Hildburghausen Albrecht
Hildburghausen
von Gertrud Albrecht
Am 7. April begann für uns die Besatzungszeit. Zuerst ließ man über Lautsprecherwagen wissen, daß wir je zwei Stunden vor- und nachmittags auf die Straße gehen dürften; alles Weitere werde durch Anschlag bekannt gegeben. Da lasen wir dann auf großen Plakaten, daß Photoapparate und Ferngläser abgeliefert werden müßten, alles Reisen für Deutsche ab sofort verboten sei, die Post und einige andere Ämter nicht ‚arbeiten' dürften. Keine Zeitungen ...
Da der elektrische Strom ausfiel und auch die Telephone für ca. sechs Wochen nicht funktionierten, gab es echte Engpässe, vor allem bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. In der Molkerei z. B. verteilte man Sahne, die sonst zu Butter verarbeitet worden wäre. Die Läden hatten kaum noch Vorräte, und auf die Lebensmittelkarten gab es dann nichts mehr.
Die Kampftruppen, die in zwei Schulen kaserniert waren und auch in großen Zelten am Werra-Ufer kampierten, rückten nach vier Tagen mit ihrem Kommandeur Wilson ab. Ihnen folgten Amerikaner, die offenbar auf zivile Verwaltungsarbeit vorbereitet waren. So gab es einen Offizier für Schulungsarbeit, einen für Wirtschaftsangelegenheiten, einen für die Versorgung der Bevölkerung usw. Gemeinsam hatten sie den Auftrag, uns demokratisch zu erneuern.
Allmählich durften die Ämter wieder ihre Tätigkeit aufnehmen. Bürgermeister Dr. Zschaeck, der keine NS-Vergangenheit hatte, blieb auf seinem Posten, als neuer Landrat wurde Keding bestellt. Die gesamte amerikanische Besatzungszeit über hatten diese Herren wohl alle Verantwortung für ihre Arbeitsbereiche zu tragen, waren indessen nicht unterschriftsberechtigt. Sämtliche in Frage kommenden Genehmigungen oder sonstige Bescheide durften nur von der Kommandantur, die im ehemaligen Finanzamt residierte, unterschrieben werden.
In diese Zeit fällt der Beginn meiner Tätigkeit im Vorzimmer des Bürgermeisters. Fast alle Angestellten des Rathauses durften an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, nur einige hatten an sogenannten „Sühnearbeiten“ teilzunehmen, soweit sie nicht zu sehr NS-belastet waren. Später löste man alle Parteigenossen ab, und es wurden andere, meist jüngere Leute an ihre Stelle gesetzt.
Inzwischen war die Sperrzeit erweitert worden: von morgens 6.00 Uhr bis abends 18.00 Uhr durften wir auf die Straße; nachts war weiterhin Sperrstunde.
Die Banken öffneten wieder ihre Schalter. Von Neuguthaben (Einzahlungen ab 8. Mai 1945) konnte Geld abgehoben werden. Später wurden auch Auszahlungen von Alt- und Uraltguthaben geregelt (jeweils 300,00 Mark). Davon ausgeschlossen blieben alle Flüchtlinge, die aus den abgetrennten Ostgebieten kamen. (Ich gehörte auch dazu; wir haben nie einen Pfennig von unseren Konten abheben dürfen.) Selbst die Bankschließfächer durften wieder benutzt werden. Erst nach dem Einmarsch der Russen fielen sie unter die Beschlagnahmung.
Die Versorgung mit Lebensmitteln war katastrophal geworden, besonders für die ausgebombten. Evakuierten und Flüchtlinge, die ja keine Vorräte hatten. Ebensowenig verfügten sie über Brennmaterial. Der Schwarzmarkt kam auf.
In diese Zeit datierten die ersten Anfänge der „Volksküche“, wo man für wenig Geld ein einfaches Essen erhalten konnte. Später, als die Marken wieder eingeführt wurden, mußten auch einige Lebensmittelkarten dort abgegeben werden. Flüchtlinge und insbesondere alte Menschen nahmen diese Hilfe in Anspruch.
Am 19. und 20. Mai 1945, Pfingstsamstag/-sonntag, wurden in einer Großaktion ,,Registries''-Ausweise für alle Einwohner ausgestellt. Nachdem sich nun jedermann ausweisen konnte, wurden bedingt Reiseerlaubnisscheine ausgegeben. Diese waren im Bürgermeisteramt zu beantragen, und ich mußte jeden Tag zum Kommandeur, um die Anträge vorzulegen; am nächsten Tag konnte ich sie wieder abholen. Zwar gab es bereits vor diesem Zeitpunkt Reisegenehmigungen, jedoch nur für Kaufleute, die Lebensmittel und andere Versorgungsgüter für die Bevölkerung besorgen mußten.
Im Zuge der gelockerten Reisebestimmungen kamen viele Menschen durch die Stadt, die auf dem Heimweg waren: ehemalige Soldaten, Verwundete, Evakuierte, Kinder – die im Rahmen der "Kinderlandverschickung" aus bombengefährdeten Gebieten herausgebracht worden waren – und vereinzelt auch KZ-Häftlinge. Alle, die im Bürgermeisteramt vorsprachen, erhielten für zwei bis drei Tage Lebensmittelkarten und möglichst auch ein Quartier für eine oder zwei Nächte zugewiesen. Wir haben stets versucht, Kindern, die allein unterwegs waren - das jüngste darunter zählte gerade sieben Jahre -, Erwachsenen an die Hand zu geben. Sie kamen oft aus Böhmen zu Fuß und wollten bis Hamburg, nach Hause. Die Hilfsbereitschaft der Leute war groß, denn es gab kaum eine Familie, die nicht einen Angehörigen "unterwegs" wußte. Allerdings konnten nicht alle Flüchtlinge privat unterkommen, da es zu viele waren. Sie wurden im Schützenhaus einquartiert, wo sie lagermäßig leben mußten.
In der Korrespondenz gab Bürgermeister Zschaeck des öfteren folgende Einwohnerzahlen an: Zuerst habe Hildburghausen rund 7000 Einwohner gehabt; dann sei die Zahl durch Evakuierte und Ausgebombte, durch Dienstverpflichtete in den größeren Betrieben, die z. T. nach Hildburghausen ausgelagert worden waren, und auch durch Fremdarbeiter auf 12000 angestiegen; aufgrund der Flüchtlinge beliefe sich schließlich die Einwohnerzahl auf 15000. Daran waren für den verhältnismäßig kleinen Ort fast nicht zu bewältigende Probleme geknüpft - in manch anderer Stadt Thüringens wird es kaum anders ausgesehen haben. Wenn unter diesen Bedingungen dann ein neuer Bürgermeister eingesetzt wurde, so stand er vor Problemen, die er nicht bewältigen konnte.
Am Rande der Stadt hatten die Amerikaner ein Auffanglager für Soldaten eingerichtet, die dort festgehalten wurden, wenn sie keine ordnungsgemäßen Entlassungspapiere vorweisen konnten. Nach einer Überprüfung wurden sie Tage später mit einem Entlassungsschein weiter in Marsch gesetzt. Wer allerdings verdächtig war, der SS angehört zu haben, wurde in andere Gefangenenlager verbracht, z. B. nach Bad Kreuznach.
In Hildburghausen hielt sich am Kriegsende ein Teil des "Reichsballetts" auf, also Tänzer und Tänzerinnen, die größtenteils Balten waren. Meist hatten sie ihre Familien dabei. Jetzt gehörten sie zu den sogenannten DP's und genossen allerlei Vorrechte. Eine Kommission der UNRRA, der damaligen Flüchtlingshilfeorganisation, kam vorbei, um jedem von ihnen die Möglichkeit anzubieten, in ein anderes westliches Land auszuwandern, damit sie nicht eventuell den Russen in die Hände fielen, denn es zeichnete sich schon ab, daß Thüringen an die Sowjets übergeben werden sollte. Die Abreise eilte, und da die erforderlichen Papiere recht spät fertig geworden waren, hatte ich – trotz Sperrstunde – fast alle persönlich aufzusuchen, um ihnen mitzuteilen, daß sie noch in der Nacht packen müßten, um im Morgengrauen abtransportiert zu werden. Später hörten wir, daß sie nach den USA, Kanada, Australien usw. ausgewandert seien.
Alle Anordnungen, Befehle und Verbote wurden von den Amerikanern zentral an die Deutschen Behörden gegeben. Der Briefkopf lautete dem Sinne nach folgendermaßen: „Headquarter III. Army United States of America - General Patton“. Text: „Off limits!“ Dann folgte die jeweilige Anordnung. Da "off limits" ja wörtlich "Eintritt verboten" bedeutet, signalisierte uns ein solcher Erlaß stets den Umgang mit dem amerikanischen Militär bzw. Verbote oder Anordnungen im Umgang mit der Besatzung. Daneben gab es eine Vielzahl von Erlassen, die alle übrigen Bereiche des täglichen Lebens betrafen und durch das Bürgermeisteramt veröffentlicht werden mußten: schriftlich mittels Anschlag sowie mittels "Ausklingeln" durch den Gemeindeboten.
So wurden nach und nach einzelne Berufsgruppen aufgefordert, sich zu melden, bzw. das Bürgermeisteramt beauftragt, entsprechende Namenslisten der Kommandantur einzureichen. Laut Kontrollratsbeschluß waren alle Juristen, Techniker, Offiziere - die bereits zu Hause waren! -, Lehrer und Wissenschaftler diverser Sparten zu erfassen. Der Personenkreis ward verhört, und so mancher kam danach nicht mehr heim, mußte vielmehr in ein Lager. Schulen und Gerichte durften während der gesamten amerikanischen Besatzungszeit ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen. Es gab auch keine deutschen Zeitungen. Kleine Handwerksbetriebe und ähnliches wurden aufgrund der Sequesterbestimmungen bald geschlossen, um nach wenigen Tagen wieder den Eigentümern zurückgegeben zu werden (die Behandlung der Großbetriebe ist mir nicht bekannt). Erst nach Einmarsch der Sowjets kam es zu einer endgültigen Enteignung.
Die amerikanischen Soldaten, besonders die Offiziere, mit denen wir es zu tun hatten, legten ein recht arrogantes Benehmen an den Tag. Für sie waren wir alle „Nazis“ und damit nur verachtenswert. Erst wenn sie einzelne Deutsche besser kennenlernten, machten sie Unterschiede. Das Bürgermeisteramt war stets Anlaufstelle für alle ihre Wünsche, etwa ihnen einen Handwerker heranzuholen oder ihnen Kleinigkeiten zu beschaffen. Schlimmer war es, wenn Häuser beschlagnahmt werden sollten oder wenn man ein Klavier, Silberbestecke und andere kostbare Dinge für ein besonders festliches Essen "besorgen" mußte. Der Bürgermeister war dann unterwegs und wußte oft nicht, wie und wo er's hernehmen sollte ... Andererseits gestanden die Besatzer den Eigentümern beschlagnahmter Häuser zu, sich etwas von ihren Vorräten aus dem Keller zu holen. (Bei den Russen wurde eine solche Erlaubnis nie wieder gegeben.) Unsere Arbeit im Bürgermeisteramt war jedenfalls so vielfältig, wie sie es nicht zuvor jemals gewesen war.
Daß die Russen einmarschieren würden, erfahren wir ca. 24 Stunden vorher: am Montag, dem 2. Juni 1945, zogen sie gegen Mittag auf. Sie kamen aber nicht etwa wie Sieger, sondern ziemlich zerlumpt, unordentlich, teils auf kleinen Panjewagen - quer darauf oft ein Sofa, auf dem der Kutscher saß -, teils zu Fuß. Nachts kam es dann zu den ersten reihenweisen Vergewaltigungen ...
Die Amerikaner waren zum Teil erst am selben Montag abgerückt. Etliche Bürger der Stadt gingen gleich mit ihnen: sie wollten die Zeit der russischen Besatzung nicht mitmachen. Auch viele Flüchtlinge zogen weiter, da sie ja noch keine neue Heimat gefunden hatten, oft auch erst jetzt sich getrauten, zu ihren Angehörigen weiterzureisen.
Kultur und Geschichte THÜRINGENS
Landeskundliches Jahrbuch für Deutschlands Mitte,
Band 8/9, 8./9. Jahrgang, 1988/89, Heft l
Im Auftrag des Stiftungsrates der Stiftung Thüringen herausgegeben von D. Grille und A.-W. Kaiser
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