Ausweise im Rathaus ausgegeben.
Die unbesetzte Sekretärinnenstelle wurde wieder besetzt – durch Fräulein Gertrud Droßel, jetzt verehelichte Albrecht –, und so erklärt sich der Plural. Wir hörten durch entlassene Soldaten, dass man im Lazarett im Gelände der Heil- und Pflegeanstalt nach Überprüfung und einigen Tagen Aufenthalt einen Entlassungsschein bekommen könne, und wir schickten diverse Soldaten dorthin. Die den Mut und ein relativ reines Gewissen hatten, meldeten sich alle wieder zurück (Dokument: Entlassungsschein E. G.). Die um unsere Stadt noch kämpfenden SS-Soldaten hatten sich in Richtung Coburg zurückgezogen und sind dort wohl in Gefangenschaft geraten. Die in Hildburghausen entlassenen Soldaten konnten ab Anfang Juni mit der wieder instandgesetzten Werrabahn abfahren. Sie konnten bis zur gesprengten Werrabrücke bei Meiningen fahren, umsteigen und auf der anderen Seite weiterfahren. Die Fußmärsche hatten ein Ende. Sie erhielten von der Lebensmittelabteilung für drei Tage Verpflegung und mussten diese am 4 .Tag an ihrem Aufenthaltsort neu beantragen.
Captain Wilson zog nach wenigen Tagen mit der kämpfenden Truppe weiter und die volle Verantwortung übernahm nun die neue Kommandantur. Da keine Telefone benutzt werden konnten, musste ein reger Kurierdienst eingerichtet werden. Schüler mit Sprachkenntnissen boten sich gern an. Doch ehe der schon einmal erwähnte Dolmetscher weiter zog, gab es in dem kleinen Büro noch eine Auseinandersetzung zwischen ihm und mir, in die ich ungewollt hineinschlitterte und die nur durch das strenge Eingreifen Capt. Wilsons beendet wurde.
Im Bürozimmer hing zum Gedenken an Ritter v. Stransky – der am Hildburghäuser Technikum studiert hatte – eine Gedenktafel für die Gefallenen an der Feldherrnhalle in München. Sein Name stand unter denen der ca. 20 Gefallenen. Darunter sah man eine schmale Silhouette der Feldherrnhalle. Der Dolmetscher hatte das Bild angesehen und von einem Kollegen die Tafel ohne Glas und Rahmen gefordert. Leider delegierte der Kollege den Auftrag an mich weiter, da er in den Außendienst sollte. Ich fragte ihn, wieso der Dolmetscher wohl solch ein fragwürdiges Dokument forderte und hörte gleich hinter mir seine Erklärung. Er war beim Abnehmen des Bildes eingetreten, und ich hatte sein Kommen nicht gehört. Es flog mir ein hasserfüllter Kommentar entgegen: Er sei in München geboren und nach Amerika emigriert. Dieses nazistische Dokument würde doch für uns wertlos geworden sein, oder seien wir immer noch überzeugt, dass wir das wieder brauchen könnten? Ich stand dem Ausfall, der dann folgt, fassungslos gegenüber, der sämtliche Schandtaten der Nazis und der SS auf mich, als Deutsche und schwächstem Punkt im Zimmer, übertrug, und ich wusste nicht, wie ich mich benehmen sollte. Solch einer heiklen Situation stand ich hilflos gegenüber, zumal er sie genoss.
