Eine Seite für Hildburghausen

Eigentlich nicht erwähnenswert ...

Die DDR schuf sich ihre Gegner selbst

„Begegnungen“ mit Tschekisten –
Tatsachen und befreiende Polemik

(Geschrieben zwischen dem 4. und 21. August 2011,
in den Tagen um den 50. Jahrestag des 13. August 1961)

Immer hatte ich davon geträumt, dass in der DDR Gerechtigkeit nach den in der Verfassung festgeschriebenen Menschenrechten herrschen möge. Nie und nimmer hätte ich aber glauben wollen, dass ich als kleiner hin und wieder aufmüpfiger Bürger eines versauten Landes einem Offizier der Geheimpolizei im 40. Jahr der Deutschen Demokratischen Republik „behilflich“ sein konnte.

Besetzung der Kreisdienststelle für Staatssicherheit am 5. Dezember 1989. Seit dem 17. November 1989 hatte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands dem Ministerium für Staatssicherheit, dem Geheimdienst und der Geheimpolizei der DDR, mit dem NamenAmt für Nationale Sicherheit einen demokratischeren Anstrich gegeben. Der teuflische Inhalt blieb der gleiche. In der Umgangssprache setzte sich diese SED-kaschierte Namensnennung nicht durch, wobei das Wort „national“ für diesen deutschen Teilstaat eine Anmaßung war.

Nach einer angeblichen „Einladung“ am 5. Dezember 1989 durften einzelne Stasimitarbeiter unter Kontrolle und Aufsicht des Neuen Forums und der Deutschen Volkspolizei noch einmal ihren einstigen Arbeitsplatz in der Geschwister-Scholl-Straße in Hildburghausen aufsuchen, um persönliche Dinge zu ordnen und vielleicht ihre inzwischen nicht mehr gut riechende Brotbüchse mit vergammelter Leberwurst oder sonstigem Brotbelag mitzunehmen. Dafür sorgten ausgeklügelte Maßnahmen der Kontrolle und die Sicherheitspartnerschaft mit dem Volkspolizeikreisamt (VPKA), das in den bewegenden Tagen der „Kerzenlichtrevolution“ seinem Namen bescheidene Ehre machte. Die Volkspolizei funktionierte plötzlich als Polizei des Volkes, auch wenn wir wussten, dass einige ihrer Führungskräfte als Verhandlungspartner direkt von der SED und damit von ihrem Dienstleistungsunternehmen, der Staatssicherheit, gesteuert wurden. Manche Polizisten hatten ohnehin eine sehr große Nähe zum Geheimdienst. Später wurden sie aus gutem Grund gefeuert.

Mit dem Stellvertreter der Stasi-Kreisdienststelle, dem Stabschef Major Winfried Litsche, ging ich ohne weitere Begleitung schweigend in sein gewesenes Dienstzimmer. Angst hatte ich keine Sekunde. In den November- und Dezembertagen 1989 waren die Freiheitsliebenden stärker als die Tschekisten. Die Angst war uns abhanden gekommen, Mut beflügelte uns. Dem Major Litsche genehmigte ich das Öffnen seines bisher genutzten Schrankes. Er fragte – mehr bittend als selbstbewusst: „Darf ich meine Uniform mitnehmen?“ Sehr bestimmt erwiderte ich: „Die Uniform können Sie mitnehmen, die brauchen Sie sowieso nicht mehr!“ Mit eisigem Blick reagierte er schweigend ... Seine Herrschaft über mich war spätestens seit diesem Zeitpunkt Geschichte.

Das war der gleiche Winfried Litsche, den ich aus der Zentralen Oberschule kannte, der nachmaligen Joseph-Meyer-Schule in der Karl-Marx-Straße 44, die heute wieder Obere Marktstraße heißt. Der ein Jahr jüngere hochgewachsene blonde Schulkamerad galt als der nette Junge von nebenan, immer freundlich, mit guten Manieren und mit besserer Disziplin „ausgestattet“ als ich.

In den ersten sechziger Jahren hatten wir andere Vorstellungen vom Leben und gingen unterschiedliche Lebenswege. Freundlich grüßend und auch mitunter plaudernd, das war unsere belanglose Kommunikation, Gedankengänge wurden nicht geoutet. Ernsthaft begegnete ich ihm am 17. November 1976 im Zimmer des Direktors der Zentralen Oberschule, Arthur Bernardy, zu einer „Aussprache“. Selbst für Bernardy, einst in der Abteilung Agitation und Propaganda der SED-Kreisleitung Hildburghausen tätig, war das Gespräch nicht bestimmt. Letztendlich war die Geheimpolizei im Spiel, und die war der Staat im Staate. Die Tschekisten trauten selbst braven und dem System bedingungslos ergebenen Genossen nicht über den Weg. Das räumten sich die Genossen gegenseitig ein. Die gepolsterte Doppeltür wurde verschlossen, der Schlüssel steckte innen. Dann saß ich reichlich zwei Stunden dem damaligen Genossen Oberleutnant Litsche und dem Leutnant Boßecker gegenüber. Die Gegenseite notierte fleißig die Aussagen. Aber, es war wohl egal, was ich sagte. Auf einen Zeugen oder einen Rechtsvertreter hätte ich mich später ohnehin nicht berufen können.
Wie ich aus den BStU-Akten (BStU = Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) dreißig Jahre später herauslas, „begleitete“ Boßecker mich in treuer Pflichterfüllung noch einige weitere Lebensjahre. Genau dreißig Jahre später hielt ich den „Aussprachebericht“ vom 23.11.1976 in den Händen, kopiert in der Außenstelle Suhl des BStU.

Das Gespräch vor dreieinhalb Jahrzehnten, so ist herauszulesen, glich eher einem Verhör: Mir war sehr unwohl, und mich plagten Gedanken und Sorgen um meine Familie. Ohne Emotionen. Eiskalt mit Bluthochdruck musste ich diese Prüfung bestehen, Taktische Kalkulationen waren überflüssig. Höllisch musste ich aufpassen, vor allem darauf, was ich bereits gesagt hatte. Das sind erfahrene Leute – ohne Moral und Skrupel. Wer sich nur verhaspelt, nach Ausflüchten sucht oder sich verspricht, ist geliefert, selbst der Herzschlag musste unter Kontrolle gebracht werden, die Gestik und Mimik. Es stand sehr viel auf dem Spiel. Locker musste ich bleiben, absolut locker. Mancher Leser wird jetzt die Nase über diesen vulgären Rat rümpfen: Ein väterlicher Freund empfahl mir einmal, immer zu lächeln, wenn ich in eine ausweglose Situation käme. Mein ungeliebtes Gegenüber müsse ich mir auf dem Lokus ohne Papier vorstellen … Vermutlich hätte man mich, also den Befragten, gerne der Unehrlichkeit überführt. Vielleicht war es auch möglich, ihn für die schäbige Arbeit an der „Unsichtbaren Front“ zu rekrutieren. Bei vielen anderen „ehrenwerten“ Menschen hatten sie es schon geschafft, auch mit Erpressung. 1989 hatte ich en masse solche Erpresserakten gesehen und gelesen, von bekannten und teils ehrenwerten Leuten aus Hildburghausen. Was war das für ein heruntergekommener Staat, der seinen Bürgern nicht vertraute, der in ihnen den größten Feind sah? Der SED-Slogan „Alles für das Wohl des Volkes“ war eine billige Farce. Das Wort Sozialismus war zum Spottwort verkommen. – Es gab nur ein Ziel: Hier musst du raus, sonst bekommst du große Probleme. Fragen über Fragen. Schnell wurde klar: Sie hatten nicht viel Ahnung, tiefere Kenntnisse zu konkreten Sachverhalten ließen sich bei ihnen nicht mal ahnen. Zum Glück: zur Arbeit des Kulturbundes, des Philatelistenverbandes, zum genehmigten Auslandstausch über die Tauschkontrollstelle 15 B, zu meinen Westverbindungen, zu den Tausch- und Korrespondenzpartnern im NSW (Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet) und zu ihren politischen Haltungen. Und wie man tricksen oder auch Vorgänge umgehen konnte, davon wussten sie nicht viel und verstanden auch die Zusammenhänge nicht. Dann hätten sie es verschleiert angesprochen, noch nicht mal so wie das eben ein cleverer Geheimpolizist macht. Über diese konstruierten und die Lebenszeit vergeudenden Szenarien kann man doch nur hilfesuchend lächeln, das reale Leben ist viel spannender. Lauthals konnte man lachen. Vor mir saßen geschulte kommunistische Deppen. Im Bericht heißt es auf Seite 3 in gestelztem Deutsch: „Ausgehend von seinen Darlegungen zu den bestehenden Verbindungen in das kapitalistische Ausland wurde mit S. die Möglichkeit erörtert, seine Verbindungen eventuell für unser Organ nutzbar zu machen, wobei die Aufklärung dieser Person im Vordergrund steht.“ ... Hier war nicht eine konkrete Person gemeint, sondern es ging um einige meiner Freunde und Tauschpartner, die für das MfS interessant waren und bei diesem Anwerbungsgespräch genannt, aber nicht protokolliert wurden.

Am Schluss des von Leutnant Boßecker unterzeichneten vierseitigen„Ausspracheberichts“ wurde die Frage zur Mitarbeit für die Staatssicherheit nachdrücklich gestellt. Herzrasen! – Unter den Freunden und Partnern waren relativ wichtige Leute dabei. Nein, die wollte ich weder „aufklären“ – noch verraten! Nein und nochmals Nein! Verrat an Freunden und Bekannten stinkt zum Himmel. Zum Judas tauge ich nicht. Meine Reaktion war eindeutig. Im Bericht heißt es: „Es war zu erkennen, daß er diesem Problem auswich und keine feste Bindung mit dem MfS eingehen will.“

Die Angelegenheit war scheinbar erledigt. Nie wieder wurde ich für eine Spitzeltätigkeit befragt, und mit irgendwelchen Affären konnte man mich nicht erpressen. Da war auch nichts zu konstruieren. Zu meinem Glück hatte die Stasi Pech! Nur aus allem, was ich sagte und schrieb, konnte man mich „abschöpfen“. Vorsicht war geboten – auch zum Schutz meiner Familie und meiner Freunde. Das wusste ich, und da ist sicherlich mancher Misston an die richtige Adresse gelangt, denn die notorische Meckerei war mir nie fremd. Das Geschütz der Anwerbung konnte nicht mehr aufgefahren werden. Von meinen wenigen Freunden, mit denen ich Klartext reden konnte, wusste ich, dass man weitestgehend in Ruhe gelassen wird, wenn das Nein kommt. Ein Vorwärtskommen im Beruf war allerdings fast unmöglich. Das störte mich aber nicht. Diese Nischengesellschaft DDR bot viel Platz und Raum für „schöpferische Faulheit“ und für Hobbys. Und da gab es für mich kaum Grenzen. Diese Freiheiten genoss ich in der Unfreiheit exzessiv. Das ersetzte in vielerlei Hinsicht meine fehlende Abiturausbildung. Mit Beginn der Einheit Deutschlands war allerdings kaum noch Zeit für Steckenpferde. Fleiß war angesagt!

Jetzt wurde der „Fall Wolf Biermann“ bemüht. War ich verpetzt worden, weil ich Biermann nicht nur „lyrisch-rotzig“ fand, sondern auch genial? Viele DDR-Bürger wussten gar nichts von ihm, weil eben Kunst immer auch eine „Geschmacksache“ ist, und schon gar die eines linken Liedermachers. So viel war doch über Biermann nicht bekannt. Heute war der 17. November 1976, erst einen Tag zuvor hatte die DDR-Nachrichtenagentur ADN die Meldung verbreitet, dass die DDR – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – einen Bürger und dazu noch einen Linken ausgebürgert hatte. Das Konzert, das der Barde auf Einladung der IG Metall der Bundesrepublik Deutschland am 13. November in der Kölner Sporthalle bestritt, wurde im 3. Programm des Westdeutschen Rundfunks ausgestrahlt, das im Bezirk Suhl nicht zu empfangen war, selbst mit den raffinierten selbstgebauten Westantennen nicht. In Hildburghausen konnte man ARD, ZDF, Bayern und mehr oder weniger grießig Hessen sehen. Die ARD sendete das vierstündige Programm in voller Länge an diesem besagten 17. November 1976, aber erst abends, dem Tag „des Stasi-Rendezvous“. Fiebernd hatte ich das Konzert und den Auftritt Biermanns verfolgt. Das prägte sich ein, nur darüber sprechen konnte ich nicht. Das tat weh. Gerne hätte ich mich mit anderen Leuten darüber unterhalten und gestritten. Wem seiner „Freunde“ konnte man eigentlich noch vertrauen? Es waren sehr wenige. Dass es nicht viele waren, stellte die Staatssicherheit auch im „Abschlußbericht“ fest, „... daß er im Wohngebiet kaum Kontakte hat. Auch zu Kollegen wurden keine familiären Bindungen festgestellt. Im Lehrerkollektiv sowie im Philatelistenverband wird er anerkannt und geachtet. Dies ist insbesondere auf seine guten Leistungen und Erfolge zurückzuführen.“

In einer Zeit, in der damals schon Meldungen in Minuten um die Welt flogen, leistete sich die DDR mit Wolf Biermann einen solchen Fauxpas. Beim Verfolgen der Nachrichten und Kommentare war mir sofort klar, dass der Schaden für die DDR größer als ein frecher Song des Sozialisten und Liedermachers ist. Mit Langzeitwirkung. Das Volksgedächtnis vergisst nicht so schnell. Da ist auch nichts mit Agitation und Propaganda sowie mit Desinformation, die die DDR perfekt und teils bis zum Lächerlichen beherrschte, zu beschönigen oder zu tilgen. Die penetranten Lügen der SED hatten viele durchschaut. Selbst in den eigenen Reihen rumorte es. Für die Wahrheitsfindung bedurfte es keiner „westlichen Feindsender“. – In Litsches hartnäckigem Dunstkreis musste ich weiter lügen. Mir blieb keine Wahl, denn gegenüber saßen die „kommunistische Realität, Wahrheit und Dummheit“ zugleich.

Mit Ulbrichts Sturz hatten viele DDR-Bürger von Honecker etwas Liberalität erhofft. Da kamen aber peinlicher Schwachsinn, Verschlagenheit und Brutalität hinzu. Die DDR war nie und nimmer überlebensfähig. Noch liefen zu viele unbedarfte Ideologen und ergebene Eiferer kritiklos dem Regime hinterher oder trauten sich nicht, aus ihrer eigenen Anonymität herauszutreten. Eine Nation kann man nur gewaltsam teilen, sie wird sich aber immer wieder finden. – Von Heinrich Heine werde ich nach wie vor „bewegt“. Immer und überall missbrauchen noch heute die kleinmütigen Revoluzzer den großen Heinrich Heine, wenn sie Deutschland kritisieren oder das Vaterland verteufeln mit den Versen:

„Denk’ ich an Deutschland in der Nacht,
            Dann bin ich um den Schlaf gebracht.“

Sie kennen diese wunderbaren Zeilen nicht. Bis zu den „restlichen“ Strophen sind sie meistens nie vorgedrungen, wir sind halt doch nur eine halbgebildete Nation der ersten Strophe. In der sechsten heißt es:

„Deutschland ist ein kerngesundes Land,
            Es hat ewigen Bestand,
            Mit seinen Eichen, seinen Linden,
            Werd’ ich es immer wiederfinden.“

Trotz aller Kritik an Deutschland und seinen Missständen steht Heine zu seinem Vaterland und verteidigt es, weil es stärker ist als die gegenwärtigen Herrscher.

Nun bereitete sich das langsame Sterben des deutschen Teilstaates DDR eigendynamisch vor. Darüber musste man nicht grübeln, schon gar nicht philosophieren. Das System hatte unheilbare verkrebste Wunden. Nur der Zeitraum stand noch in den Sternen. Der bequeme Deutsche rebelliert nicht gerne, er arrangiert sich lieber. Schon Napoléon soll gesagt haben:

„Keine Lüge kann grob genug ersonnen werden,
die Deutschen glauben sie.“

Über die DDR-Blamage hatte ich mich unbändig gefreut. Sorge stieg auf, wenn man an neue repressive Maßnahmen gegen Andersdenkende dachte, vor allem in der Kulturszene. Bekannte Künstler und Kulturpolitiker hatte man in der Folge geschasst oder ausgebürgert. Für viele war dieser SED-Politskandal sogar die Hoffnung für den Niedergang. Eigentlich war ich wegen der Häme gegen die DDR für diese klare „parteiliche“ Haltung dankbar. Meine kritische Loyalität war längst in Feindschaft umgeschlagen. Das Verhalten von Politikern und Künstlerin zu oder gegen Biermann solidarisierte oder trennte. Die Spreu schied sich vom Weizen in der Künstler- und Dissidentenbewegung. Die Gedanken bekamen Flügel. Fortan sortierte ich meine „DDR-Kulturinteressen“. Die DDR-Distanz prägte immer mehr, die letzte Hypothek war verspielt.

Dass Biermann im vereinten Deutschland – wenn auch spät – rehabilitiert wurde, ist heute Genugtuung: 2007 erhielt er die Ehrenbürgerrechte der deutschen Hauptstadt Berlin, 2008 die Diplom-Urkunde für seine 1963 verteidigte Diplom-Arbeit und die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität.

Wurde ich aus meinem Umfeld verpetzt? Es war bekannt, dass ich Biermanns Gedichte und Songs las und sie auch sammelte. Mit linientreuen Argumenten konnte ich mich herauswinden, auch wenn mich das später wegen der Heuchelei entsetzte. Scham stieg in mir auf. Auch das ist Verrat. Es ist Verrat am eigenen Gewissen.

Die beiden Staatssicherheitsoffiziere handelten das Kapitel schnell ab, die Genossen hatten dazu vermutlich noch keine eindeutigen Instruktionen von „oben“. Es wurde immer nur gehandelt, wenn das „Oben“ forderte, also die SED. Zum Glück kam fünfzehn Jahre später zur „Kerzenlichtrevolution“ nicht viel von „oben“, da waren die bewaffneten Organe und die befehlsgebende SED nicht nur irritiert, sondern auch paralysiert. Vielleicht wusste auch der eine oder andere Tschekist 1976 nicht, wer Biermann war. Diesen Typen traute ich nicht viel zu, einigen auch gar nichts. Vielleicht gab es auch den einen oder anderen Stasigetreuen, der nicht Westfernsehen schaute und somit auch nicht viel von Biermann wissen konnte. Geistig arm waren diese Gestalten so oder so.

Und dann hieß es im Abschlussbericht: „Als zweites Hauptproblem wurde in der Aussprache das ungesetzliche Verlassen der DDR durch die Familie Materne angeschnitten.“ (Einer meiner späteren Buchautoren aus Suhl berichtete in einem nicht von mir verlegten Buch über die „Flucht“ der Familie Materne. Goethe hätte den Text sicherlich unter „Dichtung und Wahrheit“ abgelegt) Die Genossen hatten längst herausgefunden, dass ich wenige Tage vor der „Flucht“ in der Wohnung der Familie M. war. Es wurde spontan gefeiert. Und es gab Napoléon, einen einfachen West-Weinbrand, der zumindest das Cognac-Flair verbreitete, auch wenn er kein echter war, und damals im Intershop genau DM 5,00 kostete. Das bekamen die „Langohren“ vermutlich nicht mit, wohl aber, dass ich junge Buntbarsche in einem kleinen Vollglasaquarium „während des Materne-Urlaubs“ nach Bulgarien in der Rosa-Luxemburg-Straße 26 in Pension nahm. Letztlich blieben sie dauerhaft, bis dass ihr Tod sie von mir schied. Die Stasi wusste, dass ich die Aquaristik-Bücher, die mir Materne schenken wollte, ablehnte, die hatte ich als ehemaliger Aquarianer selbst.

Das vermerkten die beiden Offiziere auch ganz sorgfältig in ihrem Protokoll. Das war im Nachhinein günstig, und ich konnte dagegenhalten, dass ich nichts, rein gar nichts wusste. Sie mussten beweisen, nicht ich. So wäre mir auch nicht „aufgefallen“, dass einige Gegenstände aus Maternes Wohnung fehlten. Denn selbst, wenn W. M. nach drüben „geschickt“ worden wäre, ist bei allem konspirativen Handeln der Kreisdienststelle zu bezweifeln, dass die bedeutungslosen Aufklärer hinterm Rennsteig und vor der Staatsgrenze von einer höheren Dienststelle darauf angesetzt wurden, herauszufinden, ob überhaupt jemand Verdacht schöpfte. Bei einem Geheimdienst ist es üblich, dass der eine nicht weiß, was der andere macht. Soviel Blödheit traute ich selbst dem DDR-Geheimdienst nicht zu, dass sie ihr Wissen in allen möglichen Dienststellen verbreiteten. Vermutlich wussten nur höhere Dienststellen davon. Vielleicht wollten sie auch nur testen, ob die Quellen dicht waren, um zu beweisen, dass die Insider die Flucht als eine echte ansehen und er nicht „Gesandter“ der Stasi ist. Gerüchte gab es nämlich in alle Richtungen. Dazu äußerte ich mich aber nicht, nur die Wahrheit hat Bestand. W. M. hatte mich nicht verpfiffen, denn oft genug hatte ich in seinem Beisein die DDR und das System verspottet und verflucht. Vielleicht war es auch so gewollt. – Eigenartig war schon, dass sein Schwiegervater K. als stolzer Kampfgruppenkommandeur der „Schraube“ anschließend nie mehr traurig durch Hildburghausen lief. Nun hatte der geruhsame Genosse Kämpfer von heute auf morgen auch „Westverwandtschaft“. Ob der „Bürgerkriegskämpfer“ im Ernstfall geschossen hätte? Sein Gegner, wenn er überhaupt einen gefunden hätte, der sich diesen Mann mit dem freundlichen Habitus als Feind „aussucht“, wäre schneller gewesen. Und seinen Posten verließ er in Ehren. Die Genossen brachten – wie immer – ihr (einziges) angeblich wissenschaftliches Weltbild wieder in Ordnung, nämlich das marxistisch-leninistische. Also, die oft in der DDR angewandte „Sippenhaft“ gab es in diesem „Fluchtfall“ nicht. Der Fall glich einer einzigartigen Metamorphose. Selbst Darwin hätte vermutlich keine wissenschaftlichen Erklärungen dafür gefunden!

Unterzeichnet wurde der „Aussprachebericht“ vom 23.11.1976 mit
Boßecker
                                   Leutnant

Am 25. November, also zwei Tage später, gab es den „A b s c h l u ß b e r i c h t   zur operativen Sicherheitsüberprüfung   S a l i e r , Hans-Jürgen“ der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit Hildburghausen (Immerhin acht Seiten mit Daten sowie stimmigen und unstimmigen Fakten und Ungereimten aus meinem Leben. Die Fantasie beflügelte zuweilen auch „Tschekisten an der Unsichtbaren Front“. Sie waren bekanntlich 25 Stunden am Tag im Einsatz, die einstündige Mittagspause mitgerechnet, um den Weltfrieden zu sichern und die Feinde der friedlichen Menschheit aufzuklären und zu vernichten, koste es, was es wolle.
Zum Schluss heißt es im Aussprachebericht zur Person „Salier, Hans-Jürgen“, und dieser Standardsatz findet sich wiederholt in meinen Stasi-Unterlagen:

„Die operative Sicherheitsüberprüfung wird abgeschlossen.

Einkategorisierung:

III 7 – 1 :         Person, die auf Grund ihrer gesellschaftlichen

Stellung, ihrer Tätigkeit bzw. Kontakte im Blickfeld
des Feindes steht und deren Mißbrauch,
Ausnutzung oder Einbeziehung durch den Feind
möglich ist und damit eine Gefährdung der inneren
Sicherheit und Ordnung eintreten kann.

Boßecker
Leutnant

Unter diesen „Abschlußbericht“ vermerkte der Arbeitsgruppenleiter, Oberleutnant Litsche, handschriftlich in einer Stellungnahme zur Einstellung der op. Sicherheitsüberprüfung: „Das Ziel der op. SÜ wurde erreicht. Durch die Vielzahl der postalischen Kontakte auf dem Gebiet der Philatelie konnte allerdings der Charakter pers. Verbindungen nicht eindeutig aufgeklärt werden. In der Aussprache mit S. am 17.11.76, bei der eine op. Nutzbarkeit geprüft werden sollte, zeigte sich, daß S. zwar eine hohe Informationsbereitschaft dokumentierte, aber in letzter Konsequenz in geschickter Art und Weise eine Bereitschaft zur inoffiziellen Zusammenarbeit umging ...“

Zu diesem souveränen Staat DDR fällt mir an dieser Stelle nur ein Kommentar ein, den ich dem großen Voltaire überlasse, der 1778, wenige Monate vor dem Ausbruch der die Welt verändernden Französischen Revolution schrieb: „In manchen Ländern hat man angestrebt, dass es einem Bürger nicht gestattet ist, die Gegend, in der er zufällig geboren ist, zu verlassen. Der Sinn dieses Gesetzes liegt auf der Hand: Dieses Land ist so schlecht regiert und wird so schlecht regiert, dass wir jedem verbieten, es so zu verlassen, weil es sonst die ganze Bevölkerung verlassen würde.“

Die nächsten dreizehn Jahre begegneten sich der Genosse Litsche und ich oft in den Straßen Hildburghausens. Wir grüßten uns verhalten freundlich. Genosse L. las sicherlich noch einige Observierungsberichte über mich. Die Aktenlage ergibt, dass nicht alles den Verbrennungs- und Schredderaktionen der Stasi in den Herbsttagen 1989 zum Opfer fiel. Berichte, Karteikarten, Notizblätter, Exzerpte, Fotos, Dia-Kopien, kopierte Briefe (in einer Zeit, als es eigentlich in der DDR nur ganz wenige Kopierer aus dem Westen gab) blieben erhalten. Vielleicht las er auch in der Presse über meine Leistungen und wollte auch dorthin, wo meine Sammlungen ausgestellt wurden. Den Eigentümer und Gestalter der Sammlungen ließ man aus DDR-fürsorglichen Gründen nicht ins kapitalistische oder imperialistische Feindesland. Oder er hörte und sah ab und an im DDR-Rundfunk und im Fernsehen vom Observierten. L. war immer beschäftigt. Und wenn er dann noch die vielen Bücher liest, die ich später produziert oder geschrieben habe, in der die DDR, die SED und die Staatssicherheit nicht gerade sanft behandelt werden, könnte er sich mit einem gemeinsamen Schulkameraden Norbert B., nein, ein Kamerad war er wahrlich nicht, der in Leipzig als Staatsanwalt in den Diensten des MfS schlimme politische Terrorurteile fällte, darüber beraten, wie viele Jahre oder Jahrzehnte ich absitzen müsste, damit wieder „sozialistische Gerechtigkeit in Deutschland“ im Sinne dieser Juristen mit Diplom aus Potsdam-Eiche, also von der juristischen Stasi-Hochschule, herrscht. Aber diesen Gedanken verbanne ich ins Reich der Spekulation, deshalb mögen mich auch viele DDR-Nostalgiker heutzutage nicht. Das freut mich, da bin ich Zeit meines Lebens unbelehrbar!

 

Private Gedanken nach dem nochmaligen Lesen

In den Folgejahren hatte ich nie wieder „offiziellen Kontakt“ zu Litsche und Bosecker. Heute würde ich sie vielleicht nicht wieder erkennen oder sie nicht wieder erkennen wollen. Für mich sind diese Leute gestorben, auch wenn sie nach Aktenlage weiterhin ein sehr „enges geheimes Verhältnis“ zu mir „pflegten“. Das waren noch nicht einmal Nullen, sondern sie waren und sind ein Nichts. Das kann ich ohne Verbitterung sagen. Noch nicht mal anspucken würde ich sie, denn solche Menschen verdienen nicht, angespuckt zu werden. Sie fühlen sich vermutlich heute wohl oder auch politisch ungerecht behandelt – diese verblendeten und ideologisch getrimmten Herrenmenschen – wie „Liktoren“ mit umgekehrten Vorzeichen, zwar nicht wie in Rom den Liktorenbündel als Diener der Obrigkeit voraus tragend, vielleicht aber mit Bleistift, Notizzettel und Wanze hinter den Delinquenten herlaufend, um ihn als Feind dieses ersten deutschen Friedensstaates zu enttarnen und festzunageln. Diese Liktoren waren nicht die Tat ihrer Gedanken, wie es Heine formulierte. Aus meiner Sicht waren diese verkommenen Typen Sklaven einer menschenfeindlichen Ideologie. – Wenn jemand der Leser sie kennt, darf er ohne Urheberrechtsverletzung diese Zeilen kopieren und sie ihnen geben. Eine ganz besondere Freude wäre es, wenn es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen käme. Von diesen Typen kenne ich genügend in Hildburghausen und es wird auch nicht von mir verheimlicht. – Teilweise nutzen diese Menschenverräter heute an wichtigen Stellen die demokratischen Regeln, um ihre asozialen Spielchen weiter zu spielen. Ihr Verhalten war und ist asozial. Eine Vielzahl an Notizzetteln und Berichten fand sich in meiner Stasiakte. Viele Dinge, notiert oder mit der Abteilung M (Postkontrolle) ausgeforscht, hätten sich erübrigt, wenn diese Typen etwas mehr Intelligenz besessen hätten. Sie gaben sich aus der Sicht des Systems Mühe. Sie standen unter Erfolgsdruck. Wie oft haben diese Verblendeten vieles in ihren Berichten Geschriebene selbst nicht verstanden, falsch interpretiert aus ihrem eingeengten und simplen Tunnelblick gesehen und insgesamt ein nutzloses Leben gelebt. Das konnte für einen Ausgeforschten sehr gefährlich werden.
Aber auch die Observierer standen unter ständiger Kontrolle: Sie waren Jäger und Gejagte zugleich in einem System, das sie abgöttisch liebten und verteidigten, aber ansonsten am liebsten Westzigaretten rauchten und Westkognak tranken, natürlich dabei immer auf das Wohl der DDR. Menschenverachtende Diktaturen leben von diesen Ideologen. Mein Gott, wie reich war dieser Staat DDR, um Zehntausende solcher Kleingeister und Dumpfbacken zu beschäftigen und teils fürstlich mit einem schäbigen Judaslohn zu löhnen. Da konnte es ja keine Arbeitslosen geben. Heute fordern diese System-Helden sogar höhere Renten und mehr Rechte, die sie im freiheitlichen Rechtsstaat schamlos ausnutzen. Hinter sich haben sie genügend an der Stasihochschule ausgebildete Juristen. Sie tummeln sich frei im Internet, haben ihre Websites, ihre Organisationen wie ISOR, pflastern die Leserbriefseiten der Zeitungen mit ihren hirnrissigen Gesellschaftsmodellen zu oder kommentieren mit ihrer reaktionären Ideologie, treten in Wahlkämpfen mit solchen Schlagwörtern an wie: „Original sozial“, „Reichtum für alle“, „Arbeit für alle“, verlegen ihr versprühtes Gift in schlimmen Büchern, die dem Volk teilweise gefallen, kokettieren mit den Kirchen als moralischen Instanzen. Das Gift der Ideologisierung der DDR-Gesellschaft hat Langzeitwirkung und vergiftet weiter. Sie wollen sich nicht eingestehen, dass sie den falschen Götzen hinterher liefen und winden sich bei jeder Diskussion mit einem „Aber“ mit gebastelten Argumenten heraus. – Nein, ein Betonkopf bin ich nicht! Wut und Scham kommt über mich, wenn die Demokratie von rechts und links missbraucht und systematisch demontiert wird. Und wenn ich die selbstgefälligen und den Wählerinteressen hinterher hechelnden Parteien aus Deutschlands Mitte und manche Parteieinbündnisse, die sich Koalitionen nennen, sehe, schwant mir nichts Gutes. DieNationale Front lässt grüßen!

Wie hatte ich in vertrauten Runden in DDR-Zeiten oft gesagt: „Wir haben mehr Arbeitslose als der Westen“: Die überzähligen aus den „bewaffneten Organen“, die Funktionäre der Parteien und Massenorganisationen, die Hauptamtlichen der Stasi und Hunderttausende Spitzel, die Wettbewerbsauswerter für tausend Dinge bis hin zum ÖKULEI, die Wand- und Betriebszeitungsredakteure, Instrukteure, Parteibeauftragte und sonstige nutzlose Berufsgruppen sowie die Zeit der sinnlos verbrachten Rotlichtbestrahlungen und Sitzungen ... Ein Staat verheizt einen Teil seines „intellektuellen Reichtums“ mit irrationalen Denkansätzen, andere fliehen in den Westen oder lassen sich später freikaufen ...
Aber so ist es, wenn kleine Leute an die Macht kommen. Aber neige ich zur Arroganz, wie die Stasi an anderer Stelle festgestellt hat. Ein Oberstleutnant in Suhl war es, den ich vermutlich nie in meinem Leben gesehen hatte, der diesen Satz diktierte. Aber der lebte nun wieder von seinen Informanten. Die Menschen in der DDR hatten schon ein seltsames Zusammengehörigkeitsgefühl. Das ist vermutlich die enge menschliche Nähe, der sich heute die linken Hetzer wieder bedienen, die Solidarität der Dummheit. Mit solchen Menschen pflege ich keinen Umgang. In einem siebenseitigen Bericht stellte der Genosse Oberstleutnant über mich fest:
„Sein Verhalten wirkt etwas überheblich und arrogant.“
(Anmerkung: Die Genossen unterscheiden selbst diese sinnverwandten Wörter [Synonyme] nicht, beide bedeuten eigentlich „anmaßend“, aber die Stasi kann nicht alles wissen, vor allem nicht in der deutschen Sprache.) Dagegen las ich auf einer Seite ein spätes Lob, das sich allerdings in der verflossenen Zeit in der DDR nicht in Beförderung, Prämien und einem FDGB-Urlaubsplatz niederschlug. Da steht:
Seine fachliche Tätigkeit wird als gut bis sehr gut eingeschätzt. Seine Unterrichtsmethodik hat Erfolg. Zudem zeichnet ihn ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis aus. Bis zur 8. Klasse ist er in allen Fächern einsetzbar und hilft auch oft für andere Kollegen aus.“

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Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen Salier
Eigentlich nicht erwähnenswert ...

Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung

 


Sommerurlaub 1978

Wehrdienst im „zarten Alter“ von 34 Jahren

(Geschrieben vom 20. August bis 14. September 2011)

Der Monat Juli 1978 hatte es in sich, nicht weil es bis dato ein nur „gefühlter“ verregneter Sommer, vielleicht aber auch nur ein warmer Winter war, sondern, weil der Sommerurlaub auf „höheren Befehl“ ausfiel.

Gemeinsam hatte sich die Familie auf einen Urlaub an der Ostsee, auf dem Darß, gefreut. Erlebnis Meer, Schwimmen und Sandburgen bauen. Ein anstrengendes Schuljahr war zu Ende gegangen. Meine 10. Klasse war gerade entlassen worden. Zudem hatte die Sanierung der AWG-Wohnung begonnen. Weitestgehend auf eigene Rechnung wurden Nachtspeicheröfen in die AWG-Wohnung eingebaut. Die stinkende Braunkohleheizung mit „Lausitzer Mutterboden“ war endlich vorbei.

Als ungedienter Reservist wurde ich zur Nationalen Volksarmee einberufen. Das Wehrkreiskommando hatte mich demnach nicht vergessen. Seit Einführung der Wehrpflicht 1962 hatte ich es geschafft, die angebliche staatsbürgerliche Ehrenpflicht abzuwehren oder zu verdrängen: Unabkömmlich war ich, Atteste wurden geschrieben oder ich absolvierte ein Hochschulfernstudium. Vielleicht brauchte man mich bis dato nicht zur Friedenssicherung, ich war bereits in die Jahre gekommen.

Weit weg von der Familie wurden die Rekruten kaserniert. Die meist über Dreißigjährigen mussten in den damals relativ modernen Kasernenkomplex der niedersorbischen Doppelstadt Doberlug-Kirchhain (Dobrjoług-Góstkow) im heutigen Landkreis Elbe-Elster einrücken. Kein erträumtes, aber reales Ziel: das Eisenbahnpionier-Ausbildungsregiment 2 (EPiAR-2). Die in der dortigen Kernstadt lebenden Bürger, wenn sie selbst nicht Uniformträger waren, wurden von der „Landesverteidigung“ dominiert. Kaum einer der Bewohner, der nicht mit der Armee zu tun hatte, als Aktiver, als Zivilangestellter, als Händler ... In dem friedlichen und gleichzeitig waffenstarrenden Städtchen, etwas kleiner als Hildburghausen, müssen weitere militärische Standorte genannt werden: das Technische Versorgungslager 34 des Kommandos Landstreitkräfte/Landesverteidigung, das Ausbildungsregiment MTW 13 „Erwin Kramer“ (Kommando Militärbezirk III) sowie die Instandsetzungsbasis für Bewaffnung 2 (IBastBew-2 [IBB-2]).

Schon vor dem Einrücken machte der Satz von einer Krankheit die Runde: „Dort bekommst du die ‚Sakima’“, die „Sand-Kiefern-Macke“. Am Ende der Welt lag das ansonsten beschauliche Städtchen aber nicht und eine Macke bekam ich auch nicht. Schmollen war nicht angesagt. Grübeln, wie man die Zeit übersteht, brachte keine Lösung, eher Kopfschmerzen. Ein probates Mittel ist immer, sich in die Arbeit zu stürzen.

In der Ausbildungskompanie hatte es sich zum Ende der Grundausbildung herumgesprochen, dass die Stabs- und Truppenoffiziere immer wieder aus der Hochschulkompanie Leute herauszogen, die sie für ihre Einheiten benötigten. Viele Berufe waren vertreten: Diplom-Ingenieure unterschiedlichster Bereiche, Ärzte, Apotheker, Wirtschaftsfachleute, Dolmetscher, Lehrer, Sporttrainer und Dozenten, Künstler und sogar ein Mannschaftsweltmeister (1966) und Bronzemedaillengewinner im Sportschießen bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München, Werner Lippoldt, auch der nachmalige Co-Handball-Nationaltrainer und Trainer des HSV Suhl, Gunter Funk, später HC Empor Rostock, mussten sich ohne Privilegien namenlos einreihen. Zu ihnen hatte ich auch nach der Militärzeit noch Kontakte. Einige Soldaten konnte ich bei meiner späteren Tätigkeit „vermitteln“. Dem wurde aber bald Einhalt geboten, weil die Kompanie stärkemäßig schrumpfte und erheblich unter die Sollstärke geriet.

Zum Morgenappell im Feldlager kam ein knapp Dreißigjähriger mehr als zweieinhalb Zentner wiegende und oft im Schnauzton auftretende Kompaniechef, ein Oberleutnant, und fragte befehlend: „Wer kann Schreibmaschine schreiben?“ „Ich, Genosse Oberleutnant!“ rief ich aus der Reihe heraus. Ohne dass er „Können oder Nichtkönnen“ prüfte, wurde ich in den Stab abkommandiert. Oberleutnant Franz mit seinem rosigen Gesicht schaute sehr zufrieden, konnte er doch einen Auftrag schnell erfüllen. Das war sein Erfolgserlebnis. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis ich meinen „Marschbefehl“ erhielt. Von meinen „Zeltkameraden“ konnte ich mich im Feldlager nur flüchtig verabschieden. Einige waren neidisch, denn bei dem Drill hatte man den Kameraden eine Portion Persönlichkeit ausgetrieben.

Bereits seit April 1978, längst vor dem Bekanntwerden der Einberufung, hatte ich mit meiner linken Schulter Probleme. Nach einer nicht erkannten und unbehandelten kleinen Knochenabsprengung hatte ich im Schulterbereich große Schmerzen. Den Arm konnte ich nur eingeschränkt bewegen. Selbst der Musterungsarzt, der ihm privat sehr vertraute Gerhard Prediger aus Heldburg, konnte beim Wehrkreiskommando keine Rückstellung der Einberufung erwirken. Bei der Musterung spendierte er mir eine Zigarette der Marke „Orient“, die teuerste filterlose Sorte der DDR, im Ovalformat und mit goldenfarbenem Papier-Mundstück. Wir rauchten, schimpften und kamen zu keinem brauchbaren Ergebnis. Wer einmal in die Mühle geriet, kam schwerlich wieder heraus. Vom Arzt, einem Diplom-Mediziner der Poliklinik Hildburghausen sollte ich, wie später bestätigt wurde, mit Überdosen „gesund gespritzt“ werden. Die Sprechstundenschwester warnte deutlich, nachdem ich einmal in die Knie ging, es dürfe nur einmal in der Woche gespritzt werden. Dreimal pro Woche musste ich mich dem Prozedere beugen. Eine lange Kanüle wurde unter das Schulterblatt gesetzt. Selbst ein Freund aus Kindheitstagen aus dem Nachbarhaus, inzwischen Chef einer Polizeiklinik, konnte nichts ausrichten. Die Grundausbildung im Feldlager überstand ich mit „Faustan“. Das Schlafdefizit war groß.

Es folgten wenige Tage der Einarbeitung für die neuen Tätigkeitsbereiche in der Geschäftsstelle sowie im Vorzimmer des Kommandeurs. Mit Korrektheit gelang die schnelle Einordnung in die mir sehr wesensfremde Militär-Gesellschaft. Und ich wurde akzeptiert. Die Geschäftsstellen-Leiterin, Ehefrau eines Oberstleutnants, der in einem anderen Regiment diente, wies mich in die fachlichen Aufgaben ein. Sie trat dann unbesorgt ihren Jahresurlaub an. Auch den Soldaten gegenüber herrschte im Stab eine nicht erwartete faire Atmosphäre. Den ungedienten Soldaten im Truppendienst erging es meist anders, die jungen Offiziere drängten nach Erfolg und Karriere.

Ein vorwiegend in Zivil auftretender und von den Offizieren nicht sonderlich geliebter Hauptmann, der regelmäßig vormittags das Ausgangsbuch und die Urlaubsscheine der Stabsoffiziere kontrollierte und den Posteingang „überflog“, war   d e r   Mann der berüchtigten Verwaltung 2000, der MfS-Militärabwehr. Der damals noch eng begrenzte Standorturlaub, also letztlich die Freizeit nach Dienstschluss oder am Wochenende, hatte es ihm besonders angetan. Vor einer gewissen Liberalisierung bei der NVA herrschte auch den Offizieren gegenüber eine kaum zu begreifende Härte, die nicht viel Souveränität des Staates spüren ließ, höchstens vom Einfluss des permanenten, von den Sowjets übernommenen Misstrauens. Diese Ghettosituation mit ihren in nahezu alle Bereiche die Freiheit des Menschen eingreifenden Regularien zeigte, dass Vertrauen bei der Nationalen Volksarmee ein Fremdwort war.

Mit dem Urlaubs- und Ausgangsbuch konnte der Mann der Verwaltung 2000 die Offiziere auch über die Wochenenden stillschweigend fest an der Leine halten, kontrollieren und disziplinieren. Für ihn waren die Orte, die sie in das Ausgangs- und in das Urlaubsbuch eintrugen, interessant, um dann herauszufinden, wo sie sich tatsächlich aufhielten. Auch Offiziere überschritten gerne ihre Dienstbefugnisse. Selbst hatte er keine „Auseinandersetzungen“ zu führen und zu fürchten. Die Hände machte er sich wohl kaum schmutzig. Er wusste von nichts. Ein Geheimdienstmann scheut bekanntlich die Öffentlichkeit. Korrekt und höflich trat er auf, emotionale Gefühlsregungen waren ihm fremd. Auch in Zivilkleidung war er „uniformiert“. Manche Menschen umgibt eine schwer beschreibbare Aura. Zur Vereidigung der ungedienten Reservisten sah ich ihn in der Uniform unserer Waffengattung, auch wenn er von einem anderen Ministerium bezahlt wurde. Dem Kommandeur war er disziplinarisch nicht unterstellt. Informationen von drei Militärs konnte er nur auf indirekte Weise abschöpfen: vom Kommandeur und seinen beiden Stellvertretern. – Der „zivile Hauptmann“ war vor Ort sein eigener Herr. Hochrangige Offiziere grüßten ihn oft zuerst, vermutlich nicht nur aus Freundlichkeit. Gespräche mit ihm suchte man nicht. Sehr viel Besprechenswertes gab es kaum in diesem abgeschotteten Terrain. Man sah sich spätestens am Abend oder am Wochenende im Wohngebiet, hier wohnten die Uniformträger. Regelmäßig befragten mich einige Offiziere, was „er“ alles wissen wollte, Name und Dienstgrad wurden nie genannt. Für meine Offenheit spürte ich Dankbarkeit.

Der Postausgang interessierte die Verwaltung 2000 nicht sonderlich. Das war Schnüffelangelegenheit einer anderen Stasieinheit, die nicht im Objekt saß. Weiteres war dem Hauptmann ziemlich egal, zumindest nach außen hin. Er blieb unauffällig grau unter den grauen Erscheinungen, dagegen waren die nicht so besonders beliebten Politoffiziere zahme Salonlöwen, die Schwätzer des Regiments, die im Stab kaum auffielen und nicht an die Stabsoffiziere mit ihrer meist technischen Hochschulausbildung heranreichen konnten.

Weil ich seinerzeit schon eine Menge über die Postkontrolle des Geheimdienstes (Abteilung M) wusste, gab ich einen Teil meiner umfangreichen Privatpost außerhalb des militärischen Objektes auf, teils unter anderem Absender. Ein Freund im Med.-Punkt tat ein Übriges und nahm meine Briefe nach draußen mit, oft nach Cottbus. Dort gab es genügend Briefkästen. Meine Handschrift verriet mich nicht, konnte ich doch fünf Schreibmaschinen in den beiden Büros nutzen, auch die Maschine des Kommandeurs. In den Unterlagen der Birthler-Behörde befand sich nicht ein Schriftstück aus der Zeit in Doberlug-Kirchhain, vermutlich weil ich besonders vorsichtig war. In den Dienstzimmern saß ich – bis auf die Einarbeitungszeit – meist alleine. Da fiel auch genügend Zeit ab, um an einem postgeschichtlichen Manuskript zu arbeiten. Mein ständig unaufgeräumter Spind mit reichlich Fachliteratur stand nie im Visier und in der Kritik eifriger Feldwebel oder Leutnants, um die militärische Disziplin und Ordnung durchzusetzen oder aus triebhafter Lust, einen Untergebenen zu disziplinieren, zumal die Soldaten dieses Regiments meist ein höheres Alter und eine akademische Ausbildung im Gegensatz ihrer meisten Vorgesetzten hatten. Wenn das Bett nicht hundertprozentig exakt „gebaut“ war, erledigte das ein Unteroffizier kommentarlos. Er wollte mit seiner Stube glänzen, im Gegensatz zu mir. Alle Dinge des militärischen Pflichtlebens wie Frühsport, Appell, Belehrungen, Drill, agitatorische „Rotlichtbestrahlungen“ oder die übliche Menschenbehandlung gab es für mich in der „Stabszeit“ nur hin und wieder, denn ich gehörte nicht zur Einheit „meiner Genossen“ auf der Stube. Nüchtern betrachtet: Ich war da, wurde auch wahrgenommen, passte aber nirgendwo ins Schema. Da ich die individuelle Freiheit liebe, war das für mein „Seelenleben“ der notwendige Ausgleich.

Einmal musste ich vor Soldaten einen zwanzigminütigen Vortrag zur Aggressionsbereitschaft des Weltimperialismus halten. Dafür bekam ich einen Tag Vorbereitungszeit. Den nutzte ich als Gammeltag, denn die Soldaten waren reichlich anspruchslos, sie dachten sich ihren Teil bei der gebetsmühlenhaften Agitation, die vielleicht auch für eine FDJ-Versammlung Vierzehnjähriger reichte. Einen Hauptmann gab es noch, der immer mal Interessantes durchblicken ließ, auch dass er schon mal einen höheren Dienstgrad trug und degradiert wurde. Es wurde gemunkelt, dass er im „internationalen“ Einsatz als Ranger gewesen war, die es offiziell nicht in der friedliebenden DDR gab. Längst war aber durchgesickert, dass bewaffnete DDR-Kräfte an so genannten Stellvertreterkriegen nicht nur als Berater teilnahmen. Sie kämpften und fielen auch, wie inzwischen nachgewiesen wurde. Vermutungen gab es viele. Aus irgendwelchen Gründen landete der smarte Hauptmann wieder im Truppendienst in der DDR. Die Wehmut sah man ihm an. Der Politunterricht war höchst interessant und nachdenkenswert. Manches musste man wie bei Neues Deutschland um 180 Grad drehen, dann waren die Inhalte erschließbar. Ein „gelernter DDR-Bürger“ konnte im Gehirn solche Geistesdrehungen gut „organisieren“. In der Ausbildungskompanie waren auch systembeflissene Gewerkschafts- und Parteifunktionäre, die immer im Sinne der Partei funktionierten. Für sie war die „politische Schulung“ auch im Privatleben Alltagsgeschäft. Lebenselexier war: „Unsere tägliche Agitation gib uns heute.“ Das ging ihnen leicht von der Zunge. Für diesen kommunistischen Nonsens wurden sie im Privatleben für DDR-Verhältnisse tagtäglich gut bezahlt, hatten meist die Bezirksparteischule oder noch mehr hinter sich gebracht. In ihrem nicht gekannten Eifer versuchten sie, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Um ihre Weltläufigkeit zu demonstrieren oder sich beim Fußvolk beliebt zu machen, ließen sie dann immer noch einen kleinen Knaller aus dem kommunistischen Innenleben oder einen angeblichen politischen Witz in die unteren Luftschichten starten. Ihre Erbärmlichkeit als denkende Wesen begriffen sie nie, selbst ein Vierteljahrhundert nach der Friedlichen Revolution nicht. Das waren und sind die Individuen, die mit einigen hundert phrasenhaften Sätzen und eingeübten Riten ein ganzes Menschenleben zufrieden bestreiten konnten und dafür auch reichlich entlohnt wurden.

Ein schmalbrüstiger eifriger Gewerkschaftsfunktionär mit dicker Brille aus Jena, der auch noch Arzt hieß, blieb mir da in gruseliger Erinnerung. Über den verinnerlichten Marxismus-Leninismus hatten sich diese Salon-Genossen vermutlich nie ausreichend Gedanken gemacht, dieses Quentchen Intelligenz fehlte Ihnen oder war ihnen bei guter Bezahlung abhanden gekommen. Wie in den Märchen der Brüder Grimm: Die Logik bestand im Polarisieren, Zwischentöne gab es für die beschlipsten Klassenkämpfer und ihr „wissenschaftliches Weltbild“ nicht. Die Sorte Ideologen hat sich nach 1990 erfolgreich in die Marktwirtschaft einbringen können, nicht nur im Versicherungswesen. Sie waren damals schon mit „allen Wassern gewaschen“ und konnten alles, verstanden die Gesetze der sozialen Marktwirtschaft sehr schnell und verschanzten sich hinter dem Schutzschild der Demokratie. – Sie suchten auch uniformiert Anerkennung. Also übten sie sich im üblichen Parteieifer und verpflichteten sich für Weiteres, für Offizierslehrgänge, das war der Stoff der Kaderschmieden. Im „Schnitzen von Worthülsen“ kannten sie sich aus und formulierten in einem philosophisch hochgestochenen und druckreifen Dünnschiss. Der „Rest der Genossen“ – bei den „bewaffneten Organen“ gab es nur die Anredeform „Genosse“, egal ob Soldat oder Armeegeneral – musste sehen, wie er klar kam. In der DDR waren eben alle Menschen gleich, manche allerdings etwas gleicher. Man verstand sich und unterschied sehr genau, was man über sich ergehen lassen musste und was nicht.

Bis zum frühen Nachmittag gegen 14.00 Uhr saß ich alleine in der Geschäftsstelle, nachmittags bis ca. 17/18 Uhr, manchmal auch bis zum Zapfenstreich, als „Vorzimmersoldat“. Das Regiment stand vor der Übergabe an den neuen Kommandeur, an Oberstleutnant T. Der bisherige Kommandeur wurde nach Strausberg versetzt, hier war der Standort des Kommandos Landstreitkräfte/Landesverteidigung des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR. Es gab wochenlang Schreibarbeiten zu erledigen, Inventarlisten abzuarbeiten, Befehle zu schreiben, zu sortieren oder sie zu kassieren, also zu vernichten.

Merkwürdig: Die dem Arbeiter-und-Bauern-Staat und der Partei der Arbeiterklasse ergebenen Offiziere bekamen die Befehle mit teils höchster Geheimhaltungsstufe meist nur wenige Tage ausgehändigt. Sie mussten sie anschließend bei mir abliefern oder durften sie nur unter Aufsicht lesen. Diese Befehle wurden hinter Sicherheitsschlössern von mir verwahrt. Die Türen versiegelte ich mit einem Petschaft, den ich an meinem privaten Schlüsselbund trug. Unglaublich!

Ständig hatte ich auch Zugriff zu Befehlen vergangener Jahre und zu geheimen Unterlagen in den Panzerschränken. Unwichtiges Propagandamaterial, Partei-Krimskrams oder die hyperheiligen SED-Parteibücher aus Strausberg oder sonstwoher landeten unter höchster Geheimhaltungsstufe auf meinem Schreibtisch. Ungeahnte Zugriffmöglichkeiten hatte ich. Warum hatten wir eigentlich die Staatssicherheit und die Militärische Abwehr, wenn sich Systemgegner unkontrolliert bedienen durften? Im Ernstfall hätte es eines James Bond oder sonstiger Kunstfiguren überhaupt nicht bedurft. Das Kommando über das geheime Material führte teilweise der etwas ältere, militärisch und „politisch unbedarfte“ Soldat Hans-Jürgen Salier und noch nicht einmal aus der wertvollsten aller Klassen stammend, der Arbeiterklasse, und kein Genosse, sondern einer mit massenhaften Westverbindungen, noch nicht einmal ein Fuzzi, ein DDR-Gegner, wie die Stasi anderswo schon herausfand. Zwei Türen weiter saß die allmächtige Staatssicherheit, die ein ganzes Regiment in Atem hielt, nur nicht diesen HJS. Und der konnte fürwahr nichts für die Dummheiten der kommunistischen Gutmenschen. Ob dieser „groben Fahrlässigkeit“ muss man doch zumindest dem Wehrkreiskommando Hildburghausen, der Kreisdienststelle und der Bezirksverwaltung des MfS Unfähigkeit bescheinigen, gerade diese „bewaffneten Organe“, die sich so intensiv mit meinem Privatleben beschäftigten, die mich ausspähten, kategorisierten ..., hätten doch schon vorher „eingreifen“ müssen. Die Kommunikation in der „Firma“ funktionierte nicht, sie litt unter den Parkinsonschen Gesetzen. Wie sollte man das anders benennen, und die gefürchtete Verwaltung 2000 im Regiment? Wie blind oder blöd waren diese Vaterlandsverteidiger. Das grenzte doch schon an Verrat an der eigenen Doktrin, ihres eigenen Systems, dem sie knechtisch ergeben waren. Oder war das nur Indianerspielen beim Kindergeburtstag? – Ab dieser Zeit nahm ich gar nichts mehr ernst in der DDR, sie wurde für ihn immer deutlicher ein Koloss auf tönernen Füßen, mehr nicht. Oder war alles gar eine Schwejkiade? – Ach so, was ich unter den Parkinsonschen Gesetzen verstehe? Mit Parkinson ist nicht die neurologische Erkrankung gemeint, sondern die Parkinsonschen Gesetze sind ironisierende soziologische Darstellungen, die im Kern sagen, dass sich Arbeit genau in dem Maße ausdehnt, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht – und nicht in dem Maße, wie komplex sie tatsächlich ist. Der britische Historiker und Publizist Cyril Northcote Parkinson kritisierte damit die eigendynamische Entwicklung aufgeblähter bürokratischer Verwaltungen, die sich zunehmend mit sich selbst beschäftigen und letztlich wegen ihrer Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit mehr oder weniger chaotisch in sich zusammenbrechen. Aus meiner Sicht war nicht nur allein das System der Geheimpolizei der DDR unübersichtlich und nicht mehr beherrschbar, sondern der DDR war nicht mehr zu helfen. Zu korrigieren, geschweige zu reformieren war gar nichts, auch 1989 nicht. Der DDR-Sozialismus hatte bei den Menschen moralisch abgewirtschaftet, hatte sich selbst zerstört. So sprach ich in dem Zusammenhang gerne vom „Koloss auf tönernen Füßen“ (Nachzulesen in der Heiligen Schrift [Daniel 2,1 ff.]).

Das ist der Stoff, aus dem die Storys sind, die aber bei einer Verfilmung einen grandiosen Makel haben: Das glaubt kein Mensch! Selbst der Zeitung mit den vier großen Buchstaben könnte man das Thema nicht anbieten, die würden ungläubig kopfschüttelnd ablehnen. Logik sieht anders aus.

Bereits 1975 waren die GMS „Franz“, geführt von Genossen Boßecker, und GMS („Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit“) „Hartmut“ von Genossen Hildebrand auf mich angesetzt und Gen. Dö. [Dömming] von der Kreisdienststelle Hildburghausen des MfS entschied am 25.02.1977, und er wurde zum zweiten Male wie am 23. November 1976 mit dem stereotypen Satz „einsortiert“:

Abschlussentscheidung

Einkategorisierung:

III 7 – 1:          Person, die auf Grund ihrer gesellschaftlichen

Stellung, ihrer Tätigkeit bzw. Kontakte im Blickfeld

des Feindes steht und deren Mißbrauch, Ausnutzung der Einbeziehung durch den Feind möglich ist und damit eine Gefährdung der inneren Sicherheit und Ordnung eintreten kann.

((handschriftlich)) Dö/25.2.77

Übrigens, der Feind, den die Stasi hier gesehen hatte, die bösen Imperialisten, der Bundesnachrichtendienst (BND), die militärische Abwehr der NATO hatte natürlich diese einmalige Chance auch nicht erkannt, die waren vermutlich auch zu blöd. – Freiwillig hätte ich sowieso nicht mitgemacht. Mich beherrschte nur ein Sinnen und Trachten: Dieses Vierteljahr muss einigermaßen unbeschadet über die Runden gebracht werden, nicht mehr und nicht weniger.

Da ich in Doberlug-Kirchhain nach der Grundausbildung keiner Kompanie zugeordnet wurde und letztlich dem Stab zur Verfügung stand, stieg ich auch sehr schnell als ungedienter Reservist im „zarten Alter“ von 34 Jahren auf. Abhängige Tätigkeitszeiten hatte ich und konnte als Soldat nicht einfach so und auch noch alleine über den Kasernenhof laufen, ohne mich der Gefahr auszusetzen, von irgendeinem flaumbärtigen Unteroffizier oder Feldwebel verdonnert zu werden.

So geschah es auch. Ein etwa 1,65 m großer untergewichtiger Unterfeldwebel, dem Tabak und Alkohol im Leben schon kräftig zugesetzt hatten, schnauzte mich an und drohte mit der Arrestzelle, da ich auch nicht gerade dienstbeflissen und zurückhaltend war. Allerdings militärisch korrekt erwiderte ich: „Genosse Unterfeldwebel, nehmen Sie bitte Rücksprache mit dem Kommandeur, Genosse Oberstleutnant T. Mein Name ist Soldat Hans-Jürgen Salier. Gestatten Sie, dass ich wegtrete?“ Ohne militärische Grußerweisung lief ich in die eingeschlagene Richtung weiter. Der Unterfeldwebel guckte entgeistert, das war neu für ihn.

Major Stromowski handelte. Es wurde ein Befehl geschrieben, mich zum Unteroffizier zu befördern. Als „Vorzimmersoldat“ durfte ich den Befehl 96/78 auch noch selbst in die Maschine tippen, schön säuberlich mit einigen Durchschlägen. Ein solcher Dienstgrad, ohne sich für weitere Lehrgänge in der Nationalen Volksarmee zu empfehlen oder sich dafür zu verpflichten, das war seltsam. Aber der Oberstleutnant wusste vermutlich, warum er das tat. Die Regimentsübergabe war aufreibend, arbeitsintensiv, und zu viele Leute durften nicht in den Papierkram und die Strukturen eingeweiht werden. Er konnte sich auf mich verlassen, denn ich wollte in Freiheit leben, soweit das die DDR zuließ. In meinem Wehrdienstausweis ist dann auch die BWS, also die Verwendungsmöglichkeit, geändert worden. Eingerückt war er am „04.07.78“ als Soldat, in vorauseilendem Eifer hatte ein Schreiber den Dienstgrad Gefreiter eben unter die Befehlsnummer 96/78 geschrieben. Major Stromowski strich den Eintrag mit dem Vermerk „Fehleintragung“ und seinem Namenskürzel durch und vermerkte darunter „Uffz. d. Res. – Stromowski“ – 29.09.78.

Für den Telefonverkehr mit dem Generalstab in Strausberg hatte ich ein Codewort, mit dem ich mich exakt melden musste: „Indianer“ und eine wechselnde Zahlenkombination. Nach einem Klingelton reagierte ich in einem „humorvollen Anfall“ mit Indianergeheul, so wie es die Kinder in der Hildburghäuser Schlossgasse oder im Irrgarten spielten. – Der Gesprächsteilnehmer, ein Oberst, wie sich später herausstellte, grüßte mit Geheul zurück.

Mein Kommandeur, aus dem Gefühl heraus ein glaubwürdiger Militär und guter Ingenieur, der nicht viel von marxistisch-leninistischer Agitation hielt, aber doch etwas von militärischer Menschenführung und von den zu lösenden technischen Aufgaben verstand, sprach mich daraufhin sehr ernsthaft an und sagte grinsend: „Mensch, Langer, du beherrschst die Techniken der Konspiration!“ Ob da die Militärische Abwehr mitgehört hatte, weiß ich nicht, das Indianergeheul blieb ohne disziplinarische Folgen. Vielleicht hatte sie dieser unbedarfte Jux ebenso amüsiert.

Wochenmitte, etwa vierzehn Tage vor dem Manöver u. a. mit der Erprobung von Glattdeck-Pramen Hierbei handelt es sich um Pontonbrücken als Arbeitsplattformen zum Übersetzen militärischer Fahrzeuge (auch von Panzern) über Gewässer mit der zivilen Binnenschifffahrt auf der Elbe nahe Torgau. Es klopfte an die Tür. Ich drückte meine Zigarette aus. Ohne den Raum zu verlassen, rauchte ich immer in (meinen) Diensträumen. Den Gast ließ ich eintreten und grüßte militärisch exakt. Verdutztes Grinsen auf zwei Gesichtern. Der Kommandeur kam im gleichen Moment hinzu und staunte, dass sich   s e i n   schon lange erwarteter Gast und der Vorzimmersoldat beinahe freundschaftlich in den Armen lagen. Der Gast war Professor Dr. habil. rer. oec. Gerhard Rehbein, der einstige Rektor der Verkehrshochschule „Friedrich List“ in Dresden. Das war für den Kommandeur wahrlich nicht mehr einzuordnen, und gegen Feierabend sollte ich ihm bei einem Kaffee und einer Zigarette darstellen, woher wir uns kannten. Ich erzählte ihm, dass der Professor sehr aktiv am Werden und Gedeihen des von mir geleiteten Arbeitskreises Postgeschichte „Thüringen“ Anteil nahm, und dass er mir kurz vor Einrücken zur NVA eines seiner neuesten Bücher zum Transport- und Nachrichtenwesen mit Widmung sandte.

Mein Freund, der ungediente Reservist und Künstler Gerold S. aus Radebeul sollte wegen grafischer Arbeiten mit zur Übung an die Elbe ziehen. Irgendwie hatte er es auch geschafft, einen verantwortlichen Offizier im wahrsten Sinne des Wortes zu bequatschen und mich ebenfalls auf die Liste der Teilnehmer setzen zu lassen. Castor und Pollux waren wieder vereint. Das Duo verbreitete überall Heiterkeit, das schätzten auch die Vorgesetzten. Die Übung, die teils mit der Verkehrshochschule und mit Verantwortlichen der Binnenschifffahrt konzipiert und ausgeführt wurde, war spannend, nicht aber für mich. Das war nicht meine Welt. Jeder war dort mit den vorgegebenen technischen Aufgaben oder mit sich selbst beschäftigt. Gerold und ich hatten ein relativ freies Leben – ohne ständige Befehle. Das ging im guten Miteinander auf Zuruf. Man war aufeinander angewiesen. Das solidarisierte und ließ die Arbeit gut von der Hand gehen.

Zur knapp 100 Kilometer langen Fahrt zum Manövergelände an der Elbe saß ich nicht auf einem Sammeltransportwagen oder im Offiziersbus, sondern auf dem Beifahrersitz des Führungsfahrzeugs. Etwa ein Drittel der mehr als hundert dort gestarteten Fahrzeuge, selbst große Kettenfahrzeuge und Boote wurden auf Tiefladern mitgeführt, kamen wegen technischer Defekte erst nach Stunden oder Tagen an. Um den Konvoi kreisten „beinahe zufällig“ Fahrzeuge der einstigen sowjetischen Waffenbrüder, nämlich Aufklärungsfahrzeuge westlicher „Militärmissionen“ und der Sowjets selbst. Aus Waffenbrüdern waren bekanntlich in dreieinhalb Jahrzehnten bis an die Zähne bewaffnete Klassenfeinde geworden. Die Sowjets waren für alle guten Menschen dieser Welt da, auch wenn sie der DDR nicht trauten, und die einstige Alliierten aus dem Westen für den Teufel. Aus den gardinenverhängten Limousinen wurde eifrig fotografiert und gefilmt. Gesichter wurden hinter dicken Sonnenbrillen verborgen. Keiner hatte Lust, irgendwo in der Bildkartei eines Geheimdienstes aufzutauchen, alle fühlten sich wie in einem schlechten Film. Manche Fahrzeuge wurden lächerlich auffällig getarnt, das war sicherlich gewollt. Wichtiges und liegengebliebenes Gerät wurde im Gelände teils nur notdürftig gesichert. Ablenkungsmanöver? Major Erich Stromowski war mir sehr vertraut, mit ihm konnte man beinahe über alles reden, an dieser Stelle grinste er in seiner ihm eigenen Art, als wollte er „Pfusch“ sagen. Auch heute würde er nicht eindeutig antworten, sein Gesicht umwob in solchen Situationen immer ein vielfältig interpretierbares Lächeln, anders als das verschmitzte von Gerold, aber er war ja ein Künstler. Der konnte überhaupt nicht traurig in die Welt schauen, aber als Berufsoptimist war er auch nicht einzuordnen. Er ist eben als Radebeuler ein waschechter Sachse und feinsinniger Freund. Mein Gott, konnte der breit reden, das gefiel mir in der Mischung mit seinem geheimnisvollen Lächeln. Ein sächsisches Da-Vinci-Lächeln.

Da ich bei diesem Manöver an der Elbe täglich die Codes für den Ausgang und den Zutritt zum militärischen Objekt erarbeitete, war es kein Problem, die abendlichen Ausgangszeiten selbst zu bestimmen, Gerold und ich waren ohnehin unzertrennlich, der Kleine und der Große. Den Wachhabenden konnte ich immer korrekt das Codewort nennen. Selbst kam ich nicht auf die glorreiche Idee, erst Offiziere machten mich auf den simplen Umstand aufmerksam. Sie suchten selbst zum abendlichen Ausgang unsere Nähe. Das wurden lustige Abende in der Dorfkneipe! Die Kopfschmerzen am folgenden Morgen zu pflegen, dazu hatten wir genügend Zeit, denn das Manöver an sich konnten wir kaum beeinflussen, militärisch waren wir zwei Tiefflieger. Immerhin war der Künstler als Praktiker neugieriger als der unbedarfte Lehrer.

Im Regimentsstandort Doberlug-Kirchhain schaltete der Oberoffizier Nachrichten für mich beinahe jeden Abend eine Telefonverbindung nach Hildburghausen. Mit der Familie konnte alles Nennenswerte besprochen werden. Das war ein toller privater Service. Dem Hauptmann hatte ich auch ausführlich mein Leid geklagt, dass man abends vor dem öffentlichen Telefon Stunden vertrödeln könne, andererseits hätte ich im Stab genügend Arbeit.

Das Kommandeurs-Vorzimmer oder die Regiments-Geschäftsstelle waren für viele Offiziere als Stimmungsbarometer wichtig. Die NVA-Tristesse versuchte ich da und dort kurzweiliger zu gestalten als meine Genossen, die in der Freizeit wahre Rauch- und Kaffee- und auch manchmal Alkoholorgien organisierten oder sich gegen ein kleines Entgelt bei besserer Ernährung auf den Haus- oder Garten-Baustellen einiger Truppenoffiziere verdingten. So war es also auch kein Problem, sich mit einer streng verbotenen Flasche Schnaps die Freizeit totzuschlagen. Den Stellvertretenden Kommandeur, den Politoffizier Oberstleutnant Faust, plagte vermutlich auch die Langeweile. Mit einer guten Bildung ausgestattet und irgendwann in den Fünfzigern mit hehren Versprechungen zur Kasernierten Volkspolizei, Vorläuferin der Nationalen Volksarmee, eingerückt, fand er es spannend, dass eine Etage unter ihm einer saß, der ein wenig Literatur studiert hatte, mit dem man sich trefflich über Goethes Faust und Kulturelles unterhalten konnte. Und Oberstleutnant Faust machte seinem Namen alle Ehre.

Auch solche Szenen spielten sich dort ab: Ein Major aus dem Technikbereich, dem Brückenbau, kam mit dreckigen Stiefeln aus dem Gelände hereingestürzt. Und ich bringe ihn in die Wirklichkeit zurück: „Genosse Major, mit diesen Stiefeln wirft Sie der Kommandeur raus!“ Unvorstellbar, was da ein Soldat sagte. Der Major dankte und trollte sich umgehend, denn er hatte es sehr eilig. Wir lachten später noch oft über die Situationskomik.

Der für die Versorgung zuständige Oberleutnant, selbst nicht gut genährt, vielleicht war der junge Mann auch schon Hauptmann, erstellte auf uneffektive Weise Verpflegungspläne, die mit der Wirklichkeit selten identisch waren, denn Wunsch und Versorgungslage waren auch bei der relativ gut belieferten NVA zwei verschiedene Seiten einer Medaille. Da konnten militärische Befehle wenig helfen, Anweisungen schon gar nicht. In einem halbstündigen Statement machte der Soldat dem jüngeren Oberleutnant nach einem Scharfschießen klar, dass Grützwurst, auch Graupenwurst genannt, vom Volksmund als „tote Oma“ bezeichnet, ein schreckliches Mahl sei, auch wenn es im nord- und ostdeutschen Raum Nationalcharakter trüge, aber das hebe die Moral der meist aus Thüringen stammenden Truppe nicht. Dieser lieblos gekochte Fraß sei nicht vergleichbar mit dem gebackenen Blut in Südthüringen. Als „Serviceleistung“ diktierte ich ihm noch das Rezept, das ich von meiner Oma Reinhilde kannte. Das dort in Doberlug-Kirchhain gereichte versalzte Gemisch aus Gerste, Fett, Blut und Innereien und das noch mit Salzkartoffeln und salzig-saurem Sauerkraut ließ die meisten Soldaten die Zähne heben. Wir nannten es nicht mehr „Tote Oma“, sondern zynisch „Verkehrsunfall“. Wir mussten es beim Scharfschießen auf dem Schießplatz in Ermangelung von Tellern aus den verschwitzten Käppis essen. Die Geschmacksnote wurde also noch mit menschlichem Körperschweiß aufgepeppt. Das wollte ich mir als Hobbykoch nicht antun. Ich beschied mich mit nicht ganz durchgegarten Kartoffeln, für den Rest fand sich in der ungepflegten NVA-Natur ein Gebüsch. Das war aber kein Verlust, denn mit seinem Kalorienstand war ich ohnehin schon zwei Monate voraus. Auch die Offiziere schauten verzweifelt und rauchten lieber eine Zigarette mehr, träumten vielleicht schon Stunden vorher vom abendlichen Bier. – Als Soldat durfte ich das sagen, denn es war auch manchmal meine Laune, welche Urlaubsscheine ich in der Geschäftsstelle obenauf legte und welche unten blieben. Das wussten „meine Kunden“, denn mit der Geschäftsstelle stellte sich jeder Uniformierte gut, auch ein Offizier mit einem Soldaten.

Dem jungen Verpflegungsoffizier half ich, korrigierte seinen holprigen Ausdruck oder seine fehlerhafte Orthografie und Grammatik. Mit dem für DDR-Verhältnisse teuren Taschenrechner ging er höchst seltsam um, indem er mit einem Bleistift die Tastatur bearbeitete. Die Mathematik war nicht seine Sache, auch das Schreibmaschineschreiben nicht. In mir hatte er einen guten Helfer. Er nahm in die Hilfe eines älteren ungedienten Reservisten an.

Auch von der Waffe, einer MPi, die mir zugeordnet war, „trennte“ ich mich sehr schnell und wurde dann auch von weiteren Schießübungen, bei denen es eventuell wegen fehlender Teller wieder Grützwurst im Käppi gab, befreit. Ein Soldat ohne Waffe, das war eine Portion Freiheit, denn auch im Zivilleben käme ich nie auf die Idee, einem Schützenverein beizutreten. Ein Pazifist bin ich nicht, trotzdem habe ich eine „zerrissene Seele“, vielleicht ist es auch die medizinisch noch nicht beschriebene „Waffenallergie“. An das Prozedere kann ich mich nicht mehr detailliert erinnern, nur noch daran, dass es funktionierte. Das hatte natürlich zwei weitere Vorteile: Die Waffe musste ich nicht mehr putzen und zerlegen sowie sie bei jedem Alarm durch die Botanik schleppen. Mein technischer Sachverstand war so gering entwickelt. Wer wollte mir denn schon ständig zur Seite stehen, denn ein versierter „Bastler“ war ich nicht. Mit den Einzelteilen einer sowjetischen Maschinenpistole konnte ich nicht viel anfangen, auch IKEA-Bauteile sind mir bis heute sehr lästig. Zu Waffen hatte ich schon immer ein gestörtes Verhältnis. Unauslöschlich hatte sich bei mir eingegraben, wie mir Major Erich Stromowski – nicht nur Ingenieur, sondern auch Handwerker – in etwa einer Stunde erklärte, wie man eine Wendeltreppe aus Holz konstruiert und baut. Ähnlich, wie ich im Privatleben einen Brief aus dem 15. oder 16. Jahrhundert transkribiert und übersetze. Beides ist nur Insidern verständlich. Wir „bewunderten“ uns, der Soldat und der Stabsoffizier.

Einmal sollte auch mein „Fleiß“ belobigt werden: Ein Foto vor der Regimentsfahne war die höchste militärische Auszeichnung für die niederen militärischen Ränge, die man zu „bieten“ hatte. So viel DDR-Patriotismus war bei aller gespielten Heuchelei nicht in mir. Der Stabschef, Major Severin, ein Soldaten-„Versteher“, weil er selbst nicht gerne Befehle erfüllte, saß oder stand aus meiner Sicht völlig deplaziert auf seinem Posten. Er unterhielt sich lieber mit ihm über Gott und die Welt oder beschäftigte sich mit Autogeschäften per Zeitungsanzeigen. Sonderlich viele Lebenskämpfe hatte er ohnehin noch nicht geführt, der Sohn des Generaldirektors des Elektronikkombinats Robotron in Dresden. Ihm sagte ich, dass Sonderurlaub besser wäre als ein schönes Bild. Das Fotopapier könne man sich doch sparen. Und mitbringen könnte er von zu Hause auch noch was. Er hatte begriffen.

Der Oberoffizier Nachrichten holte mich in Hildburghausen mit einem Jeep mit viel Stauraum ab. Er hatte im VEB Röhrenwerk „Anna Seghers“ in Neuhaus am Rennweg zu tun und „kaufte“ technische Teile ein, die auch bei der ansonsten gut versorgten NVA Mangelware waren. Er erwarb sie mit „Bakschisch“, wie das eben in der DDR üblich war, denn die Ware-Geld-Beziehung war in dem kleinen Land am westlichen Rand des Warschauer Paktes nur unzureichend entwickelt oder hatte sich bei der Beschaffung im Bereich des verwalteten Mangels als nicht vorteilhaft erwiesen. Der archaische Tauschhandel war längst Normalfall. Bevor sich beide auf die lange Nachtfahrt machten, gab es mitten in der Woche bei uns zu Hause in der Luxemburgstraße richtige Thüringer Klöße, Rindsrouladen und Rotkraut. Das tat gut.

Im Jahr 1978 wurde die DDR mehr denn je vom Mangel an Genussmitteln regiert. Mit Gudrun setzte ich mich in Verbindung und die „Sonderurlaubsplanung“ begann: Kontakt mit Kaufmann Hans Meier, mit Werner Lipski von der HO-Kaufhalle in der Schleusinger Straße, mit Kaufmann Wolfgang Büchner, Gastwirt Alfred Mitzenheim vom „Thüringer Hof“ zur Beschaffung von Hildburghäuser Spezialbier aus Heßberg, Nordhäuser Doppelkorn und „Club“-Zigaretten.

„Club“ war lange meine Lieblingssorte, die auch der Kommandeur gerne rauchte. Die tägliche MHO-Lieferung im Regiment (MHO = Militärhandelsorganisation) bestand nur aus zwei Schachteln: zwei für den Kommandeur, davon eine für mich. Das wurde ruchbar und ich musste es dem Kommandeur auf seine Nachfrage hin „beichten“, nach einer Tonlage, die etwas lauter als nur Zimmerlautstärke war, wer die zweite Schachtel bekäme. Wir schauten uns aber bald wieder in die Augen. Mangelware 1978. Alkohol und Zigaretten gab es in der DDR reichlich, nicht immer aber in der gewünschten Qualität. Der „Blaue Würger“ oder die Zigarettenmarken Karo, Casino, Turf und Jubilar, das war nichts für die Stabsoffiziere, höchstens bei allergrößtem Mangel. Manche Genossen lebten mit einem geregelten Pegelstand. Ich hatte Verständnis. Auf Dauer wäre er dort sicherlich zum Trinker verkommen.

Der Nachrichtenoffizier und der Soldat karrten im „militärischen Auftrag“ in Richtung Cottbus. Das Finanzielle übernahm noch am Tag der Rückkehr der Stabschef höchstpersönlich. Der Kommandeur hatte wohl auch etwas abbekommen, denn er grüßte tags darauf zuerst. Im Spind hatte ich am Ende der „Aktion“ einen vierstelligen Betrag liegen, ein wenig Trinkgeld für mich blieb auch übrig. Offiziersehre! Für Gerold und mich waren bis zum nächsten avisierten Heimaturlaub, eigentlich sollte es für die ungedienten Soldaten während des dreimonatigen Lehrgangs nur einmal Heimaturlaub geben, genügend Genussmittel vorhanden.

Mit der erfolgreichen Sojus-31-Mission von Sigmund Jähn machten die beiden Stabssoldaten noch einmal Furore im Regimentsstab. Wir hatten uns inzwischen zu Frohnaturen des Stabs entwickelt. Und das Prinzip Lächeln des Gespanns „Castor und Pollux“ steckte an. Ernsthaft beratschlagten wir, ob es Zeitverschwendung sei, ob man Stiefel putzen sollte oder nicht, einen Draht für das Befestigen eines Knopfes zu nehmen oder ihn höchstpersönlich anzunähen. Ersteres ginge schneller. Gerold war meist fleißiger, da kam ich einer „Gefechtsschlampe“ schon sehr nahe, wie man in der NVA zu einem unordentlichen Soldaten zu sagen pflegte.

Vor dem Feierabend des 25. August 1978, einem Freitag, wurden die beiden in eine selten genutzte Räumlichkeit mit Nebengelass und Ruheraum geführt. Ein dort befindlicher Kühlschrank enthielt viele Annehmlichkeiten für das bevorstehende Wochenende. Vom Politstellvertreter wurde den beiden Soldaten eröffnet, dass sie zu arbeiten und zu schweigen hätten. Ein großes Ereignis stände bevor, auch das Radio müsste angestellt bleiben, wir sollten genau hinhören. In DIN A 3-Umschlägen wurde uns Material übergeben: Texte, großformatige Farbfotos von zwei uns unbekannten Personen in Uniform, ferner lagen Papierbogen bester Qualität, Pappe, Handwerkszeug, Farbe, Pinsel, Spachtel und Sonstiges parat. Auf den Bildern waren zu sehen die Oberstleutnants der Luftstreitkräfte Sigmund Jähn und sein Genosse Eberhard Köllner. Die beiden Soldaten waren baff und auf die nächsten Stunden gespannt. Sie ahnten nur, weil das Bild von Jähn oben lag und auch das vorgegebene Agitationsmaterial ihn zuerst nannte, dass einer der beiden Piloten in den Orbit starten wird. An diesem Freitag war noch unklar, wer es am Samstag, dem 26. August 1978, sein wird, der mit Waleri Fjodorowitsch Bykowski in der Sojus 31 zur Raumstation Saljut 6 auf Mission gehen wird und mit der Rückkehrkapsel Sojus 29 knapp acht Tage später höchst unsanft mit Blessuren jenseits des errechneten Landepunkts in der kasachischen Hungersteppe 180 km südwestlich von Dscheskasgan landen sollte, also nicht so perfekt sicher, wie man uns in Neues Deutschland weismachen wollte.

Und auf wundersame Weise, wir wunderten uns beinahe alle, titelte das „Parteizentralorgan“ Neues Deutschland „Der erste Deutsche im All ist ein Bürger unserer Republik“. Das Wort deutsch im Zusammenhang mit Herkunft und Staatsbürgerschaft der DDR war zu diesem Zeitpunkt ungewöhnlich. Tempora mutantur – Die Zeiten ändern sich oder ausführlicher: Tempora mutantur, et nos mutamur in illis – Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. Vor allem in der Agitation war für die DDR keine Lüge zu klein, sollte doch damit „bewiesen“ werden, dass die DDR der bessere deutsche Staat wäre.

Für mich war das Ereignis kein Problem, war ich doch ein versierter Raumfahrt-Freak und hatte nach dem erfolgreichen Abschluss des Sojus-Apollo-Test-Projekts 1975 einen Dia-Vortrag zum Sojus-Apollo-Test-Projekt 1975 für den Philatelistenverband erarbeitet, der auch der fachwissenschaftlichen Kritik standhielt. In den siebziger Jahren sammelte ich auch philatelistische Belege vor allem aus den USA und der UdSSR. Der Vortrag wurde gegen eine Gebühr an Arbeitsgemeinschaften Philatelie ausgeliehen. Er wurde auch bei Wettbewerbsausstellungen juriert und erhielt z. B. bei der Nationalen Briefmarkenausstellung 1979 in Dresden eine Silbermedaille und 1982 bei der THÜBRIA 82 in Jena eine Silber-Bronze-Medaille.Als Attraktion hatte ich einige original NASA-Weltraumdias eingebaut, die mir mein alter Freund Eberhard McCleary aus Springfield/Ohio besorgt hatte, die unkontrolliert ihr DDR-Ziel erreichten. Auch das gab es. Eberhard, verheiratet und Vater dreier Kinder, studierte noch immer an der Universität in Dayton. Vermutlich gab es nicht nur in der heutigen Bundesrepublik Langzeitstudierende.

Anmerkung

In meinen Stasiakten wurde ich als fleißiger Briefschreiber erwähnt. Hervorgehoben wurde sogar, dass ich mich mit Eberhard McCleary duzte. Das ist auch heute noch so, dass sich Freunde duzen. Aber das ging diesen Leuten über den sehr kurzen klassenkämpferischen Verstand, dass eine „sozialistische Lehrerpersönlichkeit“ einen US-amerikanischen Bürger als Freund hatte. Das sind doch geborene Klassenfeinde, die haben sich doch gefälligst zu hassen. Nicht mehr und nicht weniger. Da schlossen die Genossen auf eine enge Verbindung, und die war es auch. Bevor wir gegenseitig unsere Briefmarkensammlungen aufbauten, war Eberhard McCleary der Brieffreund Gudruns zur Schleusinger Oberschulzeit. Er sammelte die Briefmarken der DDR und ich die der USA. Wo liegt hier ein Problem? Genossen Mitleser, so einfach ist das nun mal! Da er die deutsche Sprache einigermaßen beherrschte, deswegen war er kein imperialistischer Geheimagent, sondern ein wissbegieriger Ami und ein netter Kerl dazu, sonst nichts. Dass ich mit sehr geringem Erfolg Russisch lernen musste, war staatlich verordnet worden, bei anderen Alternativen hätte ich es wohl nie getan. Bemerkenswert ist, dass der Name des amerikanischen Freundes in allen „Stasi-Fundstellen“ anders geschrieben wurde. Der Genosse Unterleutnant Boßecker vollbrachte sogar die geografische Meisterleistung und verlegte Springfield/Ohio (USA) nach England. „Nobody is perfect“, Genosse Kämpfer.

Nach diesem Ausflug in meine Stasi-Akte kehren wir in die Kaserne nach Doberlug-Kirchhain zurück. Schnell war eine Konzeption entwickelt, und ich gestaltete eine je nach Lage auswechselbare Wandzeitung. Der gesellschaftliche Triumph sollte größtmöglich präsentiert werden, das war der Auftrag. Und alles wurde ein wenig größer. Mit reger Fantasie blieb keine Übertreibung ungenutzt. Gerold hatte eine künstlerische Idee, die auch als „Sachbeschädigung“ hätte interpretiert werden können. Die getünchte Flurwand in Richtung Geschäftsstelle, gegenüber dem Kommandeurszimmer wurde von ihm mit Zeichenkohle skizziert. Die griechische Mythologie war politisch wertneutral, da konnte bei einem epochalen Ereignis kein Fehler gemacht werden. Ikarus flog unübersehbar optimistisch in Richtung Zentralgestirn, also symbolhaft in Richtung Sonne. Wir ließen ihn nicht abstürzen, wie in der Sage, sondern freudig siegreich und unbekleidet in Richtung Sonne aufwärts schweben in diesem versauten und hässlichen Sommer 1978. Den beiden „Auftrags-Agitatoren“ wuchsen Flügel. Einige Flaschen geschmuggelten hochprozentigen Inhalts halfen der Phantasie und dem Tatendrang nach: Man ließ sie gewähren, sie wurden gebraucht.

Am Montag gab es staunende Augen. Nachdem das künstlerische Wirken nicht nur kritisch, sondern auch mit Begeisterung aufgenommen wurde, machte sich großes Lob breit. Die beiden kreativen Soldaten waren gerettet. Auch die Reinigungskräfte verharrten etwas länger vor dem Kunstwerk. Verschämtes Grinsen machte die Runde. Um den Flug des Ikarus gab es keine Rätsel mehr. Nicht die ansonsten weiß getünchte Wand, nicht der Götterflug, sondern der groß geratene Penis waren der Blickfang. Auf alle Fälle war er größer als bei Willi Sitte (1921 – 2013), dem Hofmaler der Einheitspartei, an einem Suhler Bauwerk, das im Volksmund „Haus zum kleinen Pimmel“ genannt wurde. Gemeint ist das Wandgemälde „Kampf und Sieg der Arbeiterklasse“. des unerschütterlich sozialismusgläubigen halleschen Künstlers und Präsidenten der Akademie der Künste der DDR, Willi Sitte.Das 240 Quadratmeterbild auf 874 Emailleplatten an der einstigen Stadthalle Suhl ist inzwischen im Suhler Stadtmuseum eingelagert.

Einen Tag später gab es für das kommende Wochenende Sonderurlaub, der Traum eines jeden Soldaten. Bei der Rückkunft hatte ich wieder große Mengen Alkoholika dabei. Bei der Torkontrolle vor Mitternacht flog ich auf. Dem Diensthabenden gab ich Sünder die Empfehlung, den Stabschef zu informieren, der die Angelegenheit regelt, denn er folgte nur einem Auftrag. Das „Vergehen“ war in wenigen Minuten geklärt.

Wenn ich mich an Doberlug-Kirchhain erinnere, plagt mich immer auch mein Gerechtigkeitssinn. In der Mannschaftsunterkunft des Bataillons gab es einen kleinen „Hausarbeiter“, dem kein freundlicher Blick zu entlocken war, schon gar nicht ein zusammenhängender Satz. Er suchte keine menschliche Nähe, auch wenn er die angebotenen Zigaretten gerne entgegennahm. Menschliches Vertrauen war ihm fremd geworden. Geringste körperliche Arbeiten ließen ihn nahezu zusammenbrechen. Ein älterer Feldwebel erzählte mir seine traurige Geschichte. Wegen einer kaputten Beziehung verließ er kopflos und verzweifelt seine militärische Einheit. Republikfahndung wurde ausgelöst. Wie ein Schwerverbrecher wurde er gejagt und umgehend verurteilt, „achtzehn Monate Schwedt“. Die Zeit musste er bis auf den letzten Tag nachdienen, und er wurde auch finanziell in die Pflicht genommen. Eine solche Fahndung war teuer, sehr teuer. In Schwedt an der Oder war das einzige Militärgefängnis der DDR, bis 1982 vom Ministerium des Innern verwaltet. Überall in der Nationalen Volksarmee war der Städtename Initialwort und sprachliches Synonym für unmenschliche Qualen, Demütigung und gebrochene Persönlichkeitsstrukturen, die nichts mit sozialistischer Gerechtigkeit und Humanismus zu tun hatten. Schwedt galt auch als Synonym für Konzentrationslager. Allein mit der Namensnennung oder der Drohung „Schwedt“ wurden die Genossen Soldaten diszipliniert.

Unter uns befand sich ein menschliches Wrack, körperlich und seelisch gebrochen. An ihn dachten wir oft. Wir halfen ihm, auch wenn er uns nicht dankte. Wir gaben ihm die Hand, denn er war ein Mensch. Seine Augen sprachen für sich, man musste sie nur lesen können ...

Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen Salier
Eigentlich nicht erwähnenswert...

Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung

 

„... eine Gefährdung der inneren Sicherheit und Ordnung“

Recherche der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl/Abteilung XX/7 – 1979

(Geschrieben vom 6. bis 12. August 2011)

Inzwischen habe ich es „geschafft“. Die allmächtige Bezirksverwaltung der Geheimpolizei in Suhl beschäftigt sich mit mir. Vermutlich war ich den Tschekisten in der „Autonomen Gebirgsrepublik Suhl“ wichtig geworden. Geahnt hatte ich es, beweisen konnte ich damals nichts, heute schon. Darüber zu sprechen, war gefährlich. Selbst im Umfeld hätte das nur Unruhe erzeugt. Verwandte und Bekannte hätten sich reflexartig zurückgezogen. Wer wollte schon in den Verdacht geraten, sich mit jemandem einzulassen, der im Visier der Stasi stand? Aber es gab immer auch Funktionäre, die ein wenig anders tickten. Die fragten mich zu Zeitereignissen und zu meinem Standpunkt. Als gelernter DDR-Bürger war ich wie die Mehrzahl durchaus janusköpfig: Ich hatte eine offizielle und eine private Meinung. Das war Wahrheit im DDR-Friedensstaat. Die Grenzen waren oft gefährlich fließend, weil ich mit meiner Meinung nicht hinter den Berg hielt. Da war ich rechthaberisch, mitunter laut, polternd und unnachgiebig. Aber auch philosophisch und „parteilich“ argumentierend konnte ich auftreten, weil ich das Parteichinesisch der Genossen verstand und mit ihnen „gelehrig“ in ihren ideologischen dummen Worthülsen reden konnte. Für Gesprächspartner war es mitunter auch schwer, sich meinen beweisbaren Argumenten zu entziehen, ob spontan mit Schärfe geäußert oder durchdacht und verbrämt.

Nicht gerne ließ ich mir eine Diskussionstaktik aufzwingen. Die Stasi tat sich da in Auswertungen sichtlich schwer. Unangenehm war ich auch manchmal für Gesprächspartner, weil sie oft nicht ad hoc antworten konnten oder ich mich nie mit simplen Argumenten abfand, da hätte ich nachgehakt. Wenn ich Fragen stellte, formulierte ich sie oft so, dass man keine Antwort fand. Wie ich mich beispielsweise zu dem vietnamesischen Brudervolk verhalten solle, das da gerade für die Zündung der ersten chinesischen Wasserstoffbombe eine Sonderbriefmarke herausgegeben und das Ereignis gefeiert hätte, so im Parteilehrjahr, das bekanntlich alle Lehrer und Erzieher besuchen mussten, auch die Nichtgenossen. – Auf „dezente Weise“ und auf „Umwegen“ fragten mich die Genossen aus oder forderten Stellungnahmen, wie Berichte der Geheimpolizisten beweisen. Ein „gewisses Vertrauen“ genoss ich trotzdem bei einigen Funktionären bis hin nach Suhl. Vielleicht waren es Leistungen, und die wurden von Funktionären, beispielsweise des Kulturbundes, genutzt, um Positives zu melden und sich selbst bei ihren Vorgesetzten ins rechte Licht zu rücken. Die Namen der Armseligen will ich hier nicht nennen, weil sie mit ihrer politischen Einfältigkeit genug gestraft sind.

Es gab treue und ergebene Genossen, deren Sammelleidenschaft auch auf sie selbst wie eine Droge wirkte. Sie ging dann über ideologische Hirndressuren hinweg. Manche kauften bei mir Briefmarken und philatelistische Belege aus dem „kapitalistischen Ausland“, weil sie wussten, dass ich gute Kontakte hatte und damit das ersehnte Material mein eigen nennen durfte. Eine harte Währung bei Briefmarken war eben reizvoller als geheuchelte politische Überzeugungen im Armenhaus des Ostblocks mit nicht konvertierbaren Währungen. Die Funktionäre selbst durften nicht mit dem Feind, dem Klassengegner, korrespondieren, das war aus SED-Verständnis heraus Verrat.

Die „Interessenten“ saßen in der SED-Kreisleitung, im Rat der Stadt Hildburghausen, im Rat des Kreises, selbst im Rat des Bezirkes, in vier Volkspolizeikreisämtern des Bezirkes Suhl, im FDGB-Bezirksvorstand, auch ein auf mich angesetzter Inoffizieller Mitarbeiter in der Stadtverwaltung Hildburghausen war dabei, der mit mir gerne rauchte, trank und die Briefmarken der Republik Österreich begehrte. Er durfte keine Westkontakte haben. Er hatte mich.

Der Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit war kein SED-Mitglied, er gehörte einer sogenannten Blockpartei an, der LDPD. Mit ihr sympathisierte ich, um mich von der SED abzugrenzen, und ihr trat ich am 6. November 1989 bei, einen Tag nach meiner Rückkehr von der Präsentation eines meiner Bücher auf der PHILATELIA in Köln. Meine Ansprechpartner waren Franz Lichte, Horst Gärtner und Jochem Vonderlind. Im Mitgliedsausweis ist der 10. November 1989 vermerkt, ein Tag nach dem geschichtsträchtigen Fall von Mauer und Stacheldraht.

Anmerkung

Bereits Ende der 60er Jahre wollte ich der LDPD, also den Liberalen, beitreten. Ein Verwandter winkte ab. Er meinte, dass für ein berufliches Fortkommen die SED-Mitgliedschaft besser sei. Nein danke, das wollte ich nicht. Ich musste genügend in der Schule lügen und meine „revolutionäre Phase“ war Mitte der 60er Jahre längst vorbei. Da wollte ich, nicht aber die Genossen. Damit hatte ich gute 25 Jahre ein plausibles Argument. Einmal fragte mich meine Direktorin Anfang der Achtziger, aber da lehnte ich mit den Worten dankend ab, dass man mich „damals“ nicht wollte und heute sei ich kein anderer Mensch. – Gleiches bestätigte sich bei der Anwerbung für die Staatssicherheit. Man ließ mich in Ruhe, wenn ich ein deutliches Nein sagte. Man passte nur noch auf mich auf, denn ich war bekanntlich entsprechend einsortiert. Wenn nach 1990 immer wieder argumentiert wird, dass man gezwungen worden sei, der SED beizutreten oder sich von der Stasi missbrauchen zu lassen, ist das eine schamlose Lüge. Kein einziger Bewohner der DDR musste in die SED eintreten, aber die Lebensplanung konnte nicht wie gewünscht verlaufen. Nachteile gab es zuhauf. An eine Karriere war beispielsweise nicht zu denken, das wirkte sich auch auf die künftige Entwicklung der Kinder aus, das ist unbestrittene Tatsache. – Ein einziges Mal ließ ich mich erpressen: Im November 1960 wurde in der Außenstelle „Fasanerie“ des Instituts für Lehrerbildung Meiningen (bei Hermannsfeld, dem ehemaligen Jagdschloss des Meininger Theaterherzogs) kurzfristig in einer frühen Abendstunde eine Studentenversammlung einberufen. Zwei Studenten – eine Pfarrerstochter und ich – waren nicht der Massenorganisation DSF (Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft) beigetreten. Das war sicherlich bei irgendwelchen Vollzugsmeldungen ein Schandfleck für die gesamte Lehrerbildungseinrichtung, das den Namen des russisch-sowjetischen Berufsrevolutionärs „M. I. Kalinin“ trug. Michail Iwanowitsch war zeitweise sowjetisches Staatsoberhaupt und Stalins gefügiger Willensvollstrecker. Was Kalinin mit deutscher Pädagogik zu tun hatte, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis, vielleicht hatten wir Deutsche im angeblich „besseren Teil Deutschlands“ keine vorbildhaften Traditionen für die Namensgebung der pädagogischen Einrichtung.

Der Außenstellenleiter der Lehrerbildungseinrichtung, Gerhard Last, der später sein marxistisch-leninistisches Unwesen an der Technischen Hochschule Ilmenau trieb, ereiferte sich in einer energischen klassenkämpferischen Rede, wie wertvoll es sei, Mitglied dieser Massenorganisation zu sein und dass die Mitgliedschaft für eine sozialistische Lehrerpersönlichkeit Verpflichtung sei. Während seiner theatralisch vorgetragenen Agitation, an seiner gurgelnden Tabakspfeife schmauchend, drohte er als Schlusspunkt den beiden Studenten vermutlich ohne Gewissensbisse die Exmatrikulation.

Eingeschüchtert traten die beiden dem „Freundschaftsbund“ bei. Immerhin, für diese zweifelhafte Freundschaft musste man sogar Beitrag zahlen. Beide Studenten waren reichlich sechzehn Jahre alt und wollten keine Klassenfeinde sein, sie wollten Lehrer werden. Das Abitur hatte man ihnen ohnehin versagt. In mir brach kein Weltbild zusammen, auch wenn ich mich wegen meiner Zwangsentscheidung schämte. Meine starke Mutter wäre vielleicht verzweifelt, denn sie war eigentlich nach dem gewaltsamen Tod unseres Vaters weit nach Kriegsende nur für ihre Kinder da. Nein, eine Exmatrikulation, das konnte ich ihr nicht antun. – Die Mitstudentin wurde Monate später vom Studium ausgeschlossen, weil sie den Zehn-Meter-Streifen der Demarkationslinie nahe Henneberg bei landwirtschaftlichen Arbeiten überschritt und rief: „Hurra, ich bin im Westen!“ Einen Augenblick später kam sie wieder zurück, aber dieser kleine Hurra-Satz wurde eifrig von einem Langohr gemeldet. So kleine Drecksäcke gab es ausreichend auch unter Schülern und Studenten. Noch war die Grenze nicht vermint und nicht mit anderer teuflischer Technik unpassierbar gemacht worden. – Wirkungen zeigten sich bei mir in den Sechzigern das sozialistische Realerlebnis Mauerbau und die Grenzsicherung mit allen Begleiterscheinungen, die Widersprüche des Lebens und Wirkens in der geistigen und materiellen Mangelwirtschaft DDR, die Verleugnung des deutschen Vaterlandes, die Suche nach dem Sinn des Lebens mit dem Studium philosophischer und historischer Schriften und die Armseligkeit der in der DDR gelebten marxistisch-leninistischen Ideologie und der SED-Klassenkämpfer. Als ich sah, dass ein Lehrerkollege, mit dem ich den DDR-Liberalen beitreten wollte, einige Wochen später zu den Einheitsparteisozialisten lief, der Jahre später sogar Parteisekretär wurde, war für mich die „Messe gelesen“. Einen solchen Slalomlauf begriff ich nie. Die einst guten Kontakte reduzierten sich entsprechend.

Trotz ihres Rufes einer Blockpartei hatten sich viele der Parteifreunde eine gute Portion Vernunft bewahrt. Das heute geführte Geschwätz von den Blockflöten vor allem aus der linken Ecke ist dumm, beleidigend und oberflächlich zugleich. Wer hatte denn wen domestiziert und missbraucht, wer hatte wen reglementiert? Gab es nicht sogar zwei Blockparteien (NDPD – National-Demokratische Partei Deutschlands, vor allem zur Bindung nationaler Kräfte an die SED und DBD – Demokratische Bauernpartei Deutschlands, zur Bindung der Landbevölkerung an die SED), die nicht aus einem demokratischen Verständnis heraus 1948 gegründet wurden, sondern eigens von der SED für ihre kommunistischen Ziele missbraucht wurden. Die Führungsspitzen der beiden Blockparteien wurden bei Gründung mit KPD- bzw. SED-Funktionären besetzt. In erster Linie ging es um die Schwächung des bürgerlichen Lagers – um CDU und LDPD. Toll ist natürlich auch, dass diese angeblich antifaschistische SED mehr ehemalige NSDAP-Mitglieder in ihren Reihen hatte als alle anderen sogenannten Blockparteien zusammen und nachweislich sogar mehr als im Bundestag der Bundesrepublik Deutschland. Der charismatische ehemalige Gegenspieler Konrad Adenauers und SPD-Vorsitzende Dr. Kurt Schumacher (1895 – 1952) sprach nicht umsonst davon, dass die KPD und ab 1946 die SED die Interessenvertretung einer „auswärtigen Macht“ sei und bezeichnete sie aus eigenem politischen Erleben als „rotlackierte Faschisten“.

Auf den Punkt gebracht: Die Blockparteienbildung war ein scheindemokratisches Spiel, denn nach der Eroberung des Staates durch die Kommunisten nutzten sie den Staat als Terrorinstrument zur Durchsetzung ihrer Ziele. Staat und Partei waren nie getrennt, denn der Führungsanspruch der SED war in der Verfassung der DDR festgeschrieben. Nicht umsonst war es eines der wichtigsten Ziele der Opposition 1989, dass es zur Verfassungsänderung kommt.

Zurück zu dem besagten Philatelie-IM. Wir waren uns wohl vertraut, frönten auch dem gemeinsamen Steckenpferd. Bei den vierzehntägigen jeweils freitags stattfindenden Zusammenkünften der Arbeitsgemeinschaft Philatelie des Kulturbundes der DDR war er nicht nur dabei, sondern immer auch sehr hilfsbereit und gesellig. Er konnte tolldreiste Berichte in Auseinandersetzungen mit dem Rat des Kreises, vor allem mit Werner Asmuhs, dem Vorsitzenden des Rates des Kreises Hildburghausen, zum Besten geben, der übrigens zum Schleifen des Dorfes Billmuthausen im Heldburger Unterland seine Unterschrift gab und ansonsten ein mehr als hundertprozentiger Vollstrecker von SED-Anweisungen war. Wir schlugen uns vor Vergnügen auf die Schenkel. – Wollte dieser IM andere Meinungen herauslocken oder hatte er eben auch nur diese DDR-Janusköpfigkeit? Wie war er in die Fänge der Geheimpolizei geraten? Waren es seine Leutseligkeit oder sein Durst? Seine Motive werden immer unklar bleiben. Bis zu seinem sehr frühen Tod hatten wir ein gutes Verhältnis.

Einige der „Kunden aus dem Partei- und Staatsapperat“ nahmen auch Postwertzeichen und philatelistische Belege des Dritten Reiches. Die durfte man zwar besitzen, nicht aber zeigen – auch nicht in Forschungssammlungen. Tauschen oder verkaufen stand unter Strafe. Oft erwarb ich sie bei Sammlungskäufen, die für solches Material auch verboten waren. Schenken lassen ging auch nicht, auch das stand unter Strafe. Diese Quellen waren aber für das MfS absolut dicht, denn eine solche Handlungsweise konnte Existenzen vernichten. Das war für die Staatsorgane der DDR kriminell, wie auch die Herabwürdigung von Persönlichkeiten.

Selbst aus Parteileitungssitzungen ist manches bis zu mir gedrungen: Wenn meine Haare zu lang waren, meine Korrespondenz mit zig Partnern in der Bundesrepublik und in Berlin-West, in Westeuropa, in den USA auffiel, meine Kritik am DDR-System, politische Witze oder auch flapsige Haltungen. Ich war, wie sich später herausstellte und wie es in den Stasi-Unterlagen dokumentiert wurde, als Krimineller eingestuft worden. – Nicht mehr nur die Kreisdienststelle Hildburghausen observierte mich. Oberstleutnant Heinz, Leiter der Abteilung XX/7 (Abt. XX = Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund) nahm sich meiner an und schrieb an die Kreisdienststelle Hildburghausen eine mehrseitige Information über mich, den Ausgeforschten. Eine „tolle“ Bilanz nach wochenlanger Recherche. Am Telefon hätte ich den Geheimen am Telefon erzählen können, auch ein Anruf bei den entsprechenden Dienststellen hätte genügt. Welch ein Volksvermögen hatte diese gefährliche und nutzlose Bande über vier Jahrzehnte in den Sand gesetzt? Hat denn von denen während ihrer menschenunfreundlichen Tätigkeit niemand gemerkt, dass sie den falschen Götzen dienten und eifernd in treuer kommunistischer Gefolgschaft hinterher liefen? Wie weit kann eigentlich ein Mensch verkommen. Heute, von demokratischen Gesetzen geschützt, organisieren sie sich in der SED-Nachfolgepartei, die ich gerne auch „Ostdeutscher Heimatverein“ nenne. Sie hetzen gegen den Staat, der ihnen demokratische Rechte garantiert. Sie werden in aus seiner Sicht zweifelhaften Vereinen wie ISOR geschützt, um ihre „Rechte“ – sprich vor allem höhere Renten – bei der wortgläubigen Justiz einzuklagen. Sie haben in der Vergangenheit selbst nicht viel zustande gebracht und tragen sehr viel Mitschuld am Zusammenbruch der DDR. Sie nutzen beharrlich die Medien, vor allem das Internet und die Presse, um ihre geistige Umweltverschmutzung gegen die Demokratie zu betreiben und seufzen wehmütig: „Ach, war es doch in der DDR schön und vor allem gerecht!“ „Es war nicht alles schlecht.“ Diese Sätze gehören sicherlich zu den dümmsten Hirnleistungen seit dem Zusammenbruch der DDR.

Zum Schreiben des Oberstleutnants: Nach der Eingangsbestätigung steht handschriftlich„Gen. Litsche zur Kenntnis und Auswertung (kk ergänzen)“. (Anmerkung: kk heißt „Karteikarte ergänzen“ oder „kriminell in Erscheinung getreten“. Zudem war eine „Kriminalpolizeiliche Kontaktperson“ bzw. ein IM der K 1, also der Kriminalpolizei, auf mich angesetzt, das „wusste“ ich nicht, aber ich vermutete es.) Und eben dieser Genosse Litsche zeichnet das handschriftlich am 2.4.79 mit dem Kürzel Li. ab, ausgerechnet an dem Tag, an dem ich meinen 35. Geburtstag gefeiert hatte. Meine Freunde Irene und Walter aus Rodach – aus dem nahen und doch so weltenfernen oberfränkischen und einst thüringischen Gebiet um Coburg – waren nach Zahlung des DDR-Eintrittsgeldes zum Gratulieren nach Hildburghausen gekommen. Das hatten die unerschrockenen Schlaumeier vom Ministerium für Staatssicherheit und ihre Schnüffler nicht mitbekommen. Walter hatte eine Einreise nach Schalkau beantragt. Seinen Ford mit dem Kennzeichen CO – DA 474, ein Riesenschiff, gekauft bei Auto-Weiß, bei dem dann nach 1989 viele Genossen ein Autoschnäppchen machten, stellte Walter auf dem Friedhofsparkplatz an der Schleusinger Straße in Hildburghausen ab. Grabpflege war bekanntlich nicht verboten.

Die Genossen der „Firma“ verstanden wirklich nicht viel von den Dingen, die ich betrieb. Erfolgreich war ich für die DDR. Das war vermutlich für mich wie ein Schutz. Trotz ihres Unwissens und ihres ständig zur Schau getragenen Dilettantismus waren die SED-gesteuerten Dienstleister sehr gefährlich. – Aber da war ich wieder arrogant und agierte riskant, auch wenn ich kein Spielertyp bin. Natürlich ist es eine Ehre, den Staat, in dem man wohnt, im Ausland zu vertreten. Auch wenn man selbst nie – im Gegensatz zu in Hildburghausen kursierenden Gerüchten – die Grenze der Deutschen Demokratischen Republik in westliche Richtung überschritten hatte. Die Grenze nannte ich nie Staatsgrenze, für mich war und blieb es eine Demarkationslinie. Die Auslandserfolge machten mich stolz. Wenigstens meine Sammlungen hatten „die Ehre“, in der Welt gezeigt zu werden. Die Sammel- und Forschungstätigkeit war für mich immer auch Herausforderung in diesem ansonsten stinklangweiligen Land DDR. – Übrigens, auch das ist erwähnenswert: Im November 1978 erhielt ich die Ehrenurkunde des Präsidialrates des Kulturbundes „Für hervorragende kulturpolitische Leistungen im Kulturbund der DDR“. Davon hatten die Genossen der SED in Hildburghausen und der Kreisdienststelle des MfS vermutlich nichts erfahren. Die eine Hand in der DDR wusste oft nicht, was die andere getan hatte.

So war es also nicht verwunderlich, dass in der Zeit meiner größten internationalen Erfolge reichlich negative Oberservierungsberichte mühsam zusammengetragen wurden und nichts von diesen Erfolgen dort zu lesen war. Hatten diese Stümper keine Zeitungen gelesen oder Rundfunk gehört? Schon ein Anruf beim Kulturbund in Suhl oder beim Verband in Berlin hätte genügt, und auch die hatten doch wieder ihre IM oder Mitarbeiter der K I. Es bestätigt sich immer wieder, dass die Tschekisten keinen Überblick über ihren Überbau hatten. Da fällt mir nur der Kalauer ein: Höchstes Prinzip der Geheimhaltung bei der Staatssicherheit war: Vor dem Lesen verbrennen. Dümmer ging es nimmer!

Der Genosse Oberstleutnant Heinz schrieb oder ließ schreiben – in nahezu fehlerfreiem Deutsch, was in seinen Birthler-Unterlagen nicht immer ersichtlich war. Die Sekretärinnen hatten meist eine gute Ausbildung, man verdiente ja bei den geheimen Langohren auch nicht schlecht, auf alle Fälle mehr als im Zivilsektor:

Bezirksverwaltung für

Staatssicherheit Suhl                         Suhl, 27. März 1979

Abteilung XX/7                                 Li/He      347/79

KD Hildburghausen

I n f o r m a t i o n

zu

S a l i e r, Hans-Jürgen
611 Hildburghausen, Rosa-Luxemburg-Str. 26
Telefon 4426
tätig als Lehrer an der POS Hildburghausen
Mitglied des Bezirksvorstandes Philatelie des
Kulturbundes der DDR

Leiter des Arbeitskreises „Postgeschichte Thüringen“ 

Inoffiziell wurde bekannt, daß   S a l i e r   zu Personen
des kapitalistischen Auslandes einen umfangreichen Brief-
und Paketverkehr unterhält.
Die Adressen sind in der Anlage beigefügt.

Für den Austausch von Fachliteratur mit z. B. dem Altpost-
sammelverein in der BRD u. a. Verbänden soll angeblich eine

schriftliche Genehmigung vorliegen, die auch den Geschenk-

verkehr betrifft. Nach Äußerungen des S. soll diese Genehmi-

gung vom

Zentralvorstand des Philatelistenverbandes
im KB der DDR
108 Berlin, Charlottenstraße

vom Vorsitzenden des Verbandes, F i s c h e r , Peter, und
des Sekretärs   W ü n s c h e , unterzeichnet sein.

Desweiteren erfolgt die Belieferung von Katalogen, Palmarés
u. a. m. von Leitungen internationaler Ausstellungen (z. B.
Kanada und Luxemburg) über und durch

Prof. Dr. Hans   W e i d l i c h
Baden-Baden
Präsident des Altpostsammelvereins der BRD.

Entsprechend den inoffiziellen Hinweisen kann eingeschätzt
werden, daß   S a l i e r   eine negative Haltung zur Verbands-
arbeit und zu unserem Staat besitzt und durch seine Stellung
im Arbeitskreis persönliche Ausreisen in das NSW anstrebt.
So äußerte S. in bezug auf Philatelieausstellungen im kapita-
listischen Ausland, daß er nicht nur Ausstellungsobjekte per
Post versenden wolle, sondern auch selbst dorthin möchte.

Bezüglich des umfangreichen Briefverkehrs vertritt er die
Meinung, daß er damit den längst fälligen Kulturaustausch
zwischen beiden deutschen Staaten praktiziere, der früher
oder später sowieso vereinbart werde.

Nach Einschätzung der Quelle wird   S a l i e r   in diesen
Auffassungen von Prof. Dr.   W e i d l i c h   und   R i c k e n -
b a c h, Herausgeber einer postalischen Zeitschrift in
Großbritannien unterstützt.

Seine Haltung als Lehrer zu unserem Bildungswesen brachte
S a l i e r   am 13. 1. 1979 zum Ausdruck, daß das Einzige,
was „Honeckers-Alte“ als Volksbildungsminister gekonnt habe,
sei, ein System von Aufpassern zu schaffen und zu organisie-
ren. So wären vor 10 Jahren nur 1/3 so viel im Schuldienst
tätig gewesen als heute. Diese zusätzlichen Kräfte wären
heute jedoch nicht aktive Lehrer, sondern „Fachberater“,
„Beauftragte“ u.a.m., die nicht lehren, sondern schnüffeln
und reglementieren würden. Dieser Zustand würde uns (die
Lehrer) „kaputtmachen“.

Wie aus inoffiziellen Berichten bekannt wurde, leistete S.
im Sommer 1978 (vermutlich August) seinen Reservistendienst
als Soldat in 797 Doberlug-Kirchhain 21551/A ab. Nach seinen eigenen Angaben war S. in der Schreibstube und im Vorzimmer eines Oberst tätig und bearbeitete die gesamte Post. Entsprechend den Äußerungen des   S a l i e r   muß es sich um eine Spezialeinheit handeln.

 

Anlage                                                           Leiter der Abteilung

Aufstellung über bekannt-
gewordene Verbindungen zu
Personen im NSW

(Unterschrift – Kürzel)
H e i n z

Oberstleutnant

 

Noch nicht aufgeklärt werden konnten die Adressen

von:
. Prof. Dr.   W e i d l i c h , Hans
Baden-Baden

Präsident des Altpostsammelvereins der BRD

. R i c k e n b a c h , Peter
Herausgeber einer postalischen Zeitschrift in

Großbritannien

(und weitere)

Einige Anmerkungen zu den tschekistischen Meisterleistungen 

-         Den Genossen hätte auffallen müssen, dass es zum Zeitpunkt in Hildburghausen drei POS gegeben hatte.

-         Selbst beim Lesen zeigten sich bei der „Firma“ Ausfallerscheinungen. Eigentlich muss es heißen: „Deutscher Altbriefsammler-Verein e.V. im Bund Deutscher Philatelisten e.V.“ – Der große Forscher Prof. Dr. Hans A. Weidlich (1909 – 1988), der langjährige Präsident eines der erfolgreichsten Fach-Vereine der Welt, hatte für mich eine Art Patenschaft übernommen und mir auf unterschiedlichsten Wegen Fachliteratur zukommen lassen. Das klappte auch ganz gut, denn die „Kämpfer an der Unsichtbaren Front“ hatten wirklich keine Ahnung von den Dingen.

-         Zu Luxemburg hatte ich nie Kontakte. Aber es war kein Geheimnis, dass ich mit meiner Familie in der Luxemburgstraße wohnte. Zu bemerken wäre, dass ich als Jugendlicher permanenter Hörer des verbotenen Senders Radio Luxemburg war. Vermutlich geriet bei der „Firma“ mit ihrer Überorganisiertheit mal wieder etwas durcheinander.

-         Woher die Genossen diese Meinung hatten, ist nicht nachvollziehbar. Die Verbandsarbeit – mit ihr identifizierte ich mich – hatte große Priorität. So mancher erfolglose Spitzel brauchte eben seine Erfolge, auch wenn man sich gegenseitig beschattete und die Glaubwürdigkeit der eigenen Genossen – wie das bei Geheimdiensten üblich ist – in Zweifel zog und überprüfte. Nun war ich sicherlich nur ein kleines Licht im Fokus von „Horch und Guck“. Was es da an Unfähigkeit und Konstruiertem, um nicht Unfähigkeit zu sagen, gab, ist hinlänglich offenbar geworden, als ich bei Vorbereitungen zu den von mir verlegten oder als Koautor mitverfassten Grenzbüchern  („Grenzerfahrungen“) u. a. tiefer in die Materie eindrang. Der Dilettantismus und die Brutalität kann bei der gegenwärtigen Verklärung des Systems nicht oft genug dargestellt werden.

-         Genosse Litsche fertigte die Unterstreichung. Hier hakte der Meisterspion kräftig nach. Da für mich die Welt und die Liebe zum Verband in Ordnung waren, konnte man mich auch nicht mit noch so freundlichen Worten aus der Reserve locken. Einen guten Instinkt hatte ich und war um meine eigene Freiheit sehr besorgt, wochenlang. Zum Glück passierte nichts.

-         Im Stasi-Jargon ist eine Quelle meist ein „Informeller Mitarbeiter“. In diesem Falle müsste das konkret einer der Sekretäre der Kulturbund-Bezirksleitung oder ein ehemaliger Stasi-Major gewesen sein, der sich in den von mir gegründeten und geleiteten Arbeitskreis Postgeschichte „Thüringen“ eingeschleust hatte und selbst ein philatelistischer Fachmann war. Der wundersam vom Saulus zum Paulus Mutierte ist heute im „Bund Deutscher Philatelisten e.V.“ wieder sehr aktiv.

-         Es war ein Oberstleutnant und kein Oberst. Meine dortige Tätigkeit hätte auch im Stab abgefragt werden können, zumal es in diesem Regiment (Rückwärtige Dienste/Eisenbahntransportwesen) auch eine Verwaltung 2000 (Staatssicherheit) gab. Zum anderen war es nicht die Schreibstube, sondern die Regimentsgeschäftsstelle (Das ist in dem Kapitel „Wehrdienst im ‚zarten Alter’ von 34 Jahren“ nachzulesen.)

-         Der international bekannte Fachpublizist und Herausgeber heißt Peter C. Rickenback und lebt in London. Wie positiv das Wirken in Fachkreisen in Großbritannien und in den USA eingeschätzt wird, ist u. a. in zwei Rezensionen in der Fachzeitschrift „Germania“ (Zeitschrift der Deutschlandsammler in Großbritannien, und in „Philatelic Literature Review“ unter „The Erfurt Thuringia mails after the and of world war II“ nachzulesen. Diese aufgeblasene und um Anerkennung buhlende DDR hätte sich doch selbst an die Brust klopfen müssen. In der Übersetzung heißt es hier u. a.: „Der Suhler Arbeitskreis Postgeschichte „Thüringen“ des Philatelistenverbandes hat bis jetzt vier Bücher veröffentlicht, von denen drei auf nationalen und internationalen Wettbewerben Silbermedaillen erreichten. Dieses, ihr 4. Buch (gemeint ist der Titel „Die Wiederaufnahme des Postverkehrs im Bereich der RPD/OPD Erfurt nach dem 2. Weltkrieg“ von Friedrich-Karl Lutz), dessen bin ich gewiß, wird ihrer Sammlung eine weitere Medaille hinzufügen ... Insbesondere ‚Thüringen’-Sammler und Sammler der OPD-Ausgaben (der Provinzen 1945) werden gut beraten sein, diese Broschüre zu erwerben, in der sie einen preisgünstigen, aber sehr verläßlichen und nützlichen Ratgeber finden werden ...“

-         NSW = Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet

 

Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen Salier
Eigentlich nicht erwähnenswert ...

Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung


 

Feindliche kommunistische Brüder und

ein freiwilliger Gang zur Staatssicherheit

Die KPD (ML) brachte die
DDR-Kommunisten in Schwierigkeiten

(Geschrieben 7. bis 9. September 2011)

© Hans-Jürgen Salier

Es grenzte schon an Schizophrenie, wenn ein Bürger freiwillig zur Staatssicherheit ging. Eine quälende Nacht hatte ich hinter mir. Was war zu tun? Hatte die Stasi eine Falle gestellt? Letztlich handelt es sich bei der Postsendung aus Kiel, die ich an einem Frühsommer-Freitag 1982 im Briefkasten in der Rosa-Luxemburg-Straße 26 fand, um eine kommunistische „Hetzschrift“. Kommunistische „Hetze“ gegen DDR-Kommunisten? Die Konstellation war ungewöhnlich. Aber diese Kommunisten hetzten tatsächlich viel intensiver, als wir es aus Funk und Fernsehen oder heimlich in aus der Bundesrepublik geschmuggelten Zeitungen und Zeitschriften kannten. Bisher gab es nur die böse, böse Hetze der Kapitalisten und Imperialisten, der Bonner Ultras und Kriegstreiber, der Revanchisten, der Ausbeuter und Menschenhändler und die Gegenhetze durch den Chefhetzer Karl Eduard von Schnitzler oder Neues Deutschland, das Zentralorgan aller Oberhetzer oder die anderen hetzenden Partei-Schmierblätter.
Ein unbegreiflicher Gedanke! Also sollen sich doch die ausspähenden Kommunisten mit separatistischen Kommunisten ihren hausgemachten Bruder- oder Richtungskampf liefern. Kommunistische Feinde unter sich oder Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte. Sie waren und sind mir unheimlich, egal wie sie sich heute nennen oder sich als Linke in allen möglichen Spielarten kaschieren. Mein ansonsten toleranter Großvater Ernst, der genügend Erfahrungen mit einheimischen Kommunisten hatte, pflegte rigoros zu sagen: „Einmal Kommunist – immer Lump!“ Diese Haltung begründete sich in der prinzipiellen Ablehnung linker und rechter Extremisten, die nicht nur die Seelen der Menschen verletzten, sondern sie auch geschlachtet haben.
Tags darauf ging ich in Richtung der einstigen Fronveste, in der sich die Kreisdienststelle der Staatssicherheit eingenistet hatte, klingelte und gab dem Stasi-Mann Wudy den Brief. Mein Gegenüber kannte ich. Links neben der Eingangstür befanden sich ein kleiner karg mit Tisch und Stühlen ausgestatteter Besucherraum und das übliche Honecker-Konterfei. Höflich wurde ich eingelassen, und ich betonte, dass es meine staatsbürgerliche Pflicht sei, diesen Brief hier abzugeben. Ich sagte aber auch, dass ich den Absender nicht kenne. Die knappe Frage zurück beantwortete ich ebenso kurz mit dem Hinweis, dass meine Adresse allgemein durch Anzeigen und Fachartikel bekannt sei, zum anderen wäre sie auch im Telefonbuch nachzulesen.
Nachdem ich im Juli 2006 meine Stasi-Unterlagen durchsah, merkte ich, dass ich damals in einer kleinen, aber gefährlichen Lawine gefangen war. Losgetreten hatten sie andere. Ob dieser Brief der Stasi-Postkontrolle durchgerutscht war oder ob er bewusst zugestellt wurde, um mich zu überführen, ließ sich nicht nachvollziehen. Zu meiner Sicherheit war mein spontanes Handeln, zur Stasi zu gehen, die beste Lösung.

Schon einmal befand ich mich in einer ähnlichen Situation, nur die Stasi hatte keine Kenntnis von einer Druckschrift, die ich immer wieder las und sie wie seinen Augapfel hütete. Aus Sicherheitsgründen gab ich sie meiner damals siebzigjährigen Mutter, ihr konnte wohl kaum etwas passieren, „Das Manifest des Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands“ vom Oktober 1977das der Spiegel veröffentlichte und von dem Dissidenten Prof. Dr. Hermann von Berg verfasst wurde. Es erschien auch in broschierten Nachdrucken und sorgte in Ost und West für beträchtliche Turbulenzen und zu erheblichen Verstimmungen im beäugten gespannten Nebeneinander. Das DDR-Außenministerium teilte u. a. mit, weil es in einer großen Propaganda-Kampagne die Welt wissen ließ, das wäre eine Aktion zwischen dem Spiegel und dem Bundesnachrichtendienst. Das Spiegelbüro in „Berlin-Hauptstadt der DDR“ werde mit sofortiger Wirkung geschlossen, und bis 1985 wurde allen Spiegel-Mitarbeitern die Einreise in die DDR verwehrt. Die Geschichte des Manifests der angeblichen DDR-Opposition könnte seitenlang beschrieben werden, allein der Inhalt war wichtig und nicht zu entkräften.

Der zweieinhalb Jahrzehnte ältere Freund Dr. Hans Klutmann, ehemaliger Mitarbeiter des Berliner Senats, hatte sie mir zu einem Treffen in Ost-Berlin mitgebracht, aber nicht im Reisegepäck, sondern mit Klebstreifen auf die Rückenhaut geklebt. Von der Sehnsucht nach Demokratie beseelt, begleiteten mich viele der dort formulierten Gedanken und gaben im stürmischen Herbst 1989 Kraft. – Der 1933 in Mupperg bei Sonneberg geborene Autor Hermann Günter von Berg war in den sechziger Jahren DDR-Geheimdiplomat, u. a. Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen im Presseamt des Vorsitzenden des Ministerrats und Berater von Willi Stoph (1914 – 1999), Teilnehmer der Geheimverhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik, und war an der Ausarbeitung des Grundlagenvertrages maßgeblich beteiligt, 1970 Promotion, seit 1972 Professor an der Humboldt-Universität, 1986 in die Bundesrepublik ausgewiesen. Erst in den neunziger Jahren wurde seine Urheberschaft als Verfasser des Manifests öffentlich. – Nachzulesen ist der gesamte Text des Manifest des Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands unter www.chronik-der-mauer.de.

Eines ist aber sicher und durch entsprechende Stasi-Unterlagen belegt: Noch enger rückte ich in die Observierung der Tschekisten. Aber der Reihe nach:

Der Standardbrief (unter 20 g) im Format DIN 6 enthielt kein Begleitschreiben, sondern eine im DIN A 4-Format gedruckte und auf DIN A 6-Format gefalzte Dünndruckpapier-Zeitung. Sie machte neugierig.
Was eine solche Zeitung enthielt, wird an einem Beispiel aus dem Jahr 1977 erläutert, die sich in meinen Stasiakten befunden hatte, also knapp 20 Jahre nach ihrer Beschlagnahme.
In meinen BStU-Unterlagen befindet sich die Kopie eines Schreibens vom 16. Juni 1982 der Bezirksverwaltung für/Staatssicherheit Suhl/Arbeitsgruppe XXII an die Leiter der Kreisdienststellen. Stasi-Minister Mielke erließ 1979 den Befehl 17/79, dass die Dienststellen eine Namensliste von DDR-Bürgern erhalten, deren Namen und Adressen bei Parteibüros, Kontakt- bzw. Deckadressen der proalbanischen „KPD“ (ML) in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in Berlin (West) bekannt sind. Die dort verzeichneten DDR-Bürger sind als Adressaten für den Erhalt der „KPD“-Hetzschrift „Roter Morgen“ vorgesehen. Es wird weiter verfügt, dass der Personenkreis in den Speicher der jeweiligen Diensteinheit (in dem Falle die Kreisdienststelle Hildburghausen) aufzunehmen sei bzw. bei bereits vorliegender Erfassung als „Adressat der KPD-Hetzschrift – Roter Morgen –“ zu kennzeichnen und wie weiter zu verfahren sei. Das Schreiben wird vom Leiter der Bezirksverwaltung mit seiner Unterschrift bestätigt, L a n g e , Oberst.

Anmerkung
Es handelt es um den nachmaligen Generalmajor Gerhard Lange, der zu den Günstlingen Mielkes zu zählen war. Zur Zeit der Friedlichen Revolution 1989 war er Chef der Bezirksverwaltung Suhl des Ministeriums für Staatssicherheit. Er endete im Januar 1990 durch Suizid.
Um diesen „ministeriellen Schwachsinn“ vor allem für jüngere Leser aufzuhellen, will ich nachfolgend das Schreiben vom 16.06.1982 wörtlich übernehmen und mit Anmerkungen einige Fakten erklären, was es mit Personen, Verfahrensweisen, Abkürzungen usw. auf sich hat. Das Schreiben an die Kreisdienststelle Hildburghausen wurde mit einem gedruckten Formblatt mit dem Hinweis übermittelt „Ohne Anschreiben“. Absender ist am 17.06.1982 die Bezirksverwaltung Suhl des Ministeriums für Staatssicherheit, AKG-Ltr. (Auswertungs- und Kontrollgruppe), Tagebuch-Nr. 81/82 mit dem Betreff „Adressaten d. proalb. KPD (ML) Hetzschrift „Roter Morgen“ ger. an alle KD mit den Hinweisen „1. Zur Kenntnisnahme ... 4. Zur operativen Auswertung ... 6. Zum Verbleib“ und Unterschrift des Majors Hofmann (Arbeitsgruppe „Terrorabwehr“) enthielt eine handschriftliche Liste mit Adressaten. Der Name Hans-Jürgen Salier wird an vierter Stelle genannt, es heißt hier:

4. Salier, Hans-Jürgen
geb. am 02.04.44 in Hildburghausen
PKZ 024244419737
Beruf: Lehrer. POS Josef-Meyer
Familienstand: verheiratet, 2 Kinder
wohnhaft: Hildburghausen, Rosa-Luxemburg-
Str. 26, Tel. 4426
erfaßt: KK KD Hildburghausen
(402 AG XXII)

- Person mit umfangreichen NSW-Verbindungen
im Rahmen seiner philatelistischen Tätigkeit
- 1981 „Roter Morgen (Abs. Volker Altmann. 23
Kiel 1 Kantstr. S. kennt Absender nicht –
vermutet durch Philatelieveröffentlichungen Wohn-
adresse bekannt geworden. ...

 

Bezirksverwaltung für                                  Suhl, 16. Juni 1982

Staatssicherheit Suhl

Arbeitsgruppe XXII

Bestätigt:

Leiter der BV

(Unterschrift)

L a n g e

Oberst

Auf der Grundlage des Befehls 17/79 des Genossen Minister er-
halten Sie in der Anlage eine namentliche Aufstellung von DDR-
Bürgern aus Ihrem Verantwortungsbereich, deren Name und Adressen bei Parteibüros, Kontakt- bzw. Deckadressen der proalbanischen „KPD“ (ML) in der BRD bzw. in WB (West-Berlin, d. Verf.) bekannt sind.

Anmerkungen
- Die KPD wurde 1956 in der Bundesrepublik verboten, sie erstand 1968 wieder als DKP (Deutsche Kommunistische Partei) und wurde wie ihre Vorgängerin im Wesentlichen von der SED finanziert. – Die KPD (ML) – Kommunistische Partei Deutschlands (Marxismus-Leninismus) wurde von dem ehemaligen KPD-Politiker Ernst Aust (1923 – 1985) am 31.12.1968 in Hamburg gegründet. Sie lehnte die DKP als revisionistisch ab und orientierte sich, dem damaligen linken „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik gemäß, nach dem Maoismus. Nach dem Bruch zwischen Albanien und China war für die KPD (ML) das albanische Sozialismusmodell das Vorbild. Auch in der DDR entstand illegal eine Sektion, die vom MfS streng überwacht und mit aller Härte bekämpft wurde. In der Folgezeit bildete sich eine ganze Anzahl von Splittergruppen, die sich aber – nach kommunistischer Art und Weise – gegenseitig bekämpften. Organ der KPD (ML) war die Zeitung „Roter Morgen“. Prominentestes Parteimitglied war der 1947 in Kassel geborene Immobilienmakler und Verleger Bernd Lunkewitz, der 1991 den Aufbau-Verlag kaufte, der eigentlich dem Kulturbund der DDR bzw. der Nachfolgeorganisation gehörte.

- Eine an HJS gerichtete Postsendung aus dem Jahr 1981 mit einem Exemplar „Roter Morgen“ ist mir nicht bekannt. Es müsste sich um einen Schreibfehler der Dienststelle des MfS handeln.

- Terrorabwehr F 402 Karteikarte der Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskarte (VSH-Kartei), Hinweiskarte (DIN A 6, Seite) VSH – Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei. Hierbei handelt es sich um den wichtigsten Informationsspeicher der operativen Diensteinheit. Sie enthält Daten und Angaben, wo Informationen über die betreffende Person gespeichert sind, welche Personen im Zentralen Speicher (Abt. XII) erfasst sind und welche Information zur jeweiligen Person mit anderen Diensteinheiten ausgetauscht worden sind.

Die in der Aufstellung enthaltenen DDR-Bürger sind als Adressa-
ten für den Erhalt der „KPD“-Hetzschrift „Roter Morgen“ vorgesehen.

Der genannte Personenkreis ist in den Speicher Ihrer Dienstein-
heit aufzunehmen bzw. bei bereits vorliegender Erfassung als
„Adressat der KPD-Hetzschrift – Roter Morgen –“ zu kennzeichnen.

Über Personen der o.g. Aufstellung, die in Ihrem Speicher erfaßt

sind, bitten wir unter kurzer Nennung der Sachverhalte die

AG XXII mittels Form 402 zu informieren. Weiterhin bitten wir um kurzfristige Übermittlung der KMK-Angaben auf den beiliegenden Formularen.

Leiter der AG XXII

(Unterschrift)

H o f m a n n

Major

Anmerkung
KMK-Angaben – KMK = Kreismeldekartei. Personendatenträger in den Abteilungen Pass- und Meldewesen bei den VPKA (Volkspolizeikreisamt)

THEMEN UND TEXTAUSZÜGE AUS DER ZEITUNG ROTER MORGEN 1977

Anmerkungen
- Diese Zeitungsausgabe fand ich in meinen Unterlagen der BStU mit einer Kopie des Versandumschlags vor. Die Postsendung (07.12.1977) erreichte mich nicht, sie wurde von der Staatssicherheit beschlagnahmt. Absender ist eine Frau oder ein Herr „Weisfeld, Helsingborg 11, 28 Bremen“, eine Person, die mir vollkommen unbekannt ist. Also war ich zu diesem Zeitpunkt als Adressat des kommunistischen Blattes bereits bekannt und stand deshalb unter Beobachtung. Erst fünf Jahre später sollte mich eine solche ominöse Sendung erreichen, die ich aus persönlichen Sicherheitsgründen zur Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit brachte.
- Nach der Geheimrede Nikita S. Chruschtschows im Februar 1956 und dem Bekanntwerden der Auswüchse des millionenfachen stalinistischen Terrors wurde Stalin aus dem „Viergestirn“ herausgenommen. Die SED-Zeitungen beispielsweise „schmückte“ neben dem Titel nur noch das „Dreigestirn“ Marx, Engels, Lenin als Symbol. – Ausgerechnet Chruschtschow, der selbst unendlich viel Blut an seinen Händen kleben hatte, räumte mit der Reliquie Stalin auf. – Der Kommunismus ist bekanntlich die Weltbewegung, die mehr ihrer eigenen Führer ermordete und isolierte als von ihren tatsächlichen Feinden vernichtet wurden. Man geht in der ehemaligen Sowjetunion von einer Million Ermordeter und 7 – 8 Millionen vor allem in den Gulags darbender kommunistischer Funktionäre aus. In der Sowjetunion unter Stalin sind zwischen 1935 und Juli 1940 knapp 20.000.000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet worden, von denen ein Drittel den Tod fand. Weltweit wird die Zahl der Menschen, die insgesamt dem kommunistischen Terror mit ihrem Leben bezahlen mussten, auf 90 bis 100 Millionen beziffert. Wie viele hundert Millionen Menschen geistig und körperlich geschunden und gequält, ihrer Lebensqualität beraubt oder eingeschränkt wurden, ist nie „ausgerechnet“ worden.

ROTER OKTOBER

Ausgabe DDR             Oktober 1977               Solidaritätspreis 30 Pf. 

Oben stand wie auf einem Schriftband: Lesen – weitergeben – lesen, darunter in Abwandlung der Marx-Engels-Phrase Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt Euch!Der Zeitungstitel in großen zweizeiligen Lettern ROTER MORGEN,daneben die bekannten kommunistischen Ikonen als Symbol der Partei – nicht wie die DDR-Bürger seit der 2. Hälfte der 50er Jahre gewohnt mit Marx/Engels/Lenin, sondern mit den fünf Gespenstern, die die Welt veränderten: Marx/Engels/Lenin/Stalin/Mao Tse-tung.

Es lebe der Rote Oktober
Nieder mit den neuen Kremlzaren!

(Der zweispaltige Aufmacher, der auf S. 4 und 5 fortgesetzt wird, feiert die welthistorische Bedeutung der Oktoberrevolution und den Einfluss auf das 20. Jahrhundert.

Es wird aufgefordert:) „Verteidigt das revolutionäre Erbe Lenins und Stalins.“ Zum DDR-Sozialismus heißt es: Was ist vom Sozialismus in der DDR heute geblieben? Nichts außer leeren Worten und Versprechungen, die auf dem Papier stehen, während die Wirklichkeit ganz anders aussieht. Die Verräter um Ulbricht und Honecker haben die Diktatur des Proletariats vernichtet und den Kapitalismus vollständig restauriert.Heute werden die Arbeiter und Bauern in der DDR wieder ausgeplündert unterdrückt wie in den westlichen Staaten. Nur in Worten und einzelnen Formen, nicht aber dem Wesen nach unterscheidet sich die Ausbeutung hier von der in den westlichen kapitalistischen Staaten. Deutlicher als die schönen Worte vom „Sozialismus“ und vom „Arbeiter- und Bauernstaat“ zeigt die brutale Unterdrückung der Arbeiterklasse, daß nicht das Proletariat, sondern für die neue Bourgeoisie die Staatsmacht in den Händen hält.

In der DDR ist die politische Unterdrückung gegenwärtig noch schärfer als in Westdeutschland. Unter dem Vorwand, die Errungenschaften des Sozialismus zu schützen, unterdrückt die neue Bourgeoisie jeden revolutionären Widerstand gegen ihre Ausbeuterherrschaft, hat sie eine faschistische Diktatur errichtet. Dieser angebliche Arbeiter- und Bauernstaat versperrt durch Mauer, Stacheldraht, Minengürtel und Schießbefehl seine Grenze, nicht etwa zur Abwehr der westlichen Imperialisten, sondern damit ihm die Arbeiter und Bauern nicht massenhaft den Rücken kehren können.
Honecker und die SED-Führung haben nicht nur den Sozialismus in der DDR vernichtet. Sie haben auch die Einheit der deutschen Nation mit Füßen getreten und sind heute die eifrigsten Befürworter der Spaltung Deutschlands. Damit haben sie zugleich den großen Kampf der deutschen Kommunisten und Patrioten, die im Kampf gegen den US-Imperialismus und die wiedererstarkende westdeutsche Monopolbourgeoisie, immer die Einheit der deutschen Nation verteidigten, verraten und verkauft. Um ihre Stellung als Ausplünderer der Arbeiterklasse und der Werktätigen in der DDR zu halten, haben sie sich unter die Fittiche des russischen Sozialimperialismus begeben. Mögen sie sich noch so sehr als Vertreter der Arbeiterklasse und des Volkes aufspielen, sie sind lediglich ein Marionettenregime der russischen Sozialimperialisten. Ihre Herrschaft steht und fällt mit den russischen Besatzern.
Auf der 1. Seite ist noch ein Einspalter zu finden (wird auf S. 3 fortgesetzt), der hart mit der Honecker-Clique wegen der Einführung der neuen Grundlöhne abrechnet. Das sei verschärfte Arbeitshetze und Ausbeutung, wird betont. Auch des 1. Todestages Mao Tse-tungs gedenkt man, Fortsetzung S. 8. – Der ganzseitige Artikel auf S. 2 steht unter der Schlagzeile „Von Sozialismus kann keine Rede mehr sein“ (gemeint ist die SED). Eine Glosse über „Erichs Krönung“, über die angeblich stabilen Preise in der DDR und die miserablen Kaffee-Mixturen endet mit dem Satz: „Zerschlagen wir die heuchlerische Fratze der Honecker und Konsorten, die nichts unversucht lassen, um unser Volk restlos auszuplündern!“ – Die Seite 6 beschäftigt sich unter der Überschrift „Honeckers Wohnungsbauprogramm – Wohnungselend für die Werktätigen“ mit der misslungenen Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem in der DDR. Auf S. 7 wird ein Interview eines illegalen Genossen der Sektion DDR unter der Überschrift „Deine scharfe Waffe – Roter Morgen“ geführt. Die Seite 8 schließt mit dem Beitrag „Verteidigt das revolutionäre Erbe des Genossen Mao Tsetung“.
Im „Keller“ der Seite 5 werden die Städte in der Bundesrepublik mit Parteibüros der KPD/ML (genaue Adressen, Tel.-Nummern, Sprechzeiten) genannt und in einer Übersicht wird der Hinweis gebracht „Hört Radio Tirana“ mit konkreten Daten zu Sendezeiten und Wellenlängen.

Anmerkung
Einzelne DDR-Bürger hatten den Sender Tirana, zwar schlecht zu empfangen, aber immerhin mit brisanten Meldungen und immer westlicher Musik längst für sich entdeckt. Es handelte sich um den Sender „Radio Tirana 3“, das Auslandsrundfunkprogramm Albaniens. In der Zeit des Kalten Krieges, als Albanien isoliert war und von der Volksrepublik China ideologisch beeinflusst wurde, sendete Radio Tirana in bis zu 23 Sprachen kommunistische Propaganda der albanischen Regierung gegen die „westliche Welt“, aber auch gegen die einst „untrennbar verbündeten“ kommunistischen Brüder, mit denen das Land aber längst gebrochen hatte.

In den Unterlagen der Birthler-Behörde (heute: Jahn-Behörde) befinden sich zwei DIN A 6-Kuverts des mir unbekannten Volker Altmann aus Kiel, einer vom Juni 1982 mit Maschinenstempel-Werbung der Bundespost für die „Kieler Woche“. Das Datum ist nicht mehr genau auszumachen, denn das Postwertzeichen hatte vermutlich ein fleißiger Briefmarkensammler bei der „Firma“ entfernt. Die Postsendung hatte ich damals komplett abgeliefert. Auf dem letzten Umschlag (mit Postwertzeichen) datiert der Poststempel von Kiel auf den 8.10.1982. Diese Sendung hatte man bei der Stasi-Postkontrolle beschlagnahmt und mir nicht zugestellt. Das Dienstleistungsunternehmen Staatssicherheit im Dienste der SED hatte Vorrang gegenüber dem Dienstleistungsunternehmen Deutsche Post (DDR). Der unfreie Postkunde dieser angeblichen demokratischen Republik war zum Abschöpfen interessant, mehr nicht.

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Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen Salier
Eigentlich nicht erwähnenswert...

Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung



Noch eine Westreise und eine „Buchpremiere“

® Hans-Jürgen Salier

Notizen aus der ersten Novemberdekade 1989

(Geschrieben 1. bis 4. Oktober 2011)

Das von Peter Fischer, Berlin, und mir geschriebene Buch Klassische Briefmarken –Geschichten zum 150-jährigen Jubiläum sollte zur Ausstellung „PHILATELIE IN DER DDR“ auf der PHILATELIA Köln 89 (3. bis 5. November 1989) erscheinen. Eine Premiere wurde nicht geplant, denn dann hätte man die Reise nach Köln finanzieren müssen. Von diesem Termin erhielt ich Ende September von Verlagsdirektor Dr. Harald Böttcher (transpress VEB Verlag für Verkehrswesen Berlin) Kenntnis: „Die Devisensituation ist für den Verlag derart angespannt, die Reise können wir dir nicht finanzieren. Sieh mal zu, wie du das arrangieren kannst.“ Eine Lösung sah ich schon. Es gab Verwandtschaft zweiten Grades im bergischen Wuppertal. Und es gab eine Reise-Verordnung, um die nicht mehr so sozialismusgläubigen DDR-Bürger etwas ruhiger zu stellen. Die eingesperrten Bürger wollten reisen. Vielleicht gehörte diese Reiseerleichterung zu den in Geheimverhandlungen erzwungenen Zugeständnissen. Überlebensnotwendige Kredite aus der Bundesrepublik waren inzwischen ein Lockmittel für den „Klassenfeind“. Auch wenn ich politisch motivierte Kredite verabscheute, weil sie den Untergang der DDR hinauszögerten, waren sie in dieser Situation für mich sehr nützlich. Pragmatik. Die Reise-Verordnung besagte, dass man u. a. bei Todesfällen in der Verwandtschaft bis zum soundsovielsten Grad noch bis zu einem Vierteljahr später reisen durfte. Die Möglichkeit nutzte ich, denn die angeheiratete Tante war Anfang August 1989 verstorben. Für die Beantragung von Westreisen wurde so manches „zurechtgerückt“.

Ende Oktober 1989 saßen die Reisenden ziemlich locker und ohne Beklemmungen im Interzonenzug – nicht verkrampft und schweigsam wie Monate zuvor. Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren geld- und demogemäß anders gestrickt. Die klassenbewussten Genossen verbreiteten wegen der Angst keine Angst, sie waren gegen die Gewohnheit plötzlich höflich. Wer versteht noch diese Dialektik?

Stasispitzel waren weiterhin in den Reichsbahnwaggons Richtung Gerstungen – Bebra zur Weiterfahrt in die Bundesrepublik anzutreffen. In der DDR gab es letztlich Vollbeschäftigung. Jeder hatte in dem sozialistischen Vorzeigestaat eine Aufgabe, auch wenn er Lump spielen musste. Da man in „Feindesland“ fuhr, wurden die Eisenbahntüren auch noch von außen verriegelt. Ein Vaterlandsverräter hätte die Gunst der Stunde nutzen können. Ein Aus- oder Zusteigen im komplizierten Grenzbereich um Eisenach war verboten, sogar lebensgefährlich. Es gab ein ausgeklügeltes System an Sicherheitsmaßnahmen. Zum anderen war die Absicherung durch die Passkontrolleinheiten (PKE) der Stasi in den Uniformen der Grenztruppen und der Transportpolizei gegeben. Niemand aber nahm diese Typen Ende Oktober 1989 noch richtig wahr. Die Menschen hatten längst begonnen, selbstbewusster zu denken und mit den Füßen abzustimmen. Nur Träumer und Liebhaber des DDR-Sozialismus nahmen ihr Leben selbst nicht in die Hand. Die Zwangsehe mit der DDR stand auf dem Prüfstand und wurde befreiend gelöst. Scheidung mit Begeisterung – ohne Anwalt. Wenige Wochen zuvor waren die martialisch auftretenden Grenzwächter und die bewaffneten Organe insgesamt mehr als gefürchtet. Für unsere Brüder und Schwestern im Westen waren alle Uniformierten Vopos und Stasis und alle Autos Trabis. Die Stimmung war heute anders. Plötzlich saßen keine fremden Menschen im Abteil. Man schien sich vertraut zu sein. Es wurde gelacht. Selbst maßvolle politische DDR-Witze wurden erzählt und Reiseziele besprochen, aber auch über die andere politische Kultur und Freiheit in der Bundesrepublik debattierte man verhalten. Den Reisenden war jetzt ziemlich egal, ob vielleicht ein Spitzel neben ihm saß. Inzwischen lebten wir in einer beinahe anderen DDR. Die Herrschenden hatten Angst, die Nerven lagen blank, nicht nur wegen der Leipziger Ereignisse. Die allmächtige Sowjetunion war von Glasnost und Perestroika „beherrscht“, die tapferen Polen mit ihrem Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa hatten in den achtziger Jahren mit ihrem Widerstand längst Weltsympathie erworben, Papst Johannes Paul II. war ein entschiedener Gegner des Kommunismus, US-Präsident Ronald Reagan forderte am 12. Juni 1987 in Berlin mit fester Stimme den Jahrhundertsatz „Come here to this gate! Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!“... Ungarn durchschnitt den Stacheldraht des Eisernen Vorhangs, die Staatsmänner Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher rückten nicht ab vom Ziel des Grundgesetzes, in das die Einheit des deutschen Vaterlandes festgeschrieben war. – Unglaubliches ereignete sich in den neunundachtziger Herbsttagen: Botschaftsbesetzungen, massenhaft Demonstrationen selbst im tiefsten Provinznest, das Wunder der Heldenstadt Leipzig, Hunderte Städte und Dörfer mit aufmüpfigen und systemkritischen Bürgern, bewunderte Solidarität nicht nur in der freien Welt und disziplinierte und selbstbewusste DDR-Bürger. Die Kontrolleure waren beinahe zuvorkommend. Es wurde nicht mehr gefilzt und geschnauzt, sondern nett gefragt und niemand der gelernten DDR-Bürger war sonderlich beeindruckt. Das Leben machte plötzlich Spaß und Herzinfarktgefahr drohte nicht wegen politischer Zwänge.

In der Verwandtschaft gab es große Freude. man kannte sich von Besuchen und Familienfesten. Es gab Postsendungen und Telefonate. Mir wurden eine großartige Gastfreundschaft und nächtelange Gespräche zuteil. Ich kam mir wie eine Tonband-Endlosschleife vor. Überall wurde gefragt, wie es in der DDR weitergehe. Zudem hatte ich im bergischen Land noch zwei leistungsstarke Tauschpartner für postgeschichtliche Themen und Fachliteratur. Auch sie besuchte ich. Es gab ein Wiedersehen mit einem Rechtsanwalt und Tauschfreund in Düsseldorf, mit Freunden in Karlsruhe und nahe Pirmasens, nur knapp zehn Autominuten von der französischen Grenze entfernt. Dort holten wir für das Frühstück übrigens die wunderbaren französischen Weißbäckereien und die leckeren Pastetchen, und das alles ohne Visum. Bevor die PHILATELIA in Köln an die Reihe kam, besuchte ich noch einen Freund und Tauschpartner in Oberursel, den ich seit 1958 kannte. Die Welt hätte ich umarmen können.

Dann kam der wichtige 3. November 1989, ein Freitag, und die Fahrt zum Kölner Messegelände. Auch bei dieser zehntägigen Reise war Ausschlafen nicht angesagt. Die Ereignisse und Begegnungen wurden aufgesaugt. Zu lange lebten wir in staatlich verordneter Abstinenz. Mit einem Cousin fuhr ich per Bundesbahn nach Köln. Bereits vor der offiziellen Eröffnung der Briefmarkenmesse mit der DDR-Schau waren wir da. Vor dem Eintritt in das noch verschlossene Messegelände großes Erstaunen. „Ist das nicht ‚Ben Wisch’?“ Ja, es war Hans-Jürgen Wischnewski (1922 – 2005). Um den „Feuerwehrmann der Nation“ drei Bodyguards, ein hoher Sicherheitsaufwand für einen alten politischen Haudegen, der gleichsam in der Welt geschätzt und gefürchtet war. Feinde der Extremisten bedürfen immer der Sicherheit. Der ehemalige Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Kabinett Kiesinger und Staatsminister bei Brandt und Schmidt wurde mit seinen Sondermissionen in Afrika, im arabischen Raum und in Südamerika zu einem weltbekannten Politiker, manchmal sicherlich auch umstritten, aber immer glaubwürdig. Jeder weiß, wer er ist, wenn man das Schlagwort „Held von Mogadischu“ hört. Ein SPD-Politiker, der sich klar vom Kommunismus abgrenzte, ein Mensch von Friedensnobelpreis-Format. Aber auch im Hobbybereich hatte ich in geschmuggelten Fachzeitschriften eine Menge Kolumnen von Wischnewski über die Philatelie und vor allem über seine berühmte Deutschlandsammlung gelesen, vor allem auch Altdeutsche Staaten. Ein wunderbares und kenntnisreiches Philateliebuch hatte er später verfasst: „150 Jahre Deutschland auf Briefmarken“. Von ihm stammt das Zitat: „Briefmarken sind das Geschichtsbuch eines Landes.“ Das Vorwort schrieb sein Freund und Weggefährte Helmut Schmidt. Durch Zufall ergab sich ein kurzes Gespräch. Er sagte, und da war ich mehr als stolz, dass das 1977 von Dr. Reum und mir verfasste Buch „Die Thurn und Taxisschen Ortsaufgabestempel in Thüringen“ in seiner Bibliothek stehe, dass es ihm vor allem wegen der Kompliziertheit der Kleinstaaterei auf Thüringer Gebiet beim Sammeln sehr geholfen hätte. Wir sprachen noch kurz über das Buch mit Peter Fischer „150 Jahre Briefmarken“ und orakelten hoffnungsvoll zur Perspektive des deutschen Vaterlandes. Er sah die deutsche Einheit voraus.

Es ist nicht zu glauben und bedeutungsvolle Ereignisse sind manchmal mehr Zufall als steuerbar. Wenige Minuten später kam es zu einer weiteren sternstundenartigen Begegnung. Das mehrmalige Zusammentreffen und Vier-Augen-Gespräche mit Fritz Walter, dem „Helden von Bern“, 1954, und später Ehrenspielführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Viele Fußballfans werden mich auch noch ein Vierteljahrhundert später beneiden. Große Persönlichkeiten sind manchmal noch einfacher als der gute Freund von nebenan. Ein Offizieller wollte mir den Gast vorstellen. Aber das musste nicht sein. Beide hatten schon „einen guten Draht“ zueinander gefunden und waren schnell in angeregtem Gespräch. Das war mehr als nur „small talk“. Fritz Walter kümmerte sich an diesem Tag im Auftrag der Messegesellschaft und der DDR-Ausstellungsleitung um die Besucher, und das tat er mit der ihm eigenen Bescheidenheit, aber mit charmanter Leidenschaft. Immer wieder wollte er wissen, was in der DDR geschieht. Sehr viel Zuversichtliches konnte ich ihm erzählen. In der Nachbarschaft Hildburghausens auf westlicher Seite hatte er sich schon wiederholt aufgehalten. Die älteren Westfernsehgucker wissen es noch: Für eine auch in Coburg ansässige Firma betrieb er in den sechziger und siebziger Jahren Fernsehwerbung. Auch Werner Bergmann, der in Häselrieth gelebt hatte, der erste FIFA-Schiedsrichter der DDR, war ihm bekannt. Am Ende des Tages schenkte er mir das großformatige Buch „Fußball-Weltmeisterschaft 1986. Ein Tagebuch, Mexico86“ mit Widmung: „Alles Gute für Hans-Jürgen!

Ihr Fritz Walter – 3.11.89.“

In seinem Leben habe ich immer Bücher gesammelt, die teils auch von bedeutenden Leuten signiert wurden. Dieses Buch hat inzwischen einen wichtigen Platz gefunden, weil Fritz Walter mir als Sportler und Mensch sehr wichtig ist.

Tags darauf war es die mit sechs olympischen Goldmedaillen, insgesamt 22 internationalen Titelgewinnen, wohl erfolgreichste deutsche Schwimmerin bis 1989 aus der DDR und heutige ZDF-Moderatorin, Kristin Otto. Die 1,85 m große bildhübsche Supersportlerin versah ihre Aufgabe souverän. Nicht nur bei Philatelie und Postgeschichte konnte ich mitreden, sondern die Schwimmerei war mir bekanntlich auch nicht unbekannt.

Es gab noch keinen Publikumsverkehr in der repräsentativ gestalteten DDR-Ausstellung, die kurze Zeit später viele tausend Gäste zählte. Neugierig ging ich zum Messestand, selbstverständlich war ich sehr gespannt, wie das Buch Klassische Briefmarken – Geschichten zum 150jährigen Jubiläum aussieht und wie es beim Publikum ankommt. Es kam in einer Gesamtauflage von 11.000 Exemplaren auf den Markt, Teilauflagen in Leder (DM 50,00) und in Ephalin (DM 30,00) und im Schuber. Für den VEB Philatelie Wermsdorf war ich als Mitautor nicht sonderlich interessant. Für diese Sozialisten war nur Bares Wahres. Niemand hatte ihm gesagt, wer eigentlich hier in Köln das Sagen hatte: die Außenhandelsorgane der DDR! Aber das war vermutlich seiner Naivität geschuldet. Freundlich wurde ich begrüßt und da und dort mal den Besuchern vorgestellt. Die Stasi-Firma interessierte nur gute Umsätze gegen Devisen für die klammen DDR-Kassen. Ich mischte mich lieber unter das interessierte Publikum aus West und Ost, und jeder lud jeden zum Kaffee oder Wasser ein. Da kam keine Müdigkeit auf.

Bei Jahre späterer Betrachtung und der inzwischen offen gelegten Fakten war diese Ausstellung eine Verkaufsausstellung, vielleicht auch für Geheimkonten in der Schweiz, in Österreich oder sonstwo – für den Tag X. Mit vielen Kulturschwüren der deutschen Vergangenheit und dem wertvollen Sammelgut verdienstvoller Sammler und Forscher der DDR sowie Museen und Archiven hatte man eine beachtenswerte Schau zusammengestellt, zu der es auch – man bedenke das Novum – zwei DDR-Ganzsachen (Postkarten mit Wertstempeleindruck der Deutschen Post der DDR) gab und aller Welt verkündete, dass zwischen der DDR und der Bundesrepublik alles in bester Ordnung wäre. Staffage. Objektiv war nichts in Ordnung. Der VEB Philatelie Wermsdorf, 1962 von Gert Neumann gegründet und 1972 in einen VEB umgewandelt, hatte die finanzielle Federführung. Für Sammler mit Verstand war das Geschäftsgebaren dieser Firma in der DDR denkenden Sammlern nicht geheuer. Zur DDR-Zeit sprach ich immer wieder mit Sammlern, die ihre Sammlungen oder Teile daraus dorthin verkaufen wollten und warnte davor. Nicht etwa, weil die Preise nicht korrekt gewesen wären, sondern weil das gesamte Material gegen Devisen nach dem Westen verschoben wurde und nichts wieder davon auf den DDR-Markt kam. Heute wissen wir das eindeutig. Seit Mai 1985 wurde dieser VEB der Berliner KoKo-Zentrale unterstellt und eingegliedert in die „Kunst- und Antiquitäten GmbH“. Dieses Szenarium wurde am 29. November 1985 vom DDR-Ministerrat durch einen Beschluss gedeckelt, der am 1. Januar 1986 wirksam wurde. Die Firma unter dem Stasi-Oberst im Range eines Staatsekretärs, Dr. Alexander Schalck-Golodkowski, verkaufte gigantische Mengen an Briefmarken, postalischen Belegen und philatelistischen Sammelgegenständen nach dem Westen, selbst das rätselhafte Stasi-Gold. Vor allem finanziell ertragreich waren die konfiszierten, enteigneten und abgepressten Sammlungen bedeutender DDR-Philatelisten, von Republik-Flüchtlingen, vom DDR-Zoll im Briefverkehr beschlagnahmte Sendungen. Palettenweise wurden druckfrische DDR-Postwertzeichen auf den internationalen Markt geworfen, besonders die in der DDR verbotenen Nazimarken, die im Arbeiter-und-Bauern-Staat lagernden riesigen Bestände der ehemaligen Reichsdruckerei. Selbst eine der umfangreichsten Sammlungen zur Nazizeit mit allergrößten Seltenheiten, ausgerechnet vom ersten DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck zusammengetragen, fand 1983 den Weg nach Wermsdorf. Die beiden Töchter Piecks wollten sich vermutlich den Lebensabend bei nicht so üppiger Rente verschönern. Die DDR verkaufte diese in der DDR verbotenen Sammelgegenstände mit Riesengewinn auf dem sehr aufnahmefähigen Westmarkt. Wäre ich mit dem Verkauf einer einzigen Hitlermarke erwischt worden, hätte man sicherlich meine Sammlungen beschlagnahmt und dann anschließend nach dem Westen verscherbelt. Vielleicht hätten sie mich auch noch eingesperrt und nach dem Westen verkauft. Der SED-Menschenhandel war ein einträgliches Geschäft in den Ost-West-Beziehungen. Dieser Staat war nicht sozial, sondern asozial. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Hier funktionierte die Ware-Geld-Beziehung in der DDR, genügend Gutmenschen zur Duldung dieser Verbrechen gab es in beiden deutschen Teilstaaten. Die Instrumentarien des Kapitalismus hatten fest gegriffen, ja die Einheitsparteisozialisten hatten sie in (kriminellen) Bereichen sogar noch weit übertroffen. Ich denke nur an den Autoschwindel und die korrupten Machenschaften bis hin zum Brutalsten, was sich dieser angeblich so soziale Arbeiter-und-Bauern-Staat geleistet hat, wie den erwähnten hunderttausendfachen Menschenhandel.

Um die Machenschaften und das Geschäftsgebaren der Kommunisten zu verschleiern, gab es in Ost-Berlin ein Sonder-Zollamt. – Auch treue Kunden aus dem sozialistischen Herrschaftsbereich waren als Kunden des VEB Philatelie Wermsdorf zur Genüge vorhanden, wie der Volkskammerpräsident Gerald Götting (DDR-CDU) und der sowjetische Briefmarkenfreund, KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew, der vor allem bei seltenen Zeppelin-Ausgaben und -Flugbelegen aus dem Hause Wermsdorf ins Schwärmen kam. Das kommunistische Bruderherz wurde nicht nur von seinem Spießgesellen Honecker abgeschleckt, sondern musste auch gegen Devisenzahlungen mit wertvollen philatelistischen Belegen befriedigt werden. Trotz inniger schmatzender Küsse war er bei seinen teuren Genossen gefürchtet. Es wäre ein reichlich abendfüllendes Programm, weitere Details darzustellen. VEB Philatelie Wermsdorf, das Stasi-Unternehmen, ging später in der Bundespost auf und nannte sich Deutsche Postphilatelie GmbH, Spezialisten hatte dieses Unternehmen in genügender Zahl. Die offiziellen Umsätze dieser Firma VEB Philatelie Wermsdorf sind nicht bekannt. Die wenigen Insider, die inzwischen geplaudert haben, gehen seit den siebziger Jahren von ein oder zwei Milliarden D-Mark aus ... Es stellt sich immer wieder eine Frage: Was war an diesem Staat DDR wirklich bewahrenswert?

Die PHILATELIA wurde zu einem großen Treffen der deutschen Philatelistenfamilie, als wenn es nie eine Trennung gegeben hätte. Tauschpartner lernten sich persönlich kennen oder feierten nach Jahren der Trennung ein Wiedersehen. Gemeinsam mit Wolfram Grallert, den ich erst wenige Tage vorher in Leipzig und im Zentralvorstand in Berlin traf, wir arbeiteten zum Zeitpunkt an einem deutsch-deutschen Philateliekompendium (Philatelie in Übersichten) diskutierten, planten und führten gegenseitig unsere Bekannten zusammen, die wir meist nur vom Namen her oder aus der Fachliteratur kannten. Zwischen den Funktionären der beiden deutschen Verbände und den nach Köln gereisten DDR-Philatelisten gab es keine Abgrenzung oder Ressentiments. Die obligatorischen DDR-Aufpasser, denen man ihre Mission meist ohne Kennzeichnung ansah, kamen sich in der Messehalle und in den Räumlichkeiten ziemlich hilflos und armselig vor. Zu übersehen war aber auch nicht, wie sich stramme Genossen in Position brachten und sich förmlich bei den Noch-nicht-Partnern der Bundesrepublik anbiederten. Das war in den folgenden Monaten oft zu sehen, so auch im Frühjahr 1990, als ich mit meinem Freund Walter Fischer aus Rodach bei einer philatelistischen Großveranstaltung im fränkischen Forchheim kurz mit dem Präsidenten des Bundes Deutscher Philatelisten, Michael Adler, wegen gemeinsamer Projekte ein kurzes Gespräch führte. Die strammen IM aus dem Verband waren die ersten Gesprächspartner. Spätestens seit diesem Zeitpunkt zog ich mich aus der „offiziellen“ Philatelie zurück, auch wenn dann andere Akzente beim Neuanfang nach dem Zusammenbruch der DDR gesetzt werden mussten. Es blieb kaum noch Zeit für Hobbys. Sammlerfreundschaften wurden abgebrochen. Aber meine umfangreiche Stasiakte, die viele Namen und Adressen auflistete, versöhnte mich wieder, hatte ich doch inzwischen mit alten Freunden telefonisch oder durch E-Mails Kontakt aufgenommen. Also nicht, der Stasi sei Dank! Dann müsste ich auch schreiben, dass ich ohne die DDR viele dieser wunderbaren Menschen gar nicht kennengelernt hätte.

Der Abschied aus Wuppertal war nicht schmerzlich, gab es doch bald einen erhofften gemeinsamen Weg in die Zukunft – wenn auch noch mit politischen Unwägbarkeiten behaftet. Seit Jahren fühlte ich das. Jetzt müssen wir zusammenstehen und unsere Kräfte verdoppeln und sie vermehrten sich in den nächsten Wochen.

Eine sentimentale Heulsuse bin ich nicht, aber auf der Rückfahrt mit dem Intercity in Richtung Würzburg hatte ich Tränen in den Augen. Der Zugbegleiter fragte mich nach meinem Befinden. Die Situation war mir nicht peinlich. Der Staat DDR, der längst nicht mehr mein Vaterland war, hatte mich in grenzenlose Wut versetzt, ich weinte.

Einen Tag nach Rückkehr aus der Bundesrepublik und drei Tage vor Fall von Mauer und Stacheldraht sandte ich einen handschriftlichen Brief an meinen langjährigen Freund, den Geschäftsführer des Bundes Deutscher Philatelisten e.V. (BDPh), Wolfgang Fendler aus Friedrichsdorf im Taunus, wenige Kilometer von der Mainmetropole Frankfurt entfernt. In Köln musste unser geplantes Treffen vertagt werden, weil Wolfgang Fendler für den Verband andere Verpflichtungen wahrnehmen musste. Ein Jahr zuvor war ich Gast bei Familie Fendler in Friedrichsdorf. Fendler war Macher im Bund Deutscher Philatelisten. Ihn hatte ich als wunderbaren Menschen kennen gelernt: kompetent, bescheiden, aber mit klarer Linie und nicht elitär. Er war Träger der Richard-Renner-Medaille (2002) und wurde 2007 posthum mit der jährlich nur einmal vergebenen Verdienstnadel in Gold geehrt. In meinen Unterlagen finden sich noch gut und gerne weit mehr als 50 Briefe von ihm. Da ist kein Brief in eine Schreibmaschine diktiert, sondern die teils sehr umfängliche Korrespondenz war handschriftlich verfasst worden. Das hatte er sich nie nehmen lassen. 20 Jahre war er Geschäftsführer des Bundes Deutscher Philatelisten e.V. gewesen. Eine sehr enge und respektvolle Sammlerfreundschaft entstand. Auch Wolfgang Fendler, der in seiner Funktion restlos ausgelastet gewesen war, der durch die Welt jettete, nahm sich für unsere Familie und unsere Sammelgebiete sehr viel Zeit. Die Geschichte der deutschen Philatelie, vor allem die „Deutschen Philatelistentage“ waren sein Thema gewesen, hier hatte er geforscht und publiziert. Mit Beleg- und Datenmaterial hatte ich ihm geholfen, er dagegen unterstützte mich beim Aufbau meiner Schweiz-Sammlung. 1976 war Familie Fendler für drei Tage Gast in der Luxemburgstraße in Hildburghausen gewesen. Die Staatssicherheit war nie dahinter gekommen, denn polizeilich mit entsprechendem Eintrag in das „Hausbuch“ waren Fendlers als Neffe und Nichte meiner Mutter polizeilich gemeldet gewesen.

In der Stasiakte fand ich meinen Brief vom 6. November 1989 an Wolfgang Fendler vor. Einen Tag nach seiner Rückkehr von der PHILATELIA in Köln hatte ich ihn geschrieben. Auch wenn die DDR vor dem nicht übersehbaren Zusammenbruch gestanden hatte, war die Staatssicherheit noch immer in treuer Pflichterfüllung ihres Kampfauftrages der SED ausgelastet. Sie war mehr als denn je mit der „Aufdeckung und Beseitigung feindlicher Zersetzungstätigkeiten“ beschäftigt und stocherte mit begrenzter menschlicher Erkenntnisfähigkeit scheinbar sinnlos in unzähligen Wespennestern herum. Feinde über Feinde wurden gesehen. Die Wut gegen das SED-Spitzelunternehmen für die DDR-Bevölkerung war längst auf dem Siedepunkt angelangt. Die Menschen hatten immer weniger Furcht vor den Helden an der unsichtbaren Front. Die Geheimpolizei dagegen sah jetzt hinter jedem Gebüsch mehr Feinde denn je. – „Dank“ der Stasi blieb die handschriftliche Kopie des euphorischen Briefes erhalten.

Der 6. November 1989 war für mich ein politisch sehr wichtiger Tag. In einem kurzen Telefonat teilte ich meinem Freund Jochem Vonderlind mit, dass die Liberalen die richtige und immer wieder auf politische Veränderung drängende politische Kraft in Hildburghausen seien. Er sagte: „Geh’ ins Sekretariat in der Karl-Marx-Straße (ehemalige und heutige Obere Marktstraße).“ Dort traf ich den Kreisvorsitzenden Franz Lichte und den Mitarbeiter Horst Gärtner. Und auf dem Flur sagte ich zu beiden: „Wenn ihr wollt, gehöre ich ab heute zu euch.“ Sehr deutlich sagte er ihnen aber auch, wenn diese Partei falsche sozialistische Wege geht oder mir nicht mehr passt, bin ich mal Mitglied gewesen. Ab diesem Zeitpunkt war ich bis 2000 sehr aktiv in der LDPD, im dann umbenannten Bund Freier Demokraten (BFD) und schließlich in der FDP und arbeitete in den folgenden Jahren kommunalpolitisch für sie. Auch wenn er heute nicht mehr Mitglied ist, hält er sie für eine der wichtigsten Parteien in Deutschland. Über sie ist trotz aller Fehler, Irritationen und Schwächen in den letzten mehr als zwanzig Jahren unendlicher Blödsinn geredet worden und von den Medien nach „Eigentoren“ erniedrigt worden. Sie hat größere Aufmerksamkeit verdient, Deutschland braucht sie tatsächlich.

 

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Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen Salier
Eigentlich nicht erwähnenswert...

Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung



© Hans-Jürgen Salier

Berufswechsel 1987

Handschriftlicher Entwurf einer Meldung an die Bezirksverwaltung Suhl der Staatssicherheit

(Geschrieben am 28. Juli 2011) 

Meine Kündigung vom 5. Mai 1987 bei der Abteilung Volksbildung beim Rat des Kreises Hildburghausen wurde abgelehnt und brachte einige Funktionäre sprichwörtlich auf die Palme und in Rotation. 

Bei der Kreisdienststelle Hildburghausen des Ministeriums für Staatssicherheit gab es vom 22.09.1987 einen handschriftlichen Entwurf des Mitarbeiters der Kreisdienststelle, Bernd Höhn, für eine Nachricht an die BV Suhl Abt. XX, immerhin viereinhalb Monate nach meinem „unerhörten“ Ansinnen, die unantastbare Volksbildung zu verlassen:

 

KD Hildburghausen               Hildburghausen, den 22.9.87 

(Rahmenstempel mit dem Vermerk KK/E 1

                                                                                                  und Namenskürzel)

 

                        Information 

Durch unsere DE wurden Hinweise erarbeitet, daß der

ehemalige Lehrer

                        Salier, Hans-Jürgen

            geb. am 02.04. 1944 in Hildburghausen

                        wh. Hildburghausen, R.-Luxemburg-Str. 26

            eh. Arbeitsstelle Joseph-Meyer-OS Hildburghausen

                        in Abt. XII   KK-erfaßt für KD Hildburghausen

derzeit in keinem Arbeitsverhältnis steht.

Nachdem ihm eine Arbeitsstelle als Lektor beim

            VEB Transpress-Verlag

            Berlin 1086

            Französische Str. 13-14

angeboten worden war, hat er am 05.05.1987 zum 31.5.87

in der Volksbildung Kreis Hildburghausen gekündigt.

Die Kündigung wurde vom Kreisschulrat und Bezirksschulrat

abgelehnt.

Deshalb wurde die Kaderakte des Salier, H.-J. bisher nicht

freigegeben und es erfolgte keine Einstellung beim Verlag.

Beim Kreisschulrat Hildburghausen liegt der Schriftverkehr

zwischen Verlagsdirektor Dr. Harald Böttcher und dem

Kreisschulrat vor.

Salier, H. J. ist seit 1.9.87 ohne Arbeitsrechtsverhältnis.

Finanzielle Einnahmen bezieht er derzeit nur von Honorar-                     

((Blatt 2)) 

ansprüchen von zurückliegenden Veröffentlichungen.

Salier, H.-J. ist Mitglied der Kreisleitung des

Kulturbundes der DDR / Kreis Hildburghausen. 

                                   op. MA

                                   Höhn OS 

Anmerkungen

Abkürzungen und Hinweise (in der verwendeten Reihenfolge)

KD                        Kreisdienststelle

BV                         Bezirksverwaltung

DE                        Diensteinheit

Abt. XX                 Abteilung der Staatssicherheit: Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund

                              Chef in Berlin war Generalleutnant Paul Kienberg

Abt. XII                  Zentrale Auskunft/Speicher

KK – erfaßt ...       Kriminalpolizeiliche Kontaktperson erfasst für Kreisdienststelle Hildburghausen

K I                         Arbeitsgebiet I der Kriminalpolizei. Bezeichnung des Teils der Kriminalpolizei, die mit inoffiziellen Kräften arbeitete – Für die K I war Peter Haase (Deckname: Uwe Bonsack), ehemaliger Kreissekretär des Kulturbundes, auf mich angesetzt, der dann zeitweise auch Bürgermeister der Kreisstadt Hildburghausen war. In einem Schreiben vom 08.06.2006 der „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes ..., Außenstelle Suhl“ wird dargestellt: „Der LIM/LIKM Uwe Bonsack wurde in den Unterlagen als inoffizieller Mitarbeiter des Arbeitsgebiets I der Kriminalpolizei der Volkspolizei geführt. Dabei handelt es sich nicht um einen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Gemäß § 6 Absatz 5 Nr. 2 Stasi-Unterlagengesetz gelten Vorschriften über Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes für inoffizielle Mitarbeiter des Arbeitsgebiets I der Kriminalpolizei (Inoffizieller Mitarbeiter = IKM) entsprechend.

                              Aus den Unterlagen des Arbeitsgebiets I der Kriminalpolizei der Volkspolizei, die in Einzelfällen in den Bestand des MfS übergegangen sind, konnte folgender Name ermittelt werden:                             

                              Haase, Peter

                              geboren am 31.08.1941 in Glogau (VR Polen)

                              LIM/LIKM:             leitender Inoffizieller Kriminalpolizeilicher Mitarbeiter

                              ...“

                              (Ergo, P. H. war nicht nur kleiner Spitzel, sondern Leitender Inoffizieller Mitarbeiter, der weitere IM geführt hatte.)

op. MA                  operativer Mitarbeiter

OS                        Offiziersschüler 

Offiziersschüler; KD Hildburghausen; 1. OSL)
Zum Schriftverkehr

Nach Informationen hat dann wohl Dr. Harald Böttcher die Angelegenheit mit Dr. Klaus Höpcke, stellv. Kulturminister, dem Verantwortlichen für das DDR-Verlagswesen, einvernehmlich gelöst. Höpckes Gegenspielerin war die Bezirksschulrätin des Bezirkes Suhl, eine gewisse Genossin Ludwig. – Aus Niederlagen wurden schon so oft Siege formuliert. Aus meinem nicht akzeptierten Wunsch wurde zu guter Letzt eine „Delegierung“, und die Welt war für alle Beteiligten wieder in Ordnung. Man muss es nur entsprechend formulieren. 

Anmerkungen zur Juristenfabrik der Staatssicherheit

An der „Juristischen Hochschule“ (JHS) der Staatssicherheit in Potsdam-Eiche (auch Potsdam-Golm) schrieb Bernd Höhn 1988 seine juristische Diplomarbeit:

Analyse der bestehenden Partnerschaftsbeziehungen der evangelischen Kirche im Verantwortungsbereich der Kreisdienststelle Hildburghausen und politisch-operative Schlußfolgerungen zu deren operativen Kontrolle und Bearbeitung
50 Seiten, 1.4.1988, JHS MF VVS o001–284/88, JHS 21162

Quelle: Günter Förster, BStU

Die „Bildungseinrichtung“ unterstand der Hauptabteilung Kader und Schulung. Dort konnten auch akademische Grade, wie „Dr. jur.“ oder „Dr. sc. jur.“ erworben werden. Auch wenn es polemisch klingt: Man muss sich vorstellen: Das Ministerium für Staatssicherheit, das Dienstleistungsunternehmen, das ausführende Organ der befehlsgebenden SED, führte eine nahezu „private“ Hochschule und verteilte an ihre Geheimpolizisten, Spitzel, Agenten und Denunzianten nach Gutdünken Diplome und Dr.-Titel. – Die Diplom- und Promotions-Arbeiten entsprachen in keiner Weise – wie hinlänglich analysiert – den qualitativen Anforderungen der DDR-Hochschulen im Zivilbereich für Juristen. Heute schmückt sich eine stattliche Zahl an Absolventen (teils unter Umgehung einiger Forderungen des Einigungsvertrages) mit dort erlangten akademischen Graden.

In meinen BStU-Unterlagen taucht Höhn noch einige Male als Schnüffler auf, eine Darstellung würde an dieser Stelle zu weit führen.

Der Hildburghäuser „Diplom-Tschekist“ Höhn schrieb nach 1990 viele Artikel und fotografierte für eine Lokalzeitung über kirchliche Veranstaltungen, was mich Mitte der neunziger Jahre zu der sarkastischen Bemerkung hinreißen ließ: „Früher hast du die Leute fotografiert, die in die Kirche gegangen sind, heute verdienst du Geld in der Kirche ... .“

Knapp zwei Wahlperioden saß er mir – vermutlich durch die „original soziale“ Nachfolgepartei geläutert – im Stadtrat Hildburghausen gegenüber, bevor er im fortgeschrittenen Alter ein Studium an der Technischen Universität Ilmenau aufnahm. Er war im Stadtrat oder im Kreistag nicht der einzige Ehemalige. In meiner neunzehnjährigen Mitarbeit im Kreistag gab es zu jeder Zeit Ehemalige in der Nachfolgepartei der SED, die das Wort Demokratie in allen möglichen Varianten auf ihren Zungen trugen und noch tragen, aber etwas Anderes meinen. Selbst der einstige Kreisvorsitzende und heutige Regionalgeschäftsführer Rainer Juhrsch musste im 2. Kreistag sein Mandat niederlegen, da er seine Mitarbeit als IM beim MfS verheimlichte. Heute „kämpft“ er wieder unermüdlich für Demokratie und Soziales – ähnlich wie der einst gefürchtete Wegelagerer Robin Hood, dessen Lebenslegende auch in der Neuzeit reichlich positiv als Rächer der Armen und Entrechteten umgeformt bzw. verfälscht wurde. Man sollte immer genau hinschauen, besonders auf die politischen Flegeleien dieser heutigen angeblich moralischen Anwälte des in der Bundesrepublik „armen geschundenen Volkes“, dabei denke ich an den kleinen Advokaten aus Berlin. 

Ungenauigkeiten der Stasi beim Abschreiben

Der Verlagsname muss richtig heißen: transpress VEB Verlag für Verkehrswesen. Wie in anderen Kapiteln mehrmals vermerkt, fehlt es bei den Stasi-Recherchen oft an Genauigkeit. 

Versicherungsschutz

Da ich in diesem Zeitraum staatlicherseits nicht krankenversichert sein durfte – in dem angeblichen Sozialstaat DDR hat sich nämlich niemand um mich gekümmert und hätte mir ein Arbeitslosengeld zugesprochen –, wurde ich in den Sozialversicherungsausweis meiner Frau eingetragen, um wenigstens im Notfall ärztlich versorgt werden zu können. Das ist auch eine Wahrheit zum angeblichen Sozialstaat DDR, der bei den DDR-Helden noch im Jahr 2014 als Rechtsstaat gilt. 

Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen Salier
Eigentlich nicht erwähnenswert ...

 

Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung


 

Plötzlich wusste ich es –

IM „Franz“ und

die gelobte sozialistische Schulpolitik

(Geschrieben am 2. August und 1. September 2011)

 

Franz Henn war mein Schuldirektor gewesen, eine respektheischende Persönlichkeit: als Schüler von 1958 bis 1960 und von 1965 bis 1975 als Lehrer. Geboren wurde er 1910 im deutschen Kaiserreich als Kind bescheidener und rechtschaffener Leute im Oberen Waldgebiet des Kreises Hildburghausen, in Gießübel. Lehrerstudium mit gediegener Bildung, Wehrmachts-Offizier, Bewährung nach 1945, SED-Genosse, Lehrer in Themar, Tätigkeit am Pionierhaus „Grete Walter“ in Hildburghausen, seit 1958 Direktor an der Mittelschule II, der nachmaligen „Joseph-Meyer-Oberschule“ in der Karl-Marx-Straße 44 (Obere Marktstraße).

Nach meinen ersten drei Lehrerjahren in Hellingen kam ich an die Zentrale Oberschule in Hildburghausen, die ich selbst von 1950 bis 1960 besuchte. 1965 übernahm ich eine der drei im Vorjahr im Kreis gebildeten Sportklassen. Sie gab es an den Schulen in Hildburghausen und in Eisfeld. 28 Sporttalente gehörten zu dieser 6. Klasse. Immerhin, einer brachte es zu olympischen Ehren. Jürgen Straub aus Weitersroda wurde 1980 bei den Olympischen Sommerspielen in Moskau Silbermedaillengewinner über 1.500 Meter. Franz Henn war der Direktor der teils vierzügigen Schule. In den letzten sechziger Jahren trat er auch als langjähriges Kreistagsmitglied des Kulturbundes der DDR dafür ein, die Bildungseinrichtung im Gebäude des ehemaligen Bibliographischen Instituts von Joseph Meyer bzw. des Technikums Hildburghausen nach dem russisch-sowjetischen Schriftsteller und „Erfinder des sozialistischen Realismus“ Maxim Gorki zu benennen. Dafür gab es bereits „Kampfpläne“. Wofür oder wogegen auch immer, wir dachten uns oftmals noch ein „r“ in das Wort. Das war nicht aufregend, denn in der Kampagnen-DDR gab es für alles Kampfpläne. Selbst in der Wirtschaft beherrschten Gegenpläne das sozialistische Dahindümpeln. Das war qualifizierter Nonsens, aber kein Ergebnis des rationalen Denkens. – Die Mittelschule weckte mit dem „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR“ vom 2. Dezember 1959 durchaus Ansprüche. Sie erfüllte sie vielleicht in der nostalgischen Betrachtung der DDR, nicht mehr, auch wenn  sie heute wieder höchst gepriesen wird. Eine moderne, tolerante und weltoffene Schule war sie nie. Der Fleiß eines Großteils der Lehrer und Erzieher zeigte positive Ergebnisse, kaum aber die ideologieüberfrachtete Administration mit ihrem Unterdrückungssystem. Das Kernstück war die zehnklassige polytechnische Oberschule. – Sollte man eine solche Schule nicht nach Joseph Meyer benennen können? Den Treppenaufgang im heute eingelegten Südflügel des historischen Gebäudes zierte, wenn ich mich recht erinnere, ein Spruch eines anderen Weltverbesserers, des Gründers des Sowjetreiches: Wladimir Iljitsch Lenin. Die neuen Machthaber und Sozialismus-Eiferer ließen das ihm zugeschriebene Zitat anbringen: „Lernen, lernen und nochmals lernen!“ (Учиться, учиться и ещё раз учиться) Gerne witzelte ich nicht gerade staatstreu „... als er Ulbrichts Zeugnis gesehen hatte“. Diese Idee mit seinen nachfolgenden Kampfplänen fand ich kaum begreifbar. Hätten dort nicht auch Meyers Lebensmaximen hingehört: „Bildung macht frei“ oder „Wissen ist Macht!“? Durften die Deutschen unter sowjetischer Besatzung keine Traditionen und Vorbilder mehr haben? Wie lange müssen die Nachgeborenen unter den Schrecknissen der nationalsozialistischen Diktatur leiden? Eine solche Frage hatte Bertolt Brecht in seinem in der Schule und bei Jugendweihefeiern reichlich strapaziertem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ nicht gestellt.

Da eckte ich an. Überzeugungsarbeit war angesagt. Man wollte unbedingt, dass ich doch bitte alles besser bedenke und mein Vorlautsein unterlasse. So sagten sie es aber nicht, wohl aber mit der sozialistischen Standardformulierung, dass ich noch „ideologische Schwächen“ hätte. Von anderer Seite versuchte man mir klarzumachen, dass Joseph Meyer kein Vorbild, keine Lichtgestalt für sozialistische Schülerpersönlichkeiten sei, in einer Zeit, als man noch von einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“ ideologisch träumte. Meyer hätte zwar so manche Leistung vollbracht, er wäre ein Bourgeois und damit zugleich ein unbarmherziger kapitalistischer Unternehmer ohne Herz gewesen. Außerdem trage bereits eine andere Kultureinrichtung in Hildburghausen seinen Namen: die Stadt- und Kreisbibliothek „Joseph Meyer“. Das klang eher wie: „Du musst an deinem Klassenstandpunkt arbeiten!“

Joseph Meyer hätte bei dieser Indoktrination aufbegehrt und wäre sicherlich unter sozialistischen Verhältnissen gemaßregelt oder weggeschlossen worden. Diesen Gedanken konnte ich aber nicht aussprechen, so viel Demokratie gab es in der sowjetisch gesteuerten Deutschen (Un)Demokratischen Republik nicht.

Bereits vor 1958 misslang ein Versuch der Namensgebung unter dem Liberal-Demokraten und Schuldirektor Werner Bräutigam, den ich sehr verehrte und zu dem ich über all die Jahrzehnte noch Kontakte habe. Nach einer Denunziation wegen seiner DDR-systemkritischen Haltung musste er 1958 für mehr als drei Jahre in den Stasiknast und ins Zuchthaus. Als Schüler der 8. Klasse hatte ich im Geschichtsunterricht bei Helmut Amarell ein vermutlich gutes Referat zu Joseph Meyer gehalten. Nicht Lehrer-, Schüler- oder Elternvertretungen, die Kommune als Schulträger oder die Schulbehörde entschieden über die Namensgebung, sondern die allmächtige Partei der Arbeiterklasse, die immer rechthabende SED. Sie hatte – wie die Hildburghäuser unter vorgehaltener Hand sagten – im „Kreml“ in der Leninstraße (heute: Friedrich-Rückert-Straße) ihren Sitz, im Gebäudekomplex der heutigen Kreissparkasse. Bevor die Elite der SED nach der Zwangsvereinigung 1946 dort einzog, residierte dort bis zum Schicksalsjahr 1945 schon einmal eine „mächtige“ Partei: die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei.

Also wurde ich „beauftragt“, eine Stellungnahme der Schülerschaft zu schreiben, ohne mich mit meinen Mitschülern zu verständigen. Das mehrseitige Schreiben war für mich kein Problem. Meyers Lebensdaten und dessen verlegerischen und publizistischen Leistungen hatte ich längst verinnerlicht. Für mich war er eine bedeutsame Persönlichkeit des Geistes, der Wissenschaft und ein bürgerlicher Revolutionär von 1848. Vom Unterricht befreit, gab ich mir große Mühe. Mich ärgerte auch, dass die 1956 gegründete Mittelschule I in der Seminarstraße bereits einen Namensgeber hatte. Sie hieß Mittelschule „Joliot-Curie“. Und wenn ich mich recht erinnere, war ursprünglich auch noch der Vorname Frédéric Bestandteil des Schulnamens. Joliot-Curie war Chemie-Nobelpreisträger, auch in der Atomphysik eine Koryphäe und Präsident des kommunistisch gelenkten Weltfriedensrates. Der Franzose galt in jener Zeit als der Friedensmahner und das Welt-Wissenschaftsgewissen, wenigstens in der östlichen Hemisphäre. Hans Mitlacher, ein emotional geladener Lehrer, aus Lengfeld bei Themar stammend, selbst Mitglied des Weltfriedensrates und der Liberal-Demokratischen Partei angehörend, war Initiator der Namensverleihung. Die Schüler nahmen ihn wegen seines überzogenen und wunderlichen Auftretens als Lehrer nicht sonderlich ernst. Und weil sich die im Französischen ungeübten Schüler und Eltern mit dem Namen Frédéric Joliot-Curie schwer taten, nannten sie die Schule pragmatisch „Franzosenschule“. Sie war für uns ehemaligen „Zentralschüler“ Konkurrenz, vor allem, weil die 1956 gegründete Einrichtung auch sogleich erste Mittelschule Hildburghausens war. Die Schüler für diese Bildungseinrichtung wurden zumeist aus unserer Schule „abgezogen“. Schülerfreundschaften zerbrachen. Uns ärgerte aber auch, dass Direktor Günter Kieslat sehr bemüht war, leistungsstarke Schüler und Lehrer „mitzunehmen“. Wir wurden erst 1958/59 Mittelschule II. Für die nächsten drei Jahre besaßen wir Schüler eine komfortable „Ausnahmestellung“ als ältester Jahrgang. Zwischen Schülern und Lehrern entstand ein gesundes Vertrauensverhältnis, das gewiss nicht konfliktfrei, aber immer fair und anständig war. Wir respektierten uns.

Nach der Verhaftung des Schuldirektors Werner Bräutigam in den Augusttagen 1958 redete niemand mehr von einer „Joseph-Meyer-Schule“, Ruhe kehrte ein, bis Direktor Franz Henn die Namensgebung mit Maxim Gorki Mitte der sechziger Jahre ins Spiel gebracht hatte. Die „Zielstellung“ war relativ schnell passé. Vermutlich kam das Ansinnen auch manchem Genossen politisch nicht gelegen. Spekulationen erübrigen sich, die Wahrheit lässt sich wohl Jahrzehnte später schwerlich ergründen. 1980/81 absolvierte die kommende neue Direktorin Christore Rädel die Bezirksparteischule. Kommissarischer Direktor für diesen Zeitraum wurde Rüdiger Brückner. Er war wenige Jahre älter als ich, stammte aus Hildburghausen und leitete mit Geschick die bauliche Sanierung der Schule.

Gemeinsam saßen damals F. H. und ich viele Jahre in der Kreisleitung des Kulturbundes der DDR, und jeder brachte auf seinen Fachgebieten auch gute Gedanken für die kulturelle Weiterentwicklung und die Heimatpflege im Kreis Hildburghausen ein. Trotz gegenseitiger Kritik hatten wir ein ordentliches Verhältnis zueinander. Wir duzten uns, auch wenn uns eine Generation trennte. Mitte der siebziger Jahre, vor seinem Abschied aus dem Schuldienst in den Ruhestand, sagte er unvermittelt: „Hans-Jürgen, ich habe das Gefühl, du musst vorsichtig sein. Entweder du landest im Knast oder in Berlin.“ Überrascht war ich von seiner nicht erwarteten Ehrlichkeit. Jetzt konnte ich mir einiges erklären. Später las ich in meinen Unterlagen der ehemaligen Birthler-Behörde, dass ich Mitte der siebziger Jahre für Leitungsaufgaben vorgesehen gewesen wäre. Nein, so etwas hätte ich unter den bestehenden Verhältnissen nicht geschafft. In den achtziger Jahren durfte ich das Fach Geschichte in den Klassen 5 bis 7 nicht mehr unterrichten. Vielleicht behagte einigen Leuten mein Unterricht nicht, dafür wurde ich in den Achtzigern sehr oft bei der Altstoffannahme in der Knappengasse eingesetzt und die Arbeitsgemeinschaftsstunden für meine AG „Junge Philatelisten“ wurden als Lehrerstunden angerechnet. Für das Fach Geschichte wäre ich nicht „qualifiziert“, war die knappe Antwort auf eine Nachfrage. An der Schule wären genügend ausgebildete Lehrkräfte vorhanden.

Als ich 2006 von der Birthler-Behörde die Klarnamen der um mich sorgsam bemühten Inoffiziellen Mitarbeiter der Kreis- und Bezirksdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit und der Mitarbeiter der K 1 des Volkspolizeikreisamtes Hildburghausen bekam, war auch der Name F. H. dabei, der Deckname lautete wie sein Vorname „Franz“. Schockiert war ich wegen der Charakterlosigkeit. Diesen kleinkarierten Charakter begriff ich nie. Ehemalige Kollegen reagieren heute mit dem Satz: „Es war halt so!“ Richtig, Widerstandskämpfer waren wir gewiss nicht, wir begehrten aus Selbsterhaltungsgründen oder wegen Feigheit nicht auf. Aber diese Selbstaufgabe, das unselige Duckmäusertum der „tapferen“ Deutschen ist unsäglich. Haben die Generationen vor uns nicht auch schon so gehandelt? „Es war halt so“, sagen sie beinahe einhellig. Geistige Prostitution mit dem jeweiligen System oder Regime war in Deutschland an der Tagesordnung, dafür mussten die Menschen bitter büßen. Diktaturen stehen für charakterliche Verbiegungen. In mir verfestigte sich immer deutlicher der Gedanke, dass man zu allen Zeiten seine Mitmenschen zur Zivilcourage ermahnen muss. Schrecklich: „Es war halt so!“ – und noch dümmer und erbärmlicher klingt der heute im Osten tausendfach gejammerte Satz: „Es war nicht alles schlecht!“ Hinterfragt man bei aller Objektivität das angeblich Gute in der DDR, kommt nicht viel Gutes heraus. Was hat davon in der Geschichte wirklich historischen Bestand oder ist es die Verklärung, in denen die sozialismustreuen Nostalgiker noch heute schwelgen? Da komme ich beim Nachdenken über die DDR reichlich ins Grübeln. Mir fällt da, ausgenommen Familie, persönlicher Bereich und die vielen Ambitionen und Steckenpferde nicht viel ein, vielleicht mein Aufwachsen in der Schlossgasse in eben diesem Gebäude, das die Stadt- und Kreisbibliothek beherbergte, die den stolzen Namen Joseph Meyers trägt, mein Lese- und philatelistischer sowie postgeschichtlicher Sammelhunger, meine Begeisterung für den Schwimmsport, mein nicht immer systemtreues Geschichtsbild und meine politische sowie kulturelle Interessiertheit. Selbst die schöne, wenn auch teils heruntergewirtschaftete Landschaft des einen Teils des deutschen Vaterlandes, der heimischen Umgebung, war uns in diesem schrecklichen ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden wegen des Sperrgebiets teils verschlossen. Der Hildburghäuser Hausberg, der Stadtberg, war weitestgehend militärisches Sperrgebiet in den Händen der Sowjets. Den Bismarckturm könnte man nicht sehen oder Sophienthal und auch nicht das Heldburger Unterland … Ein tolles Land, unser „sozialistisches Vaterland, diese zum Glück friedlich untergegangene DDR.

Franz und ich, wir hatten uns durchaus geschätzt. Hatte der Mann, der zweimal zweifelhaften Heilsbringern hinterherlief, mich vielleicht beschützt? Nein! Er hat sich selbst erhalten. Zu einsamen Gedanken und Fragen fand ich keine Lösung. Der einstige Vorgesetzte und Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit hätte bei seinen Begegnungen mit mir nach 1990 Gelegenheit gehabt, ein Wort zu sagen. Keine Entschuldigung, kein Wort. Er hätte mein Vater sein können, aber der Vätergeneration kann man wohl auch nicht glauben ...

Nach Aktenlage hätte es schlimmer kommen können. – 1987 landete ich tatsächlich in Berlin – bei transpress. Mein „Egoismus“ beherrschte mich, eine größere persönliche Freiheit zu erlangen. Die Frage nach einem beruflichen Fortkommen stellte sich in einem solchen Alter überhaupt nicht mehr. Chancen gab es nicht, die staatstragenden Kategorien wurden nicht „erfüllt“. Zuerst erfolgte die Trennung von der von mir nicht geliebten Volksbildung. Die lebenslange Aufgabe bei diesen ideologischen Zwängen wollte ich mir nicht länger antun. – Dazwischen lag nach meiner Kündigung nur eine kurze Zeit der Arbeitslosigkeit von knapp zwei Monaten, die es wohl in der DDR überhaupt nicht gab, wie mir kritikresistende DDR-Liebhaber unterstellen. Wie bei einem „wahren DDR-Wunder“ mündete die reale Arbeitslosigkeit im real-existierenden Sozialismus, im Staats-Jargon hieß das „ohne Arbeitsrechtsverhältnis“, plötzlich in eine „Delegierung“. Das gehörte zu den höchsten Privilegien in der sozialistischen Arbeitswelt. Das klang so wie: Du bist auserkoren. „Man“ war plötzlich stolz auf mich und meine ehrenvolle Berufung nach Berlin zu einem der renommiertesten DDR-Verlage. Verlogenheit und Dummheit, die mich schützte.

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Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen Salier
Eigentlich nicht erwähnenswert ...

 

Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung

Poststempelfarbe aus dem Westen

Sauber gestempelte Sammlerpost aus Hildburghausen 

(Geschrieben am 15. August 2011) 

Die erhalten gebliebene Sammler- und transpress-Korrespondenz füllt sicherlich einen Band mit purer Philateliegeschichte und manchem Geschichtchen – wie diesem: 

Da war Herbert Rittmann aus Karlsruhe, ein international anerkannter Fachmann und Verfasser von Standardliteratur zu Numismatik und Geldgeschichte. Mit ihm sprach ich 1989 wegen der Übernahme des Buchtitels oder eines neu zu schaffenden zum Thema „Auf Heller und Pfennig – Die faszinierende Geschichte des Geldes und der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland“ für die DDR. Erschienen war er im renommierten Battenberg-Verlag in München.

Rittmann schrieb zum Schluss seines Briefes vom 22. August 1989 an meine Privatadresse: „Der Tagesstempel von Hildburghausen ist tadellos, ganz anders als sonst der Durchschnitt in der DDR – fast so schön wie üblicherweise in der Schweiz.“ Das Rätsel hätte ich sehr schnell lösen können, allerdings wären Beteiligte gefährdet gewesen. So soll diese beinahe banale, aber für Sammler so interessante Angelegenheit nach Jahrzehnten öffentlich gemacht werden.

Nahezu alle Angestellten des damaligen Hauptpostamtes in der Leninstraße (heute: Friedrich-Rückert-Straße) in Hildburghausen waren sammlerfreundlich, auch wenn Sammler mit ihren ständigen Wünschen recht nervig sein können. In Hildburghausen gab es mehr als einhundert organisierte Sammler, teilweise dazu zwei bis drei Jugendgruppen am Haus der Jungen Pioniere „Grete Walter“) (heute: Freizeitzentrum) in der Waldstraße. Wegen der hervorragenden Öffentlichkeitsarbeit war so mancher Bürger auch vom Sammelfieber oder vom Kampf um die Sperrwerte gepackt, vielleicht auch nur um Kaffee, Schokolade oder Strumpfhosen aus dem Westen an Stelle von Briefmarken dagegen „einzutauschen“. – Eine der beiden Tauschkontrollstellen des Bezirkes Suhl des DDR-Philatelistenverbandes hatte seit 1965 in Hildburghausen ihren ehrenamtlichen Sitz, und die aktiven Sammler waren immer bemüht, sie hier zu behalten. Diese Tauschkontrollstelle wurde von 1965 bis 1972 von Walter Rieger geleitet, von 1973 bis 30.06.1976 von Alois Thomann und von 01.07. 1976 bis Juni 1990 von Fritz Bartsch. Im Jahr wurden durchschnittlich 3.000 bis 3.500 Sendungen für den genehmigten Auslandstausch bearbeitet, also ausgiebig kontrolliert. An diesem Auslandstausch nahmen nur aktive und hierfür bestätigte Mitglieder des Verbandes teil. Von den Tauschsendungen ging knapp ein Zehntel in die „sozialistischen Bruderländer“, die Devisenländer in der noch ferneren Welt waren also weitaus begehrlicher. Zudem pflegten viele Sammler den unkomplizierteren und genehmigungsfreien Frankaturtausch mit ihren Partnern außerhalb der engen DDR-Grenzen. Die Postkontrolle -M- des Ministeriums für Staatssicherheit war schon hierdurch ziemlich ausgelastet.

Die Damen und Herren Geheimpolizisten kamen teilweise ins Grübeln, wenn bei einem versiegelten Wertbrief mit einer 5-Mark-Marke im Briefinneren nur ein gefalteter unbeschriebener Papierbogen lag. Da wurde ich auch schon einmal von den Kennern und Könnern aus der MfS-Richtung des Betrugs verdächtigt. Im Leben bestätigt sich das immer wieder: Wenn man keine Ahnung hat, sollte sich ein Geheimdienstler schlau machen, dann hätte man von einem ausgewiesenen Philatelisten erfahren können, dass für versierte Sammler u. a. gebührengerechte Einzelfrankaturen von besonderem Wert sind. Die Sammler erwarteten in Jahren Wertsteigerungen, also wurden solche „Belege“ hergestellt. Sie waren philatelistisch beeinflusst.

Landauf, landab gab es in der DDR geharnischte Kritiken wegen der sammlerunfreundlichen Stempelfarben-Qualität der Deutschen Post der DDR, selbst in der Fachzeitschrift „sammler express“ wurde viele Jahre über diesen Zustand ohne Änderung ergebnislos lamentiert. Alle möglichen Farben stachen in die Augen, nur kein sauberes Schwarz, und trocken wurde diese Farbe an den Schaltern mitunter erst nach Stunden. Manche Sammler brachten an die Postschalter Löschpapier mit, um die gestempelten Marken vorsichtig abzutupfen, die qualitativ minderwertige Stempelfarbe brauchte ihre Zeit zum Trocknen, Geduld war immer in der DDR gefragt. – Nach den Sternen greifen und der Welt darstellen, dass man der zehntwichtigste Industriestaat der Welt sei, war einfacher, als pobelige Stempelfarbe im angeblichen Chemieland DDR herzustellen, die vor weit über 100 Jahren bei den Preußen, Württembergern oder bei den Fürsten von Thurn und Taxis qualitativ schon besser war. Bei den Postkunden gab es oft große Enttäuschungen, auch wenn sich die Mitarbeiter der Deutschen Post redlich bemühten und bei den Neuerscheinungen zuerst den Stempel säuberten, denn die vielen Buchstaben im Wort Hildburghausen waren oft schmierig zugekleistert. Das lag aber auch an der unmöglichen Qualität der oft zerfransten Stempelkissen. So manchen Brief gaben wir nicht am Schalter ab, sondern in einem Amtszimmer, erreichbar über den Seiteneingang des Postamts. Dort saß Marianne Heubach, sie sorgte für die Arbeitsgemeinschaftsmitglieder, dass der Stempel sammlergerecht abgeschlagen wurde. Sie war übrigens selbst aktives Mitglied der Kulturbund-Arbeitsgemeinschaft in Hildburghausen und hatte Verständnis für die Sammler-Sehnsüchte. Andere Mitarbeiter in ihrem Amtszimmer taten es ihr nach.

Die schlechten Stempelabschläge fielen auch bei meinem Tauschpartner Peter Kaiser in Düsseldorf auf und waren für den Rechtsanwalt und exzellenten Sammler ein ständiges Ärgernis. Nachdem ich ihm geschrieben hatte, dass Hildburghausen für das Jubiläum „300 Jahre Post“ 1976 Sonderdrucke und auch eine Ausstellung mit einem von mir gestalteten Sonderstempel mit Sonderpostamt auf den Weg bringt, dass es Vorträge und eine von mir verfasste Schrift zur Postgeschichte von Hildburghausen gibt, schrieb er umgehend zurück: „... aber bitte nicht mit der DDR-Stempelfarbe stempeln, da entsteht nur wenig Sammelwürdiges. Eine Päckchensendung mit Original-Stempelfarbe der Deutschen Bundespost ist an Sie unterwegs, die spendiere ich für das Jubiläum.“ Das war eine Nachricht! Der allgegenwärtig Zoll, meist waren es Stasi-Bedienstete, kontrollierte die Sendung. Der dreieckige Zollstempel bewies es. Das verschlossene Fläschchen wurde trotz anderslautender Dienstvorschriften nicht geöffnet und mir ordnungsgemäß zugestellt. Da hatte vermutlich der betreffende Kontrolleur volkswirtschaftlich gedacht. Mit der Stempelfarbe mussten Marianne Heubach und ihre Kollegen nicht lange experimentieren. Und Horst Rohm, eigentlich verantwortlich für den ZKD-Schalter (Zentraler Kurierdienst), stempelte so manches Mal große Mengen, aber auch Frau Bauer und mein alter Freund Hubertus Fischer, der für die Poststellen, also die „Landpost“ zuständig war.

Die Sammler wussten nichts von dieser „Transaktion“, wohl freuten sie sich über die sauberen Stempelabschläge. Sie merkten nicht, dass hier jemand nachgeholfen hatte. Jahre später besorgte ich noch das eine oder andere Fläschchen und bezahlte es in D-Mark aus der eigenen Tasche. – Selbst den Spionen von „Horch und Guck“ sind die Stempel mit den Unterscheidungsbuchstaben „d“ und „l“ aufgefallen, aber nicht wegen ihrer „pfiffigen“ extravaganten Behandlung, sondern weil nahezu meine gesamte Auslandstausch- und Frankaturpost diesen Weg ging. Und meine Post in der philatelie- und postgeschichtsaktiven Zeit ging in drei Jahrzehnten in die Zehntausende und wurde teils von der Stasi tabellarisch erfasst, zumal ich von den Geheimpolizisten – wie in anderen Kapiteln ausführlich dargestellt – als Person mit einer gesellschaftlichen Stellung einkategorisiert war, die im Blickpunkt des Feindes stände und damit eine Gefährdung der inneren Sicherheit und Ordnung der DDR darstellte. – Ach, was war ich doch für diese kommunistischen Kleingeister wichtig.

In den Unterlagen der Birthler-Behörde mit seitenlangen Aufstellungen der ankommenden und abgehenden Post aus dem bzw. in das „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ findet sich auch die Kopie eines Briefes mit Kuvert vom 15. Juli 1982 an meinen Freund Walter Fischer in Rodach b. Coburg, damals Vorsitzender des „Philatelisten-Clubs Rodach im Verein der Briefmarken- und Münzfreunde e.V.“, mit handschriftlicher Stasi-Notiz „Hibu/15.7.82 – 17/d“. Man hatte dieses Schreiben zur Archivierung der (Schreibmaschinen)Schriftprobe für die Spurensicherung herausgezogen. Die „Entdeckung“ war aber kein Wunder, saß doch auch im Hauptpostamt die Stasi-Postkontrolle in der Dienstuniform der Deutschen Post(Abteilung M Postkontrolle) und selektierte fleißig. In Hildburghausen war die moralisch schmutzige Postkontrolle in weiblicher Hand. Diese Leute kannten sich im Postdienst aus, und selbst Post-Mitarbeiter sahen die Geheimpolizistinnen oder -polizisten als ihre Kollegen an und wussten großenteils nicht, dass sie auf der Stasi-Lohnliste standen. – Das wusste ich, viele meiner Sammlerfreunde glauben es heute noch nicht. Über die Postkontrolle zu schreiben, ist ein weiteres widerliches Kapitel der Bevormundung der Menschen in der DDR.
 

Anmerkungen

Die Abteilung –M- des Ministeriums für Staatssicherheit kontrollierte sehr unterschiedlich oder war nicht immer Herr der Situation. In manchen Zeiträumen, in denen mich Hunderte Briefe erreichten, gibt es dann von der Kreisdienststelle des MfS überhaupt keine Aufstellungen, dann wieder seitenlange, teils auch fehlerhafte. Die MfS-Arbeit war auch für manche der Observierten gefährlich schlampig. In meinen Stasi-Unterlagen sind es ausschließlich Aufstellungen zu Sendungen aus oder nach der Bundesrepublik bzw. West-Berlin zu, in wenigen Fällen USA (Briefkopien, Briefexzerpte, Vermerke von Sendungen, die mir nicht ausgeliefert [sprich: beschlagnahmt wurden, ohne mich zu informieren]). In zivilisierten Staaten nennt man solch eine Handlungsweise Diebstahl oder Raub, die DDR war nichts anderes als eine staatliche Räuberfirma, die SED organisierte diese Bandenkriminalität, denn sie war der Dienstherr der Staatssicherheit. Meine sehr umfangreiche Korrespondenz mit Österreich, der Schweiz, Frankreich, Schweden, Sowjetunion, Polen, ČSSR, Ungarn und anderen Ländern ist übrigens nirgendwo vermerkt. Vermutlich hatte meine Observierung und die meiner westdeutschen Freunde nur ein Ziel, Agenten zu gewinnen bzw. die Leute abzuschöpfen. Das Können so mancher Geheimpolizisten kann allerdings nur mit ungenügend bewertet werden. Hierüber wird in einem gesonderten Kapitel noch sehr ausführlich von mir berichtet, denn inzwischen ist umfangreiches Aktenmaterial aufgetaucht, u. a. (aus unerfindlichen Gründen) in der Behörde in Frankfurt/Oder.

Nur wenige Beispiele möchte ich kurz erwähnen, die teils keinen hohen Bildungsstand der Geheimpolizisten in der Bildungsoase DDR bezeugen, wie die Ostalgiker heute noch beharrlich der staunenden Umwelt verbreiten:

Auch Städte und Dörfer der DDR wie Vacha, einige Adressen in Ost-Berlin u. a. wurden in die Bundesrepublik bzw. nach West-Berlin eingeordnet, Orte aus den USA wurden nach Großbritannien „eingemeindet“ und, und, und. Kalender wurden beschlagnahmt, ohne mich zu informieren, in denen der 17. Juni 1953 vermerkt gewesen ist. Der Tag des mit sowjetischen Panzern niedergeschlagenen DDR-Arbeiteraufstands, den man fortan bis 1990 als „Tag der deutschen Einheit“ als Nationalfeiertag in der Bundesrepublik Deutschland beging, wurde wie „Vaterlandsverrat“ angesehen. Die SED hatte verständlicherweise vor ihren eigenen Untaten Angst. 

1965 übernahm der nachmalige Generalmajor Rudi Strobel die Abteilung M (Postkontrolle). Die Postsendungen im nationalen (DDR) und internationalen Bereich wurden kontrolliert und ausgewertet. Die Verbreitung von Materialien „staatsfeindlichen“ Inhalts sollte verhindert werden. 1974 erließ er die Richtlinie über die Bearbeitung von Briefsendungen mit Zahlungsmitteln, Postwertzeichen und anderen Devisen im grenzüberschreitenden Postverkehr“. Geldbeträge über DM 20,00 wurden entnommen, das war festgeschrieben. An der Hochschule für Staatssicherheit in Potsdam-Eiche promovierte er in einer der üblichen unwissenschaftlichen Kollektivdissertationen zum Thema: Grundfragen der operativ-technischen Arbeit der Linie -M- zur Verhinderung des Verbreitens von Materialien, die der politisch-ideologischen Diversion des Gegners dienen, durch Mißbrauch des internationalen und DDR-internen Postverkehrs unter den Bedingungen der neuen politisch-operativen Lage“. Erst in auswegloser Lage des SED-Regimes wurde die Postkontrolle am 9. November 1989 eingestellt. Als Begründung wurde scheinheilig verbreitet, dass angeblich eine gesetzliche Regelung für diese „Postkontrolle“ fehle. Zudem wurde die Anweisung gegeben, dass die Räume der Post „unverzüglich zu räumen“ seien, „daß nichts auf Charakter und Umfang der Abteilungen M hinweist ...“ Die Täter beginnen, in der Frühphase des Herannahens eines Rechtsstaats sich hinter demokratischen Spielregeln zu verstecken und sie für sich zu nutzen.

 

Das Urteil des Landgerichts Magdeburg, dass sich Strobel wegen Unterschlagung persönlich bereichert habe, wurde vom Landgericht Berlin wieder aufgehoben. In Klaus Marxen und Gerhard Werle „Strafjustiz und DDR-Unrecht. Eine Dokumentation, Band 6: MfS-Straftaten. – Berlin, 2006, S. 87 ff. wird der Tatbestand des Diebstahls des DDR-Systems umfassend dargestellt. Die Richter urteilen – und das muss man sich mehrmals durchlesen, um es zu begreifen –, dass das Zuführen von Wertgegenständen aus Postsendungen in den Staatshaushalt der DDR den Strafbestand der Unterschlagung nicht erfülle ...

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Auszüge aus dem Manuskript von Hans-Jürgen Salier

Eigentlich nicht erwähnenswert ... 

Der gewöhnliche DDR-Sozialismus im Leben des HJS – Begegnungen mit Staatssicherheit, Nationaler Volksarmee und die sozialistische Endzeitstimmung


 
Es ist einfacher, Menschen zu täuschen, anstatt sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht worden sind.

Mark Twain, 1835-1910, amerikanischer Schriftsteller
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