Hildburghausen Mitzenheim I
Professor Dr. habil. em. Paul Mitzenheim
Erinnerungen an die Familie Mitzenheim und
Alfred widmete sich nach dem Besuch der achtjährigen Volksschule seit Ostern 1939 ganz der Landwirtschaft und absolvierte jeweils im Winterhalbjahr die Landwirtschaftsschule. Schon mit 18 Jahren musste Alfred Soldat der Hitler-Wehrmacht werden, und Paul, als Oberschüler sprang ein als Helfer in der Landwirtschaft, auch er scheute keine körperliche Arbeit und liebte als Junge seinen Schimmel über alles. Noch heute bin ich tief erregt, wenn ich den letzten Brief meines Bruders Helmut (geschrieben am 21. September 1942) zur Hand nehme, wo er sich – im weiten Russland des Nachts auf Posten stehend – der schönen Zeit im Elternhaus erinnert und daran denken muss, „da wir um diese Zeit vom Felde heimfuhren, den Wagen beladen mit Kartoffeln oder Rüben, und davor unser braver Schimmel“. Nur wenige Tage danach, am 1. Oktober 1942, starb Helmut an einer zu spät erkannten Krankheit in einem ungarischen Feldlazarett bei Woronesh. Wochenlang kamen im Herbst die Briefe und Päckchen zurück, weil sie den Adressaten nicht mehr erreichten. Zwei Jahre darauf, im Herbst 1944, wiederholten sich die psychischen Belastungen für unsere Familie, die Post an Alfred ging wieder an uns zurück. Bis dann ein Brief, geschrieben von einer Schwester in einem Feldlazarett in Oberitalien, bei uns eintraf mit der Nachricht, dass Alfred bei Rimini durch einen Bombentreffer verschüttet und schwer verwundet worden war. Mit Schädelbruch und einem steifen Oberarm kehrte er aus dem sinnlosen Kriegsgeschehen zurück und erlebte das Kriegsende im Lazarett in Hildburghausen. Er war Zeuge des Bombenangriffes am 23. Februar 1945, durch den unsere Scheune zerstört wurde, und schließlich der siebenstündigen Beschießung der Stadt sowie des Einzugs der amerikanischen Truppen am 7. April 1945.
Schon vorher kamen August Gerau, Max Leipold, Hans Kuhn und andere Hitler-Gegner zu geheimen Beratungen mit Erich Mitzenheim im „Thüringer Hof“ zusammen und machten sich erste Gedanken über den Neubeginn nach dem Krieg. So war es kein Zufall, dass diese Antifaschisten noch während der Ausgangssperre im April 1945 den ersten Antifa-Ausschuss mit etwa einem Dutzend aufbauwilliger Hildburghäuser bildeten und im „Thüringer Hof“ die ersten Maßnahmen für den Neuaufbau der Verwaltung und zur Versorgung der Bevölkerung berieten. Dazu gehörten wichtige Personalentscheidungen, die in Abstimmung mit der lokalen Militärregierung vorbereitet wurden: der kommissarische Landrat Keding, sein Stellvertreter Max Leipold, Kurt Wiegand als neuer Schulrat, Dr. Weber als Kreisarzt sowie die Übernahme des bisherigen Bürgermeisters Dr. Zschaeck, und an seine Seite wurde als Beigeordneter August Gerau gestellt. Anfang Juli vollzog sich dann in Thüringen der Wechsel der Besatzungsmächte, der uns im „Thüringer Hof“ durch das Abhören der „Schwarzsender“ während der Jalta-Konferenz schon bekannt und der Bevölkerung die von der US-Armee herausgegebene erste Zeitung „Hessische Post“ angekündigt worden war.