Als er sich fast in seinen Anklagen überschlug, versuchte ich ihn darauf hinzuweisen, dass ich vielleicht doch die falsche Person sei, der er so begegnete. „Sie sind natürlich auch kein Nazi gewesen, so wie wir in Deutschland noch keinen einzigen Nazi gefunden haben“ – schrie er weiter. „Ich bin als Arbeitsmaid automatisch in die Partei aufgenommen worden, aber ich identifiziere mich nicht mit Ihren Anklagen.“
Ich zitterte um das Ende des Gesprächs und um mehr, als sich eine Hand auf meine Schulter legte und Capt. Wilson meinen Dolmetscher mit Strenge des Zimmers verwies. Er hatte die Lautstärke der Diskussion gehört und war aus seinem Zimmer gekommen. Er hatte Mühe, mich zu beruhigen und meinte, ich sei ein "good girl", ich sei bisher tatsächlich das einzige Parteimitglied in Germany, und ich solle meinem Dolmetscher seinen Ausbruch verzeihen. Der sei Jude und sein verständlicher Hass sei riesengroß, dass selbst die Amerikaner ihm nicht immer folgen könnten. Diese unfreiwillige Diskussion ist ein Beispiel für die Emotionen dieser Zeit.
Inzwischen war auch ein neuer Landrat eingesetzt worden, ein von Hitler entlassener Ministerialrat aus Berlin, der im Kreise der Hilfspolizisten schon das große Wort geführt hatte – Landrat Keding. Er hasste nun wieder alle Deutschen, die in ihm nicht den Märtyrer sahen, und so benahm er sich auch zeitweise. Auch ich habe das zu spüren bekommen. Er folgte später den Amerikanern mit keinem gut hinterlassenen Leumund.
Vom Landratsamt aus erfolgte dann die Eingliederung der nun freien ausländischen Arbeiter. Die Heimkehr der kriegsgefangenen Franzosen, die z. T. in Privatunternehmen arbeiteten, wurde durchgeführt. In der Norddeutschen Maschinenfabrik (NORDEUMA) waren russische Frauen, Polen, Belgier, Holländer und Franzosen als Kriegsverpflichtete meist in Baracken untergebracht. Auch in der Stadt waren einzelne Holländer privat untergebracht. Einer davon war in die Neustädter Apotheke verpflichtet worden, er sprach sehr gut deutsch. Seine Schrift war weniger gut – aber er wurde trotzdem für die Wiederherstellung der Meldekartei herangezogen, ebenso ein Pole, der sich in der vorangegangenen Zeit seiner deutschen Vorfahren und guter Sprachkenntnisse rühmte und nun durch rebellisches Auftreten das Gegenteil bezeugen wollte. So musste ich während der nächsten Wochen in manche kritische Situation als Besiegte zwischen den Siegern agieren.
Das Gesundheitswesen lag den Amerikanern sehr am Herzen. So war eine der ersten Anordnungen gleich nach der Besetzung die Überprüfung des Trinkwassers. Das für uns zuständige Institut war in Gotha, und es sollte ein deutscher Arzt mit Wasserproben dorthin fahren. Der HNO-Arzt Dr. Dietrich Schultze wurde beauftragt, diese Fahrt zu übernehmen; er erhielt Reisepapiere und eine Begleiterin. Ich war im Roten Kreuz, und meine Schwesterntracht und mein Ausweis lagen bereit. So wollte ich Herrn Dr. Schultze begleiten, um gleich meine in Gotha und Umgebung lebende Verwandtschaft zu besuchen. Die Postgebäude waren versiegelt, und amerikanische Soldaten hielten Wache davor. Es war also brieflich keine Verständigung für die nächste Zeit zu erwarten, und ich wagte das Risiko.
Wir kamen unangefochten durch alle amerikanischen Kontrollen, die sehr zahlreich unterwegs anzutreffen waren. Wir bekamen beide gute Resultate und fuhren über Friedrichroda zurück. Dort holten wir eine junge Mutter mit Säugling ab, die durch die Kampfhandlungen dort so lange festgehalten worden war.
Von der Kommandantur wurden Dolmetscher mit englischen Sprachkenntnissen gesucht. Dabei meldete sich auch das deutsche Ehepaar Heintze, das erst wenige Wochen vorher aus Amerika nach Hildburghausen zum Bruder des Mannes (Messerschmied Heintze) gekommen war. Familie Heintze war als Deutsche in Amerika interniert gewesen, und als sie dann nach Deutschland entlassen wurde, kam sie in diesen Zusammenbruch. Diese Familie ist mit den Amerikanern westwärts gezogen, und vielleicht kann ich dort noch einige Unterlagen finden.
Ende Juni wurden die Vorbereitungen für den Barackenbau in den Werrawiesen für die vielen Flüchtlinge begonnen. Die Baracken wurden im Laufe des Sommers fertig gestellt. Es wurde auch ein Arbeitsauffanglager für Heimkehrer.
Als die Kommandantur in der Bismarckstraße neu eingerichtet wurde, wurden die nächstliegenden Häuser geräumt, die als Quartier für diverse Soldaten dienen konnten. So wurden auch wir u. a. aufgefordert, unsere Wohnungen vorübergehend zu räumen, und wurden im Hause Rittweger in naher Nachbarschaft einquartiert. Als die kämpfende Truppe weiter zog, durften wir wieder zurück. Wir fanden in unserem Hof diverse Lebensmittelreste vor, die uns über die nächsten schwierigen Tage hinweghalfen. Wohl gleichzeitig hörten wir von der Plünderung eines Lebensmitteldepots in der Oberen Braugasse/Am Bertholdstor, die aber durch strenge Maßnahmen unterbunden wurde.
Nach Verhaftung der Parteibonzen wurden auch Ärzte verhaftet, die in höheren Positionen gestanden hatten. Man untersuchte gegen sie wegen Verdacht auf Teilnahme an der Euthanasie. Sie wurden nach kurzer Verhaftung wieder auf freien Fuß gesetzt, aber kurz darauf erneut abgeholt. Heute bin ich davon überzeugt, dass man sie nicht den Russen überlassen wollte.
In der ehemaligen NORDEUMA wurde vorher Kriegsmaterial produziert. Durch Eigeninitiative wurden Gebrauchsgegenstände für die Bevölkerung hergestellt, z. B. aus Granatenhülsen Kartoffelpressen.
Der Einmarsch der sowjetischen Truppen war durch Flüsterpropaganda im Gespräch. Es hielt sich auch hartnäckig das Gerücht, dass die Fernstraße 89 die neue Grenze werden sollte. Als die Russen dann wirklich da waren, waren alle über diesen geräuschlosen Abgang der Amerikaner und den Einzug der Russen entsetzt und überrascht. Der Wechsel in der neuen Kommandantur war nach außen ein Schritt zurück in vergangene Zeiten (Panjewagen, Fahrräder, Harmonikaspieler etc.).
Die Amerikaner haben diverse Familien aus Hildburghausen mitgenommen. (Dolmetscher mit Familien und auch diverse Tänzerinnen des DAF-Reichsballetts, die aus Berlin nach Hildburghausen evakuiert worden waren.)
Gertrud Albrecht
Nochmals Hildburghausen
Am 7. April begann für uns die Besatzungszeit. Zuerst ließ man über Lautsprecherwagen wissen, dass wir je zwei Stunden vor- und nachmittags auf die Straße gehen dürften; alles Weitere werde durch Anschlag bekannt gegeben. Da lasen wir dann auf großen Plakaten, dass Photoapparate und Ferngläser abgeliefert werden müssten, alles Reisen für Deutsche ab sofort verboten sei, die Post und einige andere Ämter nicht ‚arbeiten’ dürften. Keine Zeitungen ...
Da der elektrische Strom ausfiel und auch die Telephone für ca. sechs Wochen nicht funktionierten, gab es echte Engpässe, vor allem bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. In der Molkerei z. B. verteilte man Sahne, die sonst zu Butter verarbeitet worden wäre. Die Läden hatten kaum noch Vorräte, und auf die Lebensmittelkarten gab es dann nichts mehr.
Die Kampftruppen, die in zwei Schulen kaserniert waren und auch in großen Zelten am Werra-Ufer kampierten, rückten nach vier Tagen mit ihrem Kommandeur Wilson ab. Ihnen folgten Amerikaner, die offenbar auf zivile Verwaltungsarbeit vorbereitet waren. So gab es einen Offizier für Schulungsarbeit, einen für Wirtschaftsangelegenheiten, einen für die Versorgung der Bevölkerung usw. Gemeinsam hatten sie den Auftrag, uns demokratisch zu erneuern.
Allmählich durften die Ämter wieder ihre Tätigkeit aufnehmen. Bürgermeister Dr. Zschaeck, der keine NS-Vergangenheit hatte, blieb auf seinem Posten, als neuer Landrat wurde Keding bestellt. Die gesamte amerikanische Besatzungszeit über hatten diese Herren wohl alle Verantwortung für ihre Arbeitsbereiche zu tragen, waren indessen nicht unterschriftsberechtigt. Sämtliche in Frage kommenden Genehmigungen oder sonstige Bescheide durften nur von der Kommandantur, die im ehemaligen Finanzamt residierte, unterschrieben werden.
In diese Zeit fällt der Beginn meiner Tätigkeit im Vorzimmer des Bürgermeisters. Fast alle Angestellten des Rathauses durften an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, nur einige hatten an sogenannten „Sühnearbeiten“ teilzunehmen, soweit sie nicht zu sehr NS-belastet waren. Später löste man alle Parteigenossen ab, und es wurden andere, meist jüngere Leute an ihre Stelle gesetzt.
Inzwischen war die Sperrzeit erweitert worden: von morgens 6.00 Uhr bis abends 18.00 Uhr durften wir auf die Straße; nachts war weiterhin Sperrstunde.
Die Banken öffneten wieder ihre Schalter. Von Neuguthaben (Einzahlungen ab 8. Mai 1945) konnte Geld abgehoben werden. Später wurden auch Auszahlungen von Alt- und Uraltguthaben geregelt (jeweils 300,00 Mark). Davon ausgeschlossen blieben alle Flüchtlinge, die aus den abgetrennten Ostgebieten kamen. (Ich gehörte auch dazu; wir haben nie einen Pfennig von unseren Konten abheben dürfen.) Selbst die Bankschließfächer durften wieder benutzt werden. Erst nach dem Einmarsch der Russen fielen sie unter die Beschlagnahmung.
Die Versorgung mit Lebensmitteln war katastrophal geworden, besonders für die Ausgebombten, Evakuierten und Flüchtlinge, die ja keine Vorräte hatten. Ebenso wenig verfügten sie über Brennmaterial. Der Schwarzmarkt kam auf.
In diese Zeit datierten die ersten Anfänge der „Volksküche“, wo man für wenig Geld ein einfaches Essen erhalten konnte. Später, als die Marken wieder eingeführt wurden, mussten auch einige Lebensmittelkarten dort abgegeben werden. Flüchtlinge und insbesondere alte Menschen nahmen diese Hilfe in Anspruch.
Am 19. und 20. Mai 1945, Pfingstsamstag/-sonntag, wurden in einer Großaktion „Registries“-Ausweise für alle Einwohner ausgestellt. Nachdem sich nun jedermann ausweisen konnte, wurden bedingt Reiseerlaubnisscheine ausgegeben. Diese waren im Bürgermeisteramt zu beantragen, und ich musste jeden Tag zum Kommandeur, um die Anträge vorzulegen; am nächsten Tag konnte ich sie wieder abholen. Zwar gab es bereits vor diesem Zeitpunkt Reisegenehmigungen, jedoch nur für Kaufleute, die Lebensmittel und andere Versorgungsgüter für die Bevölkerung besorgen mussten.
Im Zuge der gelockerten Reisebestimmungen kamen viele Menschen durch die Stadt, die auf dem Heimweg waren: ehemalige Soldaten, Verwundete, Evakuierte, Kinder, die im Rahmen der „Kinderlandverschickung“ aus bombengefährdeten Gebieten herausgebracht worden waren, und vereinzelt auch KZ-Häftlinge. Alle, die im Bürgermeisteramt vorsprachen, erhielten für zwei bis drei Tage Lebensmittelkarten und möglichst auch ein Quartier für ein oder zwei Nächte zugewiesen. Wir haben stets versucht, Kindern, die allein unterwegs waren – das jüngste darunter zählte gerade sieben Jahre –, Erwachsenen an die Hand zu geben. Sie kamen oft aus Böhmen zu Fuß und wollten bis Hamburg, nach Hause. Die Hilfsbereitschaft der Leute war groß, denn es gab kaum eine Familie, die nicht einen Angehörigen „unterwegs“ wusste. Allerdings konnten nicht alle Flüchtlinge privat unterkommen, da es zu viele waren. Sie wurden im Schützenhaus einquartiert, wo sie lagermäßig leben mussten.
In der Korrespondenz gab Bürgermeister Zschaeck des öfteren folgende Einwohnerzahlen an: Zuerst habe Hildburghausen rund 7000 Einwohner gehabt; dann sei die Zahl durch Evakuierte und Ausgebombte, durch Dienstverpflichtete in den größeren Betrieben, die z. T. nach Hildburghausen ausgelagert worden waren, und auch durch Fremdarbeiter auf 12000 angestiegen; aufgrund der Flüchtlinge beliefe sich schließlich die Einwohnerzahl auf 15000. Daran waren für den verhältnismäßig kleinen Ort fast nicht zu bewältigende Probleme geknüpft – in manch anderer Stadt Thüringens wird es kaum anders ausgesehen haben. Wenn unter diesen Bedingungen dann ein neuer Bürgermeister eingesetzt wurde, so stand er vor Problemen, die er nicht bewältigen konnte.
Am Rande der Stadt hatten die Amerikaner ein Auffanglager für Soldaten eingerichtet, die dort festgehalten wurden, wenn sie keine ordnungsgemäßen Entlassungspapiere vorweisen konnten. Nach einer Überprüfung wurden sie Tage später mit einem Entlassungsschein weiter in Marsch gesetzt. Wer allerdings verdächtig war, der SS angehört zu haben, wurde in andere Gefangenenlager verbracht, z. B. nach Bad Kreuznach.
In Hildburghausen hielt sich am Kriegsende ein Teil des „Reichsballetts“ auf, also Tänzer und Tänzerinnen, die größtenteils Balten waren. Meist hatten sie ihre Familien dabei. Jetzt gehörten sie zu den sogenannten DP's und genossen allerlei Vorrechte. Eine Kommission der UNRRA, der damaligen Flüchtlingshilfeorganisation, kam vorbei, um jedem von ihnen die Möglichkeit anzubieten, in ein anderes westliches Land auszuwandern, damit sie nicht eventuell den Russen in die Hände fielen, denn es zeichnete sich schon ab, dass Thüringen an die Sowjets übergeben werden sollte. Die Abreise eilte, und da die erforderlichen Papiere recht spät fertig geworden waren, hatte ich – trotz Sperrstunde – fast alle persönlich aufzusuchen, um ihnen mitzuteilen, dass sie noch in der Nacht packen müssten, um im Morgengrauen abtransportiert zu werden. Später hörten wir, dass sie nach den USA, Kanada, Australien usw. ausgewandert seien.
Alle Anordnungen, Befehle und Verbote wurden von den Amerikanern zentral an die deutschen Behörden gegeben. Der Briefkopf lautete dem Sinne nach folgendermaßen: „Headquarter III. Army United States of America – General Patton". Text: „Off limits!“ Dann folgte die jeweilige Anordnung. Da „off limits“ ja wörtlich „Eintritt verboten“ bedeutet, signalisierte uns ein solcher Erlass stets den Umgang mit dem amerikanischen Militär bzw. Verbote oder Anordnungen im Umgang mit der Besatzung. Daneben gab es eine Vielzahl von Erlassen, die alle übrigen Bereiche des täglichen Lebens betrafen und durch das Bürgermeisteramt veröffentlicht werden mussten: schriftlich mittels Anschlag sowie mittels „Ausklingeln“ durch den Gemeindeboten.
So wurden nach und nach einzelne Berufsgruppen aufgefordert, sich zu melden, bzw. das Bürgermeisteramt beauftragt, entsprechende Namenslisten der Kommandantur einzureichen. Laut Kontrollratsbeschluss waren alle Juristen, Techniker, Offiziere – die bereits zu Hause waren! –, Lehrer und Wissenschaftler diverser Sparten zu erfassen. Der Personenkreis ward verhört, und so mancher kam danach nicht mehr heim, musste vielmehr in ein Lager. Schulen und Gerichte durften während der gesamten amerikanischen Besatzungszeit ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen. Es gab auch keine deutschen Zeitungen. Kleine Handwerksbetriebe und ähnliches wurden aufgrund der Sequesterbestimmungen bald geschlossen, um nach wenigen Tagen wieder den Eigentümern zurückgegeben zu werden (die Behandlung der Großbetriebe ist mir nicht bekannt). Erst nach Einmarsch der Sowjets kam es zu einer endgültigen Enteignung.
Die amerikanischen Soldaten, besonders die Offiziere, mit denen wir es zu tun hatten, legten ein recht arrogantes Benehmen an den Tag. Für sie waren wir alle „Nazis“ und damit nur verachtenswert. Erst wenn sie einzelne Deutsche besser kennenlernten, machten sie Unterschiede. Das Bürgermeisteramt war stets Anlaufstelle für alle ihre Wünsche, etwa ihnen einen Handwerker heranzuholen oder ihnen Kleinigkeiten zu beschaffen. Schlimmer war es, wenn Häuser beschlagnahmt werden sollten oder wenn man ein Klavier, Silberbestecke und andere kostbare Dinge für ein besonders festliches Essen „besorgen“ musste. Der Bürgermeister war dann unterwegs und wusste oft nicht, wie und wo er's hernehmen sollte ... Andererseits gestanden die Besatzer den Eigentümern beschlagnahmter Häuser zu, sich etwas von ihren Vorräten aus dem Keller zu holen. (Bei den Russen wurde eine solche Erlaubnis nie wieder gegeben.) Unsere Arbeit im Bürgermeisteramt war jedenfalls so vielfältig, wie sie es nicht zuvor jemals gewesen war.
Dass die Russen einmarschieren würden, erfahren wir ca. 24 Stunden vorher: am Montag, dem 2. Juli 1945, zogen sie gegen Mittag auf. Sie kamen aber nicht etwa wie Sieger, sondern ziemlich zerlumpt, unordentlich, teils auf kleinen Panjewagen – quer darauf oft ein Sofa, auf dem der Kutscher saß –, teils zu Fuß. Nachts kam es dann zu den ersten reihenweisen Vergewaltigungen ...
Die Amerikaner waren zum Teil erst am selben Montag abgerückt. Etliche Bürger der Stadt gingen gleich mit ihnen: Sie wollten die Zeit der russischen Besatzung nicht mitmachen. Auch viele Flüchtlinge zogen weiter, da sie ja noch keine neue Heimat gefunden hatten, oft auch erst jetzt sich getrauten, zu ihren Angehörigen weiterzureisen.
Nach: Kultur und Geschichte. THÜRINGENS Landeskundliches Jahrbuch für Deutschlands Mitte
Band 8/9 8./9. Jahrgang 1988/89, Heft l. – Im Auftrag des Stiftungsrates der Stiftung Thüringen herausgegeben von D. Grille und A.-W. Kaiser. Stiftung Thüringen, Mainz
Kommission: Fördererkreis Heimattreuer Thüringer
Gottfried-Schwalbach-Straße 40, 6500 Mainz 32
(leicht bearbeitet)