In den ersten Nachkriegsjahren zählte der Gastwirt und Landwirt Erich Mitzenheim zu den aktivsten Persönlichkeiten im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt und des Kreises Hildburghausen. Allein die Vielzahl der ehrenamtlichen Funktionen – Vorstand der Molkereigenossenschaft, Vorsitzender der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe in der Stadt und im Kreis, Mitbegründer des Kulturbundes, Dirigent des Volkschores u. a. m. – zeugten von seinem uneigennützigen Einsatz für ein anderes und besseres Deutschland gegenüber der Zeit vor 1945. Das wichtigste politische Ereignis war damals unstreitig für ihn die Neugründung der SPD im „Thüringer Hof“. Anton Schneider, Hans Kuhn, Erich Mitzenheim, Kurt Wiegand gehörten zu den Initiatoren der Gründungsversammlung der SPD für das Kreisgebiet im Juli 1945, in der unter anderen Paul Hildebrand und Fritz Wagner aus Meiningen als Redner mitwirkten. Zu größeren Veranstaltungen im Winter 1945/46 traten als Redner im „Thüringer Hof“ auch Mitglieder des neuen Landesvorstandes der SPD, wie August Frölich und Heinrich Hoffmann, auf. Die Frage der Vereinigung von SPD und KPD wurde lebhaft diskutiert, und es gab Zustimmung und auch Vorbehalte. Als die paritätische Besetzung der entscheidenden politischen Funktionen innerhalb der SED aufgegeben und nur die SPD zu Fehlern der Vergangenheit Stellung nehmen musste, während die KPD ihre historische Rolle vor 1933 verklärte und idealisierte und im Prozess der „Parteireinigung“ viele ehemalige Sozialdemokraten Repressionen ausgesetzt wurden, zog sich Anfang der fünfziger Jahre Erich Mitzenheim aus den politischen Funktionen ganz zurück und widmete sich bis über seinen 70. Geburtstag hinaus nur noch der Musik, dem Volkschor und dem Zitherklub.
Nach: Paul Mitzenheim „Wohl bekomm’s!“ – 100 Jahre Gaststätte „Thüringer Hof“. – Verlag Frankenschwelle Hans J. Salier, Hildburghausen, 1993, S. 28 ff.
Biografisches zu
Paul Mitzenheim
Prof. Dr. habil. em.
* 24.08.1930, Hildburghausen
Pädagoge, Lehrerbildner, Historiker, Universitätsprofessor
Paul Mitzenheim wird als dritter Sohn des Gast- und Landwirts Erich Mitzenheim und seiner Frau Anna (geborene Sauer) aus Wasungen geboren (Gasthaus „“Zum Thüringer Hof“, Untere Braugasse). Von 1937 bis 1941 besucht er die Volksschule im Alten Technikum in der Oberen Marktstraße 44 und bis 1949 die Oberschule (heute: Staatliches Gymnasium „Georgianum“). An der Friedlich-Schiller-Universität absolviert er anschließend ein Lehrerstudium für die Fächer Geschichte und Geografie. Mit der Lehrbefähigung bis zur 12. Klasse erteilt er vom 1. März 1954 bis zum Sommer 1956 Unterricht an der Internatsoberschule „Max Greil“ in Schleusingen und wirkt im Schuljahr 1956/57 als stellvertretender Direktor an der Ober- und Mittelschule in Zella-Mehlis. Vom 1. September 1957 bis 1991 ist er hauptsächlich in der Lehrerbildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig und promoviert zur mit einer Dissertation zur „Greilschen Schulreform in Thüringen“ und habilitierte sich mit einer Arbeit zur Geschichte der Lehrerbewegung. 1975 wurde er zum Ordentlichen Professor für Geschichte der Erziehung berufen. Mit der Abwicklung der Sektion Erziehungswissenschaft ist er zum 1. Oktober 1991 in den Vorruhestand gesetzt worden.
Mitzenheim hat eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten verfasst als Historiker der Pädagogik, u. a. zur Thüringischen Erziehungs- und Schulgeschichte, zum Werk und zur Wirkungsgeschichte Friedrich Fröbels, zur Lehrerbewegung und der Geschichte der Lehrerbildung